Marcel Beyer: Erdkunde

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Marcel Beyer: Erdkunde

Beyer-Erdkunde

RAPS

Auf einer leeren Landstraße sitzt du am Mittag
aaaaahinterm
Steuer, zwei polnische Sender wechseln sich ab, in
dir spricht nichts, du meinst schon bald, du bist ganz
ohne Wörter aufgewachsen, und dann das: Raps,

hart gezeichnet, klare Linie, gestreute, dichte
aaaaaRapsarbeit,
das Feld läuft an, das Bild läuft voll mit Raps, Raps
bis zur Kante, bis zum Haaransatz, randvoll mit Raps,

Rapsaugen, Rapskopf, Rapsgeräusche, kein Preßzeug,
keine Margarine, nichts als Raps.

 

 

 

Inhalt

Mit seinen Romanen Flughunde und Spione hat sich Marcel Beyer als Erzähler weithin einen Namen gemacht. Mit seinem Gedichtband Falsches Futter bewies Marcel Beyer auch als Lyriker seine überragende Könnerschaft: „Ein Ereignis“ (Süddeutsche Zeitung). In seinen neuen Gedichten erkundet er, ausgehend von Dresden, dem Ort seines Lebens und Schreibens, den europäischen Osten, Polen, Estland und Tschechien. Seine Gedichte werden zur Erdkunde an den Grenzen zwischen Geschichte, Sprachen und Kulturen. Und am nachdrücklichsten verdichten sich seine Auseinandersetzungen mit der Historie zu einem bedrückenden Kaliningrad-Zyklus.

DuMont, Ankündigung

 

In der Ackermanngegend

– Unter Sprachspielzwang: Marcel Beyer erkennt die Wortfelder des Ostens. –

Erdkunde, das war doch das Nebenfach mit den Landkarten und mit dem Lehrer, der die Kreide quer nahm, wenn er mit geübtem Strich die deutschen Mittelgebirge an die Tafel malte. Fichtelgebirge, Erzgebirge, Riesengebirge, alles deutsche Mittelgebirge, denn Westermanns Wandkarten kannten Deutschland nur in den Grenzen von 1937. Dort draußen, an den östlichen Rändern, hat sich auch Marcel Beyer für seinen neuen Gedichtband herumgetrieben. Er heißt Erdkunde.
Ein Titel, der Erinnerungen weckt an verträumte Schulstunden, dessen poetische Anmutung Beyer aber von Beginn an entschieden durchkreuzt. „Erdkunde“ heißt auch der erste Zyklus aus sechs Gedichten. „Im Geländ“, und das heißt im nördlichen Böhmen, in der „Ackermanngegend“, hat dem Autor von Knochen geträumt. Knochen oder auch einmal Knorpel sind das erste, was sich, geträumt oder erlebt, aus der Erdbetrachtung heraus kristallisiert; Kohlen das nächste, und zwischendrin ist schließlich ein paar mal von Fingern die Rede. Beyers erster Erderkundungsgang führt, wie es scheint, auf Wortfelder.
Wie fruchtbar solche Recherchen sind, ist nach den ersten sechs Gedichten noch schwer zu entscheiden. Der allererste Eindruck ist einer von großer Sprödigkeit. Was gäbe es nicht alles lyrisch zu entdecken „in Teplitz, in Teplice oder in Tepl“, und wie sonderbar gehemmt, wie verhalten ist dieser Auftakt. Offenbar ist der Autor in den vergangenen Jahren weit herumgekommen, von Böhmen bis Ostpreußen und darüber hinaus, aber die Welt hält sich in seinen Gedichten trotzdem gut versteckt.
Den Schlüssel zur geographischen Erkenntnis des Ostens scheinen Beyer bestimmte Stofflichkeiten des dürftigen Alltags zu liefern: Kohlen zum Beispiel, „Schwamm und Leder“, Schilf, Staub, „Gewölle“ und, Hommage an Beuys, Filz. Es sind solche bodennahen, bescheidenen Texturen und Textilien, um die seine Gedichte kreisen. Das Ich, kein lyrisches in einem emphatischen Sinn, hält sich aus den Betrachtungen weitgehend heraus; lieber beobachtet es das sprachliche Gewölle dabei, wie es sich selbst permutiert. „Trockenfisch“ heißt ein typisches Stück aus diesem Band; es geht in ihm ums Schichten. Das hat fraglos den semantischen Mehrwert, dass Geschichte darin mitgedacht werden muss. So richtig von der Stelle kommt das Gedicht trotzdem nicht. Ein bisschen ermüdend und asketisch ist es dann schon, wenn Zeile um Zeile Dinge formuliert werden wie „Ich / schichte nach Nacht, schichte Antworten / erdwärts. Schichte auf immer, Luft auf den Tisch, Hauch auf die Luft“. Auch im Gelände neigt Beyer bisweilen einer Laborpoesie zu, deren Sprachspielzwang ihm nur selten den unbekümmerten Zugriff auf die vorhandenen Realien erlaubt.
Manchmal geht es dann aber doch, etwa in „Ton“. Zuerst gibt es auch hier wieder nicht viel zu verstehen.

Du mußt bis zu den
ersten Seiten zurück: Abwärts,
Sprache, alles ist wichtig
doch nichts will mehr

festgehalten werden

Dann aber erinnert sich jemand an eine Kindheit in einem „Schlafdorf“,

bloß Wolkenwände vom
Heizkraftwerk und gezuckerte
Luft und der gelbliche
Schimmer über den Rübenmieten.
Weckhoven, eine Einkaufszeile

Nicht im Osten befinden wir uns, sondern in den diesigen Gegenden des linken Niederrheins. Eine Landschaft, die Beyer in wenigen Zeilen mit vollendeter Stimmigkeit auferstehen lässt. Für einen Moment wenigstens ist der Sound des Fragmentarischen, das Wohlfeil-Spröde und Theorie-Kompatible, einer intensiven Anschauung gewichen, die an alles denken lässt, nur an eines nicht: die Sprache. Dann wieder: Holz, Sägemehl, Packpapier, „Glaswolle, Ziegenhaut, Ruß“. Bestimmt kann man eine Wahrnehmungs-Inventur des „Ostens“ auch mit seinen Materialitäten beginnen lassen, mit dem haptisch und olfaktorisch Beweisbaren, mit „Tallinn mit dem Geruch nach Holz / in der Erinnerung“. Aber so eine lyrische Materialkunde käme auch ohne das sprachliche Totholz aus, das Beyer ohne Not dazwischen streut. Man atmet auf, wenn man liest:

