Marcel Beyers Gedicht „Schilf“

MARCEL BEYER

Schilf

Schilf steht auch über Land, steht
in der Schwebe, still. Schilf steht,
ich höre nichts, im Licht, du siehst
noch Schachtelhalm und Flechtwerk
linker Hand, und Tracht. Die Fragen
klingen nach im Schilf, die Wolken
oben, das Gesicht, das Atmen wird
noch in die Rede eingewoben. Doch
wie es um das Schilf steht, wie um
das Gewebe, ungewiß. Der Staub,
der Qualm, das Schilf neigt sich,
du sprichst, reicht weit bis in den
brennenden April, ich sehe nichts.

1997

aus: Marcel Beyer: Erdkunde. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2002

 

Konnotation

In seinem programmatischen Gedicht „Im Hotel Orient“ hat der 1965 geborene Marcel Beyer auf die einzige Empirie verwiesen, der ein Lyriker bei seiner Erkundung der Welt vertrauen kann: auf die „Augen- / Ohrenkunde“. Tatsächlich verlegt sich Beyers lyrisches Subjekt während seiner Reisen durch vorwiegend osteuropäische Geschichtslandschaften auf die ruhige, genaue Registratur der Dinge. So entstehen Gedichte, die nicht von der Fremdheit der Phänomene erlösen, sondern mitten in ihr Geheimnis hinein führen.
Auch in dem 1997 entstandenen Gedicht „Schilf“ geht es um Materialitäten verschiedenster Art: um den Naturstoff Schilf, aber auch um andere Gewebe, die ineinander geflochten werden: das Atmen, die Schrift, die Rede. Der Text bleibt ebenso in der Schwebe wie jene leicht schwankenden Schilfhalme an einem See. Das „Flechtwerk“ aus dichterischer Stimme, Schilfrohr und Windbewegung scheint die Wahrnehmung des Ich nachhaltig zu irritieren – und doch vergegenwärtigt das Gedicht die einzelnen Realien in großer sinnlicher Präsenz.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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