Ich stehe da zur Lungerstunde am späten Nachmittag
die Sonne auf Kaliningrad. MEI HEIMATLAND, MEI
WOLGALAND, hier lernst du fix, was FUNKY ganz

genau bedeutet, mit dem Akkordeon direkt in deine
Fresse

Ist das nicht beinahe eine Situation, ein die Vorstellung beflügelndes Bild, ein Augenblick lyrischer Welterschaffung?
Dann kommen wieder Gedichte, in denen aus dem Durchspielen des Stoffvorrats nichts oder wenig folgt. „Kondensmilch“ etwa. Sieben Gedichte über Kondensmilch sind vielleicht doch das eine oder andere zu viel. Nicht weil sie kein lyrischer Gegenstand werden könnte, sondern weil es mit ihr auch nach sieben Gedichten noch keine nennenswerte Bewandtnis hat. „Kondensmilch, Flecken, Stickereien“, wieder so ein Beyerscher Dreiklang. Ohnehin dominieren bei ihm die Substantive, vor allem in gereihter Form, eine Parade von Nomina, die der Autor nach der Rückkehr aus den östlichen Regionen über seinem Schreibtisch ausgeleert hat, die aber kein Leben zu Sätzen verbindet. Man fragt sich nach den Gründen für Beyers freiwillige Selbstbeschränkung. Er kann es anders, aber er fühlt sich sichtlich wohler im Gehege des Sprachexperiments, dort wo, Gerüchten zufolge, die Sprache sich selber prozessiert.
„Bienenwinter“, auch dies wohl eine Anspielung auf Beuys’ arte povera, heißt der abschließende Zyklus in Beyers Band. Darin sieht man deutlicher als sonst, dass Beyers Ansprache der einfachen Materialien auf multiple Geschichtsbilder hinaus will. Der Genosse Stalin kommt ins Bild, „mit Imkerstiefeln, Handschuhen / und Pfeife“. Von Honig und Wachs ist die Rede, letzte Zutaten zu Beyers Universum. Zwischendrin der Dichter im Dresdner Garten, wie er den Bienen zuschaut bei einem Spiel, das dem seinen nicht unähnlich ist. Von Stalin nach Hellerau und zurück im Zeichen der Biene: wer kennt die Regeln dieses Spiels? „Auch das ist Spracharbeit“, heißt es einmal über das Spiel der Bienen, und Spracharbeit sind auch diese Gedichte. Darin liegt ihre Konsequenz und ihre Beschränkung.

Christoph Bartmann, Süddeutsche Zeitung, 8.7.2002

Wo Fragen sich in Staub auflösen

– Weltgeschichte hinter Märchenzauber: Marcel Beyer sieht aus Bienenaugen. –

Wer Marcel Beyers zweiten Gedichtband aufschlägt, betritt eine dunkle Gegend. Sie ähnelt dem sarmatischen „Schattenland“, das Johannes Bobrowski vor vierzig Jahren beschworen hat, und wie dieses ist es halb geographisch und historisch, halb mythisch bestimmt: ein ostwestliches Gelände zwischen Elbe und Narva, zwischen Böhmerwald, Tallinn und Krim, zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Jetztzeit. Nur daß diese Gegenwart jetzt die unserer Jahrtausendwende geworden ist, und das ändert fast alles.
Wer in Marcel Beyers Gedichtband eintritt, durchwandert Zwielichtwelten, deren Erdboden aus den verwesten Relikten der Kriege und Pogrome zu bestehen scheint und in denen sich dennoch ein neues Leben behauptet; eine Welt, in der noch immer Gespenster umgehen, die Ludendorff oder Stalin heißen. Und in dieser Schattenbeschwörung flackern viele, manchmal zu viele Bilder aus der Biographie des Reisenden auf, des Nachgeborenen: aus den achtziger Jahren in der westdeutschen Provinz und der Wendezeit in Ostdeutschland, Filmschnipsel und Fernsehspots, Poster und Pokémons. Verschollen geglaubte Echos werden wieder hörbar; private und Welt-Geschichten, heraufbeschworen durch Spuren im Gelände und in der Sprache, verhaken sich ineinander und bilden verwirrende Muster.
Beyers Erdkunde bewegt sich im Sprachgelände, in einem doppelten Sinn: in Landschaften als sedimentierter Sprache und in der Sprache als imaginärer Landschaft. Geschichtliche Bewegung und Stillstand der Dinge, Erzählung und Meditation halten einander die Waage, und die Durchdringung der Zeiten wird hörbar in der Vermischung der Redeweisen und Signalwörter. „Wellnesszonen“ treffen da auf „Oststeppen“, Sielmanns Tierfilme auf Stalin-Oden. Und in der mittelalterlichen Bilderwelt des Johannes von Tepl erscheint, im „Renault, sponsored by / Mutti oder Mausi“, der Tod an der Leitplanke.
„Ich halte Ausschau nach den Toten“, hat Beyer in seinem letzten Roman geschrieben und damit das Thema seiner nunmehr fünf Bücher resümiert. Was sich aber in Spione zeitweise im selbstreferentiellen Spiel der Zeichen verlor, das ist hier in oft unheimlicher Dichte gelungen. Beyers Erdkunde ist vor allem Kunde von der Erde als einem Totenacker der Geschichte. Das beginnt, im titelgebenden ersten Zyklus, mit dem Traum vom Übergang in eine unterirdische Welt, einem Traum von Acker, Asche und Rauch, von Knochen und vom Knochenmann, hinter dem das spätmittelalterliche Gespräch zwischen dem Tod und dem „Ackermann von Böhmen“ sichtbar wird und zugleich die jüngste deutsch-tschechische Geschichte; dies alles präzise auf kleinstem Raum.
Das setzt sich fort auf dem prototypischen Schauplatz dieses Bandes, in Kaliningrad. Beyers Gedichte verfremden das zerstörte, wieder aufgebaute und zerfallende Königsberg zu einer Collage aus Alltagsanblicken. Im Blitzlicht der Schnappschüsse erscheinen da „Natojacken- und Cassettenbuden“ und abgerissene Plakate mit dem „Milchpulverblick“ von Babygesichtern, ein Schlachtendiorama des Ersten Weltkriegs und die Klebstoff schnüffelnden Jugendlichen auf dem Parkplatz am Kriegerdenkmal; so wird die Stadt lesbar als Palimpsest. Enden wird der Weg dann in den archetypischen Bildern vom Schnee, in dessen blauweißer Kälte alle Sprachbewegungen erstarren, und in der Frage nach dem Staub, in den sich alles, endlich auch die Frage selbst, auflöst:

Staub in den Himmel, bis es dunkel ist.

Wie im Verlauf dieser halb realen, halb imaginären Reise Beobachtung, Erinnerung und Imagination ineinandergleiten, so werden auch die Grenzen des redenden Ich ungewiß. In einem alten Mann erblickt es auf einmal „meine Person“, träumerisch sieht es sich selbst unter den Toten und streift kurz darauf als fremder Besucher unter den Lebenden umher. Und im Hotel Kaliningrad wird es sich geisterhaft fremd – „manchmal betastet jemand meine Füße, / nachts, das bin ich selbst“. Im letzten Teil des Bands rücken mit dem Wechsel der Perspektive von den Augen des Schreibers zu denen der Bienen die Menschen an den Rand der Welt, verblassen zur grauen Außenansicht, unter ihnen das Ich selbst. Als eine andere Art der „Spracharbeit“ hat Beyer das Ausschwärmen und Kreisen der Bienenvölker zuvor beschrieben. So beiläufig dringt die postmoderne Zeichentheorie, die in seinem vorigen Buch manchmal aufdringlich hervortrat, in diese Gedichte ein. Die Sprachbewegungen, an denen sie selbst teilhaben, bringen am Ende auch ihren Sprecher zum Verschwinden.
Auch wenn die Rätselhaftigkeit der Anspielungen und Kombinationen, die Beyer provozierend ausstellt, sich oft nur als verrätselt und geheimniskrämerisch erweist und die elliptische Schreibweise die Grenze zur bloßen Privatsprache überschreitet – die halluzinatorische Kraft dieser Verse ist doch, gerade dank ihrer Balance zwischen Prägnanz und Geheimnis, beträchtlich. Beyer zeigt sich in diesen Gedichten nicht weniger als in seiner Prosa als versierter Tonmeister. Er hat, was sich nicht von vielen Schriftstellern seiner Generation behaupten läßt, einen Sound – dunkel und nüchtern, manchmal ironisch, zuweilen elegisch.
Gewiß, es gibt Passagen von so forcierter Dunkelheit, daß auch neugierige Leser faulen Zauber argwöhnen und die Lektüre vorzeitig abbrechen werden. Wer aber trotzdem weiterliest, kann erleben, wie sich disparate Bilder und Erinnerungen nach musikalischen Mustern zusammenfügen, wie Motive einander antworten, wie sich aus der Fülle der Beziehungen eine rätselhafte Schönheit ergibt. Wer das Schwindelgefühl beim Gehen über schwankende Böden mag, wird hier lange Spaziergänge machen können.
So manieriert Beyer zuweilen auch schreibt, so bemerkenswert ist doch seine Souveränität, ja Virtuosität im Umgang mit seinem Material. Zeitweise wird die Sprache hier, als müsse ihr unheimliches Eigenleben beherrscht werden, demonstrativ in ein mechanisch starres Raster gezwungen, in abrupten Zeilenbrüchen oder in der willkürlichen Anordnung prosaischer Sequenzen zu einer Serie von Kurzgedichten mit je fünf Versen, unter der Überschrift „Fünf Zeilen“ (dann aber fällt eines, es ist gerade das fünfte, mit elf Zeilen aus der Reihe). Und zeitweise fügt sich wie nebenbei der prosaische Sprachfluß zu melodischen Blankversen, verfällt in langsame Daktylen, stolpert, gerät aus dem Tritt und steht in der Wiederholung eines Wortes wieder still. Halb verborgen bilden sich Reimpaare wie das altmodische „Hauch“ auf „Rauch“ und „schnell“ auf „Ritornell“, erscheint hinter der „Klabauterfrau“ der „Stacheldrahtverhau“, hinter dem Märchenzauber die Weltgeschichte. Und selbst die flapsige „Ossifizierung“, die der von West nach Ost umgezogene Schreiber an sich selbst beobachtet, gewinnt – nimmt man ihre lateinische Nebenbedeutung wahr – einen unheimlichen Doppelsinn: als die Verwandlung des Toten ins Knochenmaterial. Beyers präziseste Beobachtungen gelten den banalsten Gebrauchsgegenständen, denen er in seinen Reiseländern begegnet. So gibt es hier einen Gedichtzyklus über Kondensmilch und einen über Autoreifen; und es sind nicht die schlechtesten dieser Expeditionen ins Schattenland, die sich aus den unverbrauchten Motiven ergeben.
In ihrer zyklischen Verflechtung lesen diese Gedichte sich wie der kühne Versuch einer Inventur des Jahrhundertendes. „Das ist die Atmosphäre“, notiert der Reisende einmal, „dies / der Nerz, der feuerfeste Anzug, dies dein / Lunchpaket“. Am Ende blickt er ausdrücklich zurück auf „das zwanzigste / Jahrhundert: Bienenbilder“. In der Tat, was dieser Band gezeigt hat, sind – mit der im Schlußteil kunstreich entwickelten Bienen-Allegorie zu sprechen – Bilder versunkener Bienenstaaten, ist die Angst Stalins als des „Bienenkönigs“ vor der „Drohnenschlacht“, sind die Mühsal des Wabenbaus und die Süße des Honigs, sind Erstarrung und „Bienentod“. In diesem Bildfeld läßt sich beides noch einmal anschauen: die Genauigkeit der Beobachtungen, aus denen die poetische Erdkunde sich zusammensetzt, und die dunkle Schönheit ihrer Komposition. Auf den Spuren der Bienen wandert Beyer durch sein ostwestliches Schattenland und zeichnet Figuren auf die Erde, rätselhaft, traurig und schön.

Heinrich Detering, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.3.2002

Das Gedicht als „Kameraauge“

– Marcel Beyer auf der Suche nach einer deutschen Geschichte. –

Die Frage, wie jemand auf die Idee kommt, Weltanschauung – und das schließt die gegenwärtig für selbstverständlich gehaltene mit ein – könnte in einem Gedicht Platz haben, kann ich angesichts der Ergebnisse immer noch nicht anders beantworten als damit, daß Weltanschauung eben offenkundig keinen Platz im Gedicht hat. Statt dessen schreibe ich, eine anderthalb jährige Pause beendend, nach meiner Rückkehr aus Rußland Gedichte.

Marcel Beyers programmatische Askese tut wohl. Nachzulesen ist sie in einer empfehlenswerten Sammlung von Positionsbestimmungen im Rückblick auf ein abgelaufenes Dichtungsjahrhundert. Wer ein Panorama der Windungen, Fluchten, Behauptungsversuche gegenwärtiger Dichtungsreflexion sucht, greife zur Nr. 205 der unersetzlichen Horen. Nach Jahren der Zurückhaltung wohl ein Zeichen für die wieder zunehmende Bedeutung poetologischer Konzepte für die lyrische Produktion. Wer das darin dokumentierte Referat Beyers nicht kennt, wird einige Dunkelheiten und lästigen Anspielungsballast seiner zweiten Gedichtsammlung Erdkunde (DuMont 2002) beklagen. Wenn unter dem Titel „Ostpreußenmuster“ ein im anonymen Strandhotel müßiggehendes „Ich“ ausgerechnet Agnes Miegel liest, irgendwo in der Ferne Fichten und Birken „von russischem Charakter“ zu sehen sind, zum Beispiel. Rat geben die Horen:

In Kaliningrad hörte ich von einem dort lebenden russischen Schriftsteller, der Gedichte aus dem Deutschen ins Russische übersetzt. Vor allem widme er sich dabei seiner Lieblingsdichterin, wie es in einer biographischen Notiz heißt: Agnes Miegel.

Weit erraten muß der Leser allerdings selbst: Daß wir uns womöglich jenen Strandschmökerer im ganzteiligen Badedreß der Zwanziger vorstellen müssen, die russischen Wälder als grünen Saum um die Kurische Nehrung, wo Thomas Mann gerne die Sommerfrische verbrachte – solche Ratespiele gehören zu Beyers Gedichten. Wer sie und die damit unweigerlich einhergehende Bildungsprätention nicht mag, wird nicht froh werden mit Beyers Erdkunde, in der Hauptsache eine Sammlung von solcherart verschlüsselt aufgeschichteten, collagierten, chiffrierten, dekonstruierten Exkursionsberichten, die in Deutschlands ehemalige Ostgebiete und Anrainerstaaten führen. Kein versifizierter ,Erfahrungsbericht‘ einer Region – die Suche selbst ist das Ziel, das Verwischen und Legen von Spuren, das Aufdämmern historischer Trümmer, das Auflösen aller ideologischen Besetzungen in Relationen und Konstellationen.
„Bienenwinter“ redet über viele Seiten hinweg von Imkersorgen, -lüsten, -weisheiten. Plötzlich taucht ein „Stalinbild“ auf, wie auf einem störenden zweiten Kanal bei unreinem Radioempfang schleicht sich eine zweite Stimme hinein, spricht sibyllinisch von „Stalin mit / Bienenbart, als –könig“, und das namenlose Ich räsoniert: Das „Telefon, der Selbstwähl-, / Selbstmordapparat, hört mit.“ Russisch hat dieses Ich mit acht Jahren gelernt, mit 16 Gedichte geschrieben, derzeit sitzt es zwischen den Bienenvölkern und wartet auf einen Anruf aus Moskau, obwohl es weiß, wie es in einem befremdlichen Kalauer heißt, „diese Zeiten sind / vorbei. johannes, R-Gespräche // sind nicht länger zu erwarten.“ Nach und nach dämmert es einem, der Mann ist alt, ein kommunistischer Funktionär oder Stasimann a.D., der nicht darüber hinwegkommt, daß jene Zeit, als J.R. Becher noch in Moskau saß und man eine Aufgabe im Dienst an der großen proletarischen Erlösung hatte, endgültig vorbei ist. (Oder ist es ein maskiertes Porträt des jungen Dichters als alter Spitzel?) Jetzt sitzt er ausrangiert zwischen seinen Bienen, die ihm ein probates Modell der menschlichen Gesellschaft abgaben. Der Monologisierende hat eigentlich nicht das Metier, sondern in der einen großen Sprache der Evolution den Dialekt gewechselt – doch der Dichter läßt uns en passant wissen, daß auch das eine Bildprojektion ist:

Ich geh nach Farben, geh ein
Stück, das zwanzigste
Jahrhundert: Bienenbilder.

Eingewobenes im Sperrdruck sind, ahnen wir, Zitate, Paraphrasen aus kommunistischen Agitationsreden und Parodien auf sie, die im Kopf des Alten sich nach der alten Melodie zwanghaft weiterdrehen – und nun den Bienen selbst das Wort erteilen:

JA UNSER LEBEN, DASS WIR VOM
KOPF NACH UNTEN SECHSECKIGE
KRISTALLE BILDEN WOLLEN,
und, an das Proletariat gewandt,

JETZT, MEINE HERREN, SCHAUEN
WIR DIE BIENEN AN. Wachs,
Waben, Umgang mit den
Artgenossen
– […]

Und die „Honigoden“? Auch das ist kein bloßes Lautspiel, sondern ein Stein in Beyers Versteckspiel. Seine verborgene Funktion ist wie vieles in diesem anspruchheischend komponierten Band nur durch Auftauchen in Nachbargedichten zu erschließen. Wenn man Beyers ersten Gedichtband nicht kennt, in dem der Odendichter Weinheber („Josef“ mit Vornamen wie Stalin!) eine prominente Rolle spielte, muß man sich das Bedeutungsgeflecht der „Ode“ in diesem Band mehrzügig erschließen. Miegel, Mandelstam, J.R. Becher, Bobrowski und jener ungenannte russische Gegenwartsdichter ergeben sich als Bezugsgrößen. Becher spielt, wie wir (nur) den Horen entnehmen können, als Kompilator einer Anthologie deutscher Dichtung unter Hitler hinein. Mandelstam hatte Beyers „Aufmerksamkeit für Osteuropa geweckt, auch wenn ich noch nicht sagen könnte, wo dieser Osten Europas überhaupt beginnt, gleich hinter Helmstedt möglicherweise“. Mandelstam ist natürlich auch jener exemplarische politische Fall von Dichter, der mit sich rang, ob er, um sein Leben zu retten, eine Stalin-Ode aufsetzen dürfte (und sich zu gleicher Zeit abmühte, den erpreßten Kniefall in anderen Gedichten gleichsam ungeschehen zu machen). Die erpreßte Ode des Dichters, der metonymisch für die russische Poesie steht, hier; dort die Königsbergerin Miegel. Letztere steht, wie einst Weinheber, für die Oden-Begeisterung der dreißiger und vierziger Jahre, die die „Innere Emigration“ mit einigen Hofsängern der „Bewegung“ teilte, aber auch mit dem jungen Soldaten Bobrowski, dem Tilsit-Königsberger im Rußlandfeldzug, der sehr früh Miegel gelesen hat. Das Medium selbst und sein vagierendes, aber gerade deshalb instrumentalisierbares Formgeheimnis ist Mittel und Ziel der Beyerschen Exkursionen. Für den Funktionär ist die Sprache der Bienen eine „Ode“ geworden, Ersatz für den Großen Preisgesang aufs Proletariat. Und am Ende steht dieser Funktionär, den die Geschichte ausgespien hat, in offener Korrelation zu jenem russischen Schriftsteller, der aus der Geschichte ausgetreten ist, indem er Agnes Miegels Oden ahistorisch liest?
In dieser Art entfaltet Beyer über einen ganzen Band hinweg Korrespondenzen, legt Spuren und verdeckt sie wieder halb, implementiert Zitate, Dokumentfetzen, Paraphrasen, geschürfte Materialfragmente aus der Geschichte – der totalitären vor allem, aber auch der persönlichen – in Stör-, Neben- und Gegenstimmen. Doch das exzessive Probebohren und Spurenlegen ist es noch nicht allein, das Beyers Timbre schafft. Wie im Roman Spione tritt eine forcierte Konzentration auf das Auge hinzu, auf Bilder einerseits, den Vorgang des Sehens und Gesehenwerdens andererseits. Die Manie des Spurenlegens wird konterkariert durch eine manische Konzentration auf das Oberflächendasein der Dinge. In zahllosen Abwandlungen wird der Sehvorgang selbst thematisch – bis dahin, daß eine Amsel das Ich erblickt oder ein Gedicht einfach „Hier siehst du“ einsetzt. Obsession für Visus und Piktorales meint auch – übrigens eine enge Verwandtschaft zum rheinischen Dichterfreund Norbert Hurnmelt –, die Sprachbewegung zum Protokoll des Lesens von Bildern und Landkarten oder zum kameraartigen Absuchen von materiellen Oberflächen zu machen. „Kameraauge“ wird in diesen Gedichten zur Realmetapher. Die quasi-filmische Nahsicht auf die Dinge treibt Beyer so weit, daß die Dinge durch die bloße Länge und Ausschließlichkeit der Augenabtastbewegung ihren Gebrauchswert gleichsam von selbst übersteigen – und oft löst das Näherkommen, Absuchen, Draufhalten eine Dingkonstellation nicht auf, sondern stößt nur wieder auf neue Bilder, Bilder hinter den Bildern oder in den Bildern. Eindrücklich, geradezu proustisch im Falle der „Nougatromantik“, irgendwo im russifizierten Ostpreußen: Die Folie von den Süßigkeiten lösend, Butterspuren an ihrer Oberfläche registrierend, „streichst du erst die Bilder / mit dem Daumennagel glatt, bevor du ißt: der Fuchs / im Schnee zwischen den Zweigen, das Eichhörnchen im // Haselstrauch, die Bärenmutter mit drei Jungen am gefällten / Baum, man sieht sogar die Rinde, Moos. Die Rückseite / eine kyrillische Legende. Hier könnten Damen sitzen und // an ihren Ärmeln nesteln, Blumen legen, hier könnten sie Klunker und Schokoladenwaren befühlen, mit / feuchten Lippen und dem Nachhall früher Verse, so allein // im Kopf, sind von allein im Kopf, auch wenn die Hörgeräte / ausgeschaltet bleiben. Die Hörgeräte, Blusen- und / Balladenwesen.“ Ein einziges Wort („kyrillisch“) genügt Beyer, um die Szenerie in historischem Boden zu verwurzeln – und doch alles mit dem Konjunktiv, der ,Möglichkeitsform‘, kunstvoll in der Schwebe zu halten.
Wenn ein Richard Strauss wettete, eine Gabel komponieren zu können, oder ein Manet sich mit einem elenden Spargelknöllchen begnügte, so war das Ausdruck höchster Selbstgewißheit: Überlegenes Handwerk macht aus dem Unscheinbarsten Kunst. Ähnliches mag Beyer in bescheidenerer Dimension vorgeschwebt haben, wenn er seiner Kunst des Augenabtastprotokolls so sehr vertraut, daß er Autoreifen und Kondensmilch zum Sujet ganzer Zyklen macht (die in sich wieder in der Art von architektonischen Grundmotiven und leitmotivischen Wörtern strukturiert sind). Das Vertrauen auf die alleinige Kraft des Sehsinns und des jungfräulichen Sujets ist allerdings prekär. Beyer weiß das und versucht fortlaufend, das ungedeutete Seharrangement mit Geschichts- und Geographiespuren anzureichern:

Auto reifen in der Holunderschlucht, noch
Weißes, hinterm Forellenteich. Am Ufer
tschechische Präser, Blickwechsel
[…]

Beides, das Arrangieren von dinglichen Gegebenheiten wie auch das Impfen derselben mit Suchspuren, betreibt Beyer mit einer Ausschließlichkeit, die über einen ganzen Band hinweg ermüdet. Wichtiger aber noch: Diese Ästhetik ist, bei allem exquisiten Wortbewußtsein und überlegenen Sinn für Farbwerte, letzten Endes keine sprachliche Obsession – sie geht, wenn man es metaphorisch sagen dürfte, nicht aus den inneren rhythmischen Kräften der Worte hervor. Sprache dient mehr dem Sehen, als daß das Sehen die autarke Sprache anreicherte. Beyer hat kein rechtes Konzept, wie die rhythmische und klangliche Eigendynamik der Sprache mit der obstinat verfolgten Ästhetik der sichtbaren Oberfläche und der gelehrten Pfadfinderei zusammenkommen könnte, im Gegenteil: Sein Sprachempfinden ist durchgehend additiv, statisch, arrangierend, nicht pulsierend; es gibt keinen übergreifenden rhythmischen Zug.
Intrasysternisch hat das seine Vorteile. Ein additives Sprachempfinden läßt sich leicht mit der Ästhetik des Kameraauges vereinbaren: Die Suchbewegung der Linse tastet Ding für Ding ab, die das Additive synthetisierende oder übersteigende Totale oder gar landschaftliche Überschau sind Beyer vollkommen fremd.

Haut
Lederhaut, bloß keine Kümmergeste, langsam, und
nicht verzucken, bis die Winkehand hinter der nächsten
Tram verschwunden ist.
[…]
Im Fahrerstand Tapetenbahnen,
helles Ziegelimitat, kein Abschied, kein Gebäck, dann
Gegenlicht.

Solche Passagen – hier programmatisch eingeleitet durch die Fügung „Hier wird ins Cinemascope gewunken“ – sind Legion in diesem Band. Die additive Sprachintuition läßt sich zweitens leicht mit einer Imitation des Filmschnitts und den harten Fügungen der Materialcollage verbinden. Die reihende, verräumlichende Schnitt-Technik hinwiederum ermöglicht es, das kameraartige Fixiertsein auf Dingoberflächen mit der Obsession aufs Spurenlegen zu verknüpfen – die historischen Relikte werden zum Material unter anderen Materialien, Trouvaille neben Trouvaillen. Insofern ist Beyers Konzeption nicht nur von imposanter Kunstfertigkeit, sondern auch von großer Stringenz. Doch das hat einen erheblichen Preis: Der dominierende Zug zur syntaktischen und phänomenalen Addition steht quer zum Vers, denn ein Vers ist, vom Sonderfall der visuellen Poesie abgesehen, schlechterdings nicht ohne rhythmische Kategorien von innen her zu definieren. Anders gesagt: Die wunde Stelle Beyers ist die Ersetzung von rhythmischen Zügen durch Verkettung autarker, tendenziell solipsistischer Wortdingsegmente, die allenfalls ein schwaches, lokales metrisches Empfinden, niemals aber eine rhythmische Dramaturgie zulassen. Jeder Zeilenwechsel wird so zum Offenbarungseid:

Oststeppen, Ruß und Apfelsaft kannst du
vergessen, wenn du dir meine Kohlenhand
ansiehst, mein Wetter. Wenn mir die
Staubspur kommt, kannst du den Hopfen

sehen, über den Zaun, in dieser Lage.

Die im ganzen Band bewahrte, feinsäuberliche Einteilung in regelmäßige Strophen ist Willküroptik. Gleichgültig, ob Beyer das als Analagon zur Willkür, mit der die Brennweite der Kamera unser Sehfeld beschneidet, verstanden wissen möchte – das Resultat ist keine neue Versbegründung, sondern eine konzeptuelle Mischform, der man die Herkunft aus der Übertragung nicht-sprachlicher Verfahren ansieht.
So fixiert ist Beyer auf das sinnliche, symbollose Gegebensein seiner Materialsegmente, daß er übergangslos in reine Prosa verfallen kann – und auch sie ist additiv gedacht, nur sind dabei die gereihten Phrasen länger und syntaktisch meist abgeschlossen und die Zeilenbrüche fallen mit derselben Konsequenz, mit der ein John Cage seine Notenlinien lustvoll kreuz und quer über eine Ansammlung von Tintenklecksen gezogen hat (die ja auch immer einen Sinn bekommen):

Ich muß noch eine Pille nehmen, wenn ich
dir eine Ansichtskarte schreiben will. Beim
Frühstück sitze ich immer am selben Tisch,
der Kaffee ist zwei Tage alt, die Männer

haben keine Haare. Ich war am Strand. Den
Nachmittag ging es mir wieder mild.

Natürlich ist hier eine Art Protokoll innerer Monologe gemeint, doch es ist unverkennbar, daß Beyers Verssprache ihr Modell in solchen prosaischen Iterationssequenzen hat. In der Mitte zwischen jener reinen Prosa und der forcierten, also kleingliedrig gemachten Additionssprache stehen dann etwa solche Sätze:

Das Bild hängt mittig, die Wanderdüne mit
den braunen Ecken, Dörfer sieht man nicht. Fein,
abgestaubt, hab Dank dafür.

Daher auch ein notorischer Drang zum Stilleben, zur stofflichen Erstarrung, zum Ausgeklügelten und Abgezirkelten, Aggregathaften. Oder meldet die äußere Gestalt weniger den Anspruch auf rhythmisierte ,Ver-Dichtung‘ an, sondern auf untergründige Spuren- und Motivvernetzung, was kaum möglich gewesen wäre, wenn alles als Prosagedicht graphisch umgesetzt worden wäre?
Unabhängig davon, ob man die Spuren- und Arrangementpassion Beyers als gestelzte Manier, Bildungsdünkel, folgenloses Schaulaufen mit Material oder virtuose historische Archäologie empfindet – in jedem Fall dominiert die Technik den Stoff. Beyer ist kunstsinnig, aber eben auch ein bekennender Konstrukteur, sei es aus Empfinden des rhythmischen Mangels, sei es als Schutz vor unliebsamen Überraschungen, zum Beispiel vor der inneren und äußeren Anarchie der Sprache, der Vergangenheit und der Phantasie: Beyers Antwort auf wunde Punkte der deutschen Geschichte ist deren ästhetische Einfrierung durch gleichbleibend kommentarlose Anordnung zu symbollosen Tableaus. Entsprachlichung der Relikte und Erstarrung in abzusuchende Kunst-Landschaften gehen Hand in Hand. Nimmt man Thomas Kling aus, der in Sachen Assemblage, medialer Reflexion und archäologischen Bewußtseins verwandt erscheint, steht Beyer sicher einzig da in der artistischen Konsequenz, mit der Wortbewußtsein und Konzeption vereint werden. Die Grenzen seiner (dichterischen) Welt sind womöglich die Grenzen dessen, was im Deutschland von heute, der gewissensbelasteten, tabu- und verbotsgespickten und erregungslüsternen Weltgegend, möglich scheint an historischer Belastung des Gedichtes, ohne die Artistik der Moral zu opfern. Das Eigenartigste daran: Beyers Poetologie des deutschen Dichtens ist nicht nur keine genuine Gedicht-Ästhetik – könnte es allenfalls einmal werden –, sie ist auch nicht von heute und noch weniger eine deutsche. Sie ist ein knappes halbes Jahrhundert alt. Ihre Gründungsurkunde ist Robbe-Grillets Pour un nouveau roman. Der Vorzug der Kamera gegenüber der Literatur, lehrte Robbe-Grillet dort, sei, daß sie ,Realem‘, Erinnertem, Imaginiertem gleichermaßen präzise Objektivität verleihen kann. Robbe-Grillet verkündete das Ende jeder Einfühlung, jeden finalen Denkens, den Tod der anthropomorphisierenden Metapher, einen neuen, kalten Realismus des registrierenden Blicks ohne Ich-Zustand – der Oberfläche gehöre die literarische Zukunft, der geheimnislosen Sprache. „Presence“ tritt an die Stelle von „signification“, und an Stelle eines Helden steht das registrierende Bewußtsein in der leeren Mitte des Romans. Beyers „tschechische[r] Präser“ oder das unversehens da hängende Stalin-Bild gehören in die Familie der berühmten Schnur aus Robbe-Grillets Le voyeur. Ja, selbst die Konzentration auf den Visus, die Technik untergründiger motivischer Vernetzung, die ins Leere laufende detektivische Obsession ist abgeschaut – man denke an das Seestück im voyeur. „Glissement“ nannte Robbe-Grillet die Technik: Augenabtastprorokolle von Fotografien mit Protokollen der darauf abgebildeten Dinge fließend ineinander übergehen zu lassen, bis die Differenz von Abbild und Nachbild unerkennbar wird. Zudem ist Robbe-Grillet der Lehrmeister der Vorstellung, daß ein synthetisches Ganzes aus Oberflächenpräsenzen und verdinglichten Leitmotiven zu einem Wahrnehmungsganzen sich, falls überhaupt irgendwo, nur im Bewußtsein des Betrachters fügen könne, da weder Chronologie noch kausale noch finale Relationen mehr die Relationen der Objekte regeln könne, ohne daß man rückfällig werde und einer abgetakelten, denkhemmenden Anthropomorphie fröne.
Somit ahnen wir, weshalb Beyers Askese so wohl tut: Sie steht quer zum ideologisch noch nicht heruntergekochten, moralisch wieder nach allen Richtungen überkochenden Diskurs der deutschen Nachwendezeit, in der Artistik noch einmal zugunsten der ethischen Fanfare und der ideologischen Erregung das Lebensrecht bestritten wird, wie seinerzeit der Purismus des Nouveau Roman quer stand zum weltanschaulich durchsättigten Klima der französischen Nachkriegszeit mit den existentialistischen Frontiers, dem neu-alten Katholizismus, der verbalen terreur der Stalinisten. Beyers unparteiisch kühler Glanz ist kurativ im Medienzeitalter mit seiner Ich-Inflation, Bildentwertung und verkitschten Gedächtniskultur, der hysterischen Überbesetzung der nationalen Grundvokabeln. Aber die artistische Souveränität hat ihren Preis: Artistik wird zum Kontrollzwang. Sie gibt einem Abwehrreflex gegen das Chthonische, Prophetische, Lichtscheue und Lichtversprechende nach, das sich in der deutschen Sprache abgelagert hat.

Sebastian Kiefer, neue deutsche literatur, Heft 547, Januar/Februar 2003

Wenn sie sprechen, siehst du keine Zähne

– In Marcel Beyers Gedichtband Erdkunde wird der Osten zu einem Raum der Fantasie und der Träume. –

„Erdkunde“ ist ein Fach für die Klippschule. Es umfasst alles, was vor der Geografie kommt. Da ist es kein Wunder, dass sich Marcel Beyer in diesem Zusammenhang Wörter wie „Anorak“ aufdrängen, wie „Kondensmilch“ oder „Bübchenöl“: das sind Wörter, die bis weit in die siebziger Jahre hinein uneingeschränkt Bestand hatten und Kindheiten markieren konnten. In Marcel Beyers Gedichte mischen sich zögernd solche Zeichen der eigenen Biografie – aus der Zeit, als das Fach „Erdkunde“ hieß und noch nicht „Geografie“.
Es ist eine behütete westdeutsche Kindheit, die in Beyers Gedichten sporadisch auftaucht. Aber sie ist beileibe nicht das Wesentliche, sie wird erst im Kontrast erkennbar. Denn im Zentrum steht die Erfahrung des ostdeutschen Alltags, die Erfahrung, Nachbarn zu haben, die von der DDR und mittelbar von den Konzepten der Sowjetunion geprägt wurden. Diese Lyrik hat mit den Alltagsgedichten der westdeutschen siebziger Jahre, dem nachdrücklichen Befragen und Hervorkehren der eigenen Subjektivität nicht viel zu tun.
Marcel Beyer ist vor ein paar Jahren von Köln nach Dresden gezogen, und so wurde aus Erdkunde endgültig Geografie. Der Autor nimmt die Dinge, wie zuletzt seine Romane Flughunde und Spione bezeugten, nicht nur einfach unmittelbar, sondern gleichzeitig auch in ihrer Konzeptualität wahr, das theoretische Wissen und die soeben gemachte Erfahrung gehen fast unmerklich ineinander über. Das „Authentische“ ist spätestens in der Generation Beyers (er ist 1965 geboren) fragwürdig geworden, man weiß über vieles bereits Bescheid, bevor man es erlebt.
Der Popdiskurs und der Poststrukturalismus sind auch für Beyer von Anfang an der Orientierungsrahmen gewesen, sein erster Roman Das Menschenfleisch von 1991 ist eine virtuos arrangierte Zitatcollage aus Theorie, Pop und Erzählstrategien. Es ist aufschlussreich zu verfolgen, wie sich in Beyers Texten langsam das Theoretische auflöst und etwas zunächst Diffuses immer mehr Raum gewinnt, etwas, das sich nur aus dem Schreiben ergeben kann. Auf dem Umweg über die in ihren atmosphärischen Umrissen noch zu erahnende Zeitgeschichte, die Welt der Väter und Großväter, entsteht ein Bewusstsein für die eigene Position. Die Nazizeit, die jüngste deutsche Geschichte ist für Beyer eine ästhetisch aufgeladene Projektionsfläche.
Im Lyrikband Erdkunde sind nun Vergangenheit und Gegenwart gegenseitig so durchdrungen, dass die Kategorien von Zeit und Raum ins Flirren geraten. Das Buch beginnt mit einer behutsamen Annäherung an den Dresdner Alltag. Das Fremde wird in wechselnden Formen umkreist. Durch die Konfrontation mit einem völlig anderen Erfahrungs- und Assoziationsbereich scheint Geschichte frei zu werden, die Gedichte setzen sich aus mehreren archäologischen Zeitablagerungen zusammen, von „Bitumen“ bis zu „Knochen“. Das „Kühlboxversagen“ des Nachbarn beim „Picknick“ stellt eine Verbindung her zwischen den Kindheitserinnerungen des Lyrikers und den Freizeitanmutungen des heutigen Ostdeutschlands. Und mit diesen Erinnerungen sind auch Erinnerungen an den Osten verbunden:

Mitte
der achtziger Jahre solche
Zeilen wie: Ich kenne
Das Ufer der Wolga, dabei

bist du aus deinem Schlafdorf
kaum herausgekommen.

Der Osten weitet sich, er wird als Raum von Lektüre, Traum und Fantasie erkennbar, und diesen Osten mit dem nunmehr real gewordenen im eigenen Lebensalltag zusammenzubringen ist die Anstrengung dieser Gedichte. Die Steigerung von Dresden ist Kaliningrad – ein Ort, dem eine gesonderte Exkursion gilt und in dem die verschiedenen Sphären zusammenfallen: Osten, Ostpreußenfolklore, Sowjetmacht, der Zweite Weltkrieg der deutschen Väter.
Und es ist, durch die Geschichte bedingt, zu einer Kunststadt geworden. Die Kaliningrad-Gedichte bringen die widerstreitenden Motive auf engstem Raum zusammen. Es ist ein anderer Lack hier, eine andere Beize, ein anderes Plastik.
„Holz“, die große Kategorie der alten Russlandvorstellungen und Wolga-Sehnsüchte, stellt sich vor allem dar als „Kunstfaserfrage“. Wörter wie „krimsektfarben“ stehen für eine bisher unbekannte Art von Gefühl. Und „unter dem Lenindenkmal“ sitzen „drei Jungs in Plastikjacken“, da gehen die Geschichte der Väter, die militärisch gen Osten zogen, und die Kindheitsgeschichte in Westdeutschland, wo „Brausepulver“ existierte, unversehens in eine akute Jetztzeit über:

wenn sie sprechen, siehst du

keine Zähne. Wer redet hier von Nasenscheidewänden,
die Pattextüten gehen ans Gebiß.

Auch die Sucht, die Lebensgier hat hier andere Formen.
Unter der Hand verschwimmen die Vorstellungen des westdeutschen Behütetseins.
„Der westdeutsche Tierfilm“ heißt ein Zyklus gegen Ende des Bandes, in dem Heinz Sielmanns bedächtige Fernsehkamera und die Panzertruppen vor Stalingrad eine assoziative Verbindung eingehen: „im Grunde sind wir alle auf der Krim gewesen“, heißt es einmal. Der Osten ist zur Realität geworden und damit zu einem Kapitel, das noch längst nicht abgeschlossen ist. Dies ist das Bemerkenswerte dieser Gedichte: Die Geschichte, etwas vermeintlich Stillgelegtes, ist wieder in Bewegung geraten. Und paradoxerweise ist der Katalysator dafür eine Lebenswelt, in der an der Oberfläche alles Geschichtliche getilgt worden ist. Es sind nur noch Abfallprodukte da, blasse Schemen des Gegenwärtigen. Das, was man früher „lyrisches Ich“ genannt hat, erkennt sich hier wieder. Das Gedicht „Narva, taghell“ ist ein Programmgedicht:

Die Sprachen sind mir fremd, als würde
ich Pantoffeln tragen: aber ich

bin da. Kunstfaser, Pelzbesatz und
Einlegsohlen: alle Dinge sind mir nah.

Beyer ist bei den Dingen selbst angelangt, und er hat dafür eine Sprache gefunden, die sich zunächst bedeckt hält, die sich vorsichtig herantastet, aber unwillkürlich ins Offene gerät. Die Rolle, die in der deutschen Lyrik lange die Natur eingenommen hat, wird jetzt langsam durch die Geschichte ersetzt: Marcel Beyers Band ist ein wichtiger Wegweiser dafür.

Helmut Boettiger, Die Zeit, 12.9.2002

Und überall ist Osten

– Es sind die billigen Dinge der Zivilisation, die im Gegenlicht trügerisch glänzen. –

Exzesse des Hörens finden in Marcel Beyers Roman Flughunde statt und Orgien des Sehens in Spione. „Ich halte Ausschau nach den Toten“, heißt es da. Unsichtbar anwesend bleiben die Gestorbenen. Was unter der Erde zu sein scheint, hat seine Spuren auf Lichtbild und Film hinterlassen.
Optisches und Akustisches ist gleichermaßen in Beyers zweitem Gedichtband Erdkunde präsent. Der Titel meint nicht nur die Geografie, sondern auch den Stoff Erde, jene Mischung aus Ablagerungen von Staub, Sand, Feuchtigkeit, Knochen, Kohle und anderen Substanzen, die das Poröse und das Zerbröseln des Lebens anzeigen. Es ist, als atme das lyrische Ich oder Du erst frei in Kellerluft und Modergruft.
Hier spürt es die eigene Existenz und vergewissert sich seines lebendigen Körpers. Es kann ungestört Erinnerungen nachsinnen, um sie dann Sprachschicht für Sprachschicht abzutragen. Der Dichter schaufelt und häufelt, kratzt und schabt, verbindet entfernt Liegendes, bündelt es mit Binnenreimen und Assonanzen und vermengt alles neu. Unten und Oben werden dabei traumhaft vertauscht. Dunkel und Licht vermischen sich zu einer merkwürdigen Dämmerung, in der präzise beschriebene Gegenstände und vage Gestalten imaginäre Verbindungen eingehen.
Wer den lyrischen Raum durchmisst, findet eine ganz aus Tönen und Klängen gebaute Zwielichtwelt, keine Götterdämmerung, eher ein Schattenland wie bei Johannes Bobrowski, dessen Sarmatien Marcel Beyer nachschreitet: ostpreußische, estnische, litauische, russische und polnische Gegenden, ins Böhmische hinüber, dann in die Städte Königsberg, Tallinn und gen Petersburg.
Beyers Rede ist zwar sinnlich, doch nicht sinnlich vollkommen. Wo Bobrowskis Wortrhythmus eine Aura entstehen lässt, reiht Beyer Dinge und Erscheinungen mitunter ohne innere Notwendigkeit aneinander. Das wirkt manchmal unfreiwillig komisch – wie der Gedichttitel „Der letzte Schlurf“. Der Jünger der Postmoderne zitiert poetische Ahnen, einen Vers aus Joachim Sartorius’ „Rue Rosette“ etwa und sogar Thomas Mann, ohne die Zitate kenntlich zu machen.
Zufälliges, Profanes und Banales aus gegenwärtigem Alltagsleben in zerfallenden „Oststeppen“ verknüpft er mit Assoziationen zu Grenzkonflikten und Kriegen. Die Figuren, die ihm beim Erkunden östlicher Gegenden begegnen, sind keine Bobrowskischen Archetypen. Statt der zeitlos wahren Gestalten beobachtet er kleine Grenzschmuggler, ältliche Touristen und Crack schnüffelnde Jugendliche. Randexistenzen aller Couleur bevölkern die Gegenwartsebene, gebrochene Gestalten wie der ehemalige Geheimdienstler, der immer noch auf neue Befehle aus Moskau hofft und sich die Wartezeit als sächsischer Bienenzüchter vertreibt.
Wie jüngste und jüngere Geschichte in der Sprache weiterlebt, wird nicht nur in einzelnen genialen Wortschöpfungen, sondern vor allem in Gedichtzyklen („Bienenwinter“, „Ostpreußenmuster“, „Der westdeutsche Tierfilm“ u.a.) sichtbar. Erst das prozesshafte Kombinieren von Momentaufnahmen, das Arrangement von Sprachfetzen, Gesten und Dingen lässt Muster entstehen, die Zusammenhänge zwischen den Zeiten erkennbar machen. Dabei fuchtelt Beyer nie mit großen Gesten und schlüpft auch nie in die Rolle des Moralisten.
Er montiert Stimmen, zum Beispiel die des Tierfilmers Heinz Sielmann, des Verhaltensforschers Konrad Lorenz und die des Künstlers und ehemaligen Kampfpiloten Joseph Beuys so spannungsreich, dass Denk- und Gefühlsstrukturen ironisch oder sarkastisch ausgelotet werden. Ihm genügt ein Blickwechsel:

Mit
einem Schlag zeigt sich unser Jahrhundert in völlig anderem
Licht

Welch ein Schattenspiel vor schäbiger Kulisse.
Selbst der Knochenmann ist aus simpler Pappe und leuchtet im Dunkel von Nachbars Kellerbar wie ein Kürbisgespenst zu Halloween. Es sind die billigen Dinge der Zivilisation, die im Gegenlicht trügerisch glänzen: die Ansichtskarte, das getönte Haar, Papiertaschentücher in sonnigem Gelände. Erst bei genauem Hinsehen erkennt man den Horror unter idyllischer Oberfläche. Wo Beyer Vages und Präzises in der Balance hält, herrscht eine seltsame Ästhetik des Grauens, absurd, makaber und einfach zugleich.

Dorothea von Törne, Die Welt, 11.5.2002

Im weiten Osten so nah

Wie in der „Sachkunde“, einem Schulfach, das wohl nicht mehr jedem so ganz präsent sein wird, ist auch in der ebenso verstaubt klingenden „Erdkunde“ so ziemlich ein jedes Thema aufgehoben. Letztlich wird alles behandelt: von Mikroben bis zu astronomischen Konstellationen, von wirtschaftlich-politischen bis hin zu ethnisch-kulturellen Fragen. Marcel Beyer geht es in seinem neuen Gedichtband in diesem umfassenden Sinn vielleicht nicht gleich ums Ganze, jedoch um viel. Der Titel Erdkunde weist deshalb nicht zu Unrecht auf eine Vielschichtigkeit der Verse hin, die mit schlichter Geografie nur noch am Rande zu tun haben.
Die Gedichte handeln von Erkundungen des europäischen Ostens. Das lyrische Ich ist unterwegs in Polen, Estland, Tschechien und Kaliningrad – und in Gedanken dabei auch immer in der kriegerischen Geschichte dieser Gegenden. Es hat sich Extremsituationen ausgesetzt, fremden Sprachen, fremden Kulturen.

Die Sprachen sind mir fremd, als würde ich Pantoffeln tragen: aber ich bin da. Kunstfaser, Pelzbesatz und Einlegesohlen: alle Dinge sind mir nah.

Tatsächlich ist diese Nähe in jedem Satz zu spüren. Mit sprachlicher Souveränität und lyrischem Gespür vermag Beyer prägnant und bildreich die ihn umgebenden Gegenstände, Landschaften und Menschen zu beschreiben. Man fragt sich aber, ob der melancholisch-morbide Charakter des Schreibers an dem Eindruck liegt, den die trostlos-maroden Landschaften der postsozialistischen Staaten auf ihn machen, oder ob es sich nicht vielmehr um eine Projektion des Reisenden handelt, dessen Lebensstil weder der seelischen noch der körperlichen Gesundheit förderlich zu sein scheint.

Ich gehe in die Breite, bin bei achtzig Zigaretten und über Tag meist stumpf, drücke mir nur am Abend ein paar Videos in den Schacht.

Letztlich ist der deutsche Tourist doch immer bei sich selbst, so fremd ihm das eigene Ich auch sein mag.

Und manchmal betastet jemand meine Füße, nachts, das bin ich selbst.

Oder wie in dem Gedicht „Meine Person“:

Ich höre mich sprechen, ich weiß nicht
zu wem, unruhige Nächte, morgens
riecht es um mich nach Urin: bald hast

du recht, du sagst: dass ich der Mann
da drüben mit dem Laufgestänge,
die eine Hand am Griff, die andere im

Fach mit Sousamärschen, selber bin.

Ebenso trostlos wie der Zustand des fiktiven Verfassers sieht es auch außerhalb des Hotelzimmers aus. Ein ganzer Zyklus ist beispielsweise der Beschreibung von modernden Autoreifen gewidmet:

Brüchiges Gummi, fremde Schrift

und eine Nummernfolge mit den Fingern, mit
heißen Ohren vor wie vielen Jahren. Ein ganzer
Satz, der Lehm knirscht zwischen meinen

Zähnen, Continental vielleicht, das gute Jahr,
mir liegt der Name auf der Zunge.

So ärmlich die Gegenstände auch sind, die dem Beobachter so nah sind, sie haben einen Namen, stehen in einer zumeist unheilvollen Geschichte, die von ihm immer mitreflektiert wird. „Moskau ruft auch nicht mehr / an, kein Räuspern in der / Leitung, diese Zeiten sind vorbei“, heißt es in dem Gedicht „Bienenwinter“ und bringt die Verlassenheit der Gegend auf den Punkt. Die einheimischen Menschen beleuchtet Beyer teils mit Ironie, teils neutral, zumeist jedoch äußerst lakonisch.

Dann Richtung Hafen ein paar Figuren in Anoraks, Dosenbier, Loksa, November, man geht in die Disco um sechs.

Beyer malt ein düsteres Bild, und dunkel sind mitunter auch seine Sprache und Gedanken. Der kompromisslose Blick und die auch von seinen komplexen Romanen bekannte Akribie der Recherche verhindern zum Glück ein allzu sehr ins Mythisch-mystische abdriftendes Zelebrieren. Von nostalgischer Idylle sind die Verse weit entfernt. Da holt die harte Realität einen auch schon mal derb zurück. Wie in dem Gedichtzyklus „Funky Sabbath“:

wer diese Stadt
verlässt,
(…) kommt nie wieder zurück.

Das glaubt man gern.

Unter
dem Leninmal drei Jungs in Plastikjacken, langsame
Köpfe, kalte Lippen, und wenn sie sprechen, siehst du

keine Zähne. Wer redet hier von Nasenscheidenwänden,
die Pattextüten gehen ans Gebiß. Das Standbild zeigt
sich möwenfrei, der rechte Unterarm wie immer in der

Lebergegend, dazu ein Blick, als hätte die Großvaterfaust
ein Glas zerdrückt. Keine Musik. Meine langsamen Hände

(…)

Ich stehe da zur Lungerstunde, am späten Nachmittag
die Sonne auf Kaliningrad. MEI HEIMATLAND, MEI
WOLGALAND, hier lernst du fix, was FUNKY ganz

genau bedeutet, mit dem Akkordeon direkt in deine
Fresse.

Schließlich wünschen die Schnüffelkinder doch noch eine gute Reise.
Passagen von solcher Klarheit sind allerdings eher selten in dem Gedichtband. Erst bei wiederholter Lektüre werden Bezüge zwischen den sich wiederholenden Motiven deutlich. Doch lohnt sich ein mehrmaliges Lesen nicht nur der Schönheit der kunstvollen Verse, sondern auch des immer wieder auftauchenden Witzes wegen. Die Reihe unter der Überschrift „Kondensmilch“ ist daher auch keine Seltenheit im Beyerschen Gedichtuniversum.

Kondensmilch spielt in meinem
Leben keine Rolle, und doch
kommt es mitunter zu Kontakten, eher
ungewollt, am Küchentisch niemals, nur
in der Fremde, lustlos das Tischchen
abgesucht und hingefasst.

Gustav Mechlenburg, textem.de, 13.10.2003

Erdkunde

– Marcel Beyer und Die Notwendigkeit von Gedichten. –

Brauchen wir Gedichte? Gehören sie – wie das Erzählen – zur anthropologischen Ausstattung? Gibt es, wie es die Dichter gerne hätten, ein Recht auf Poesie? Ja oder nein? Wann haben diejenigen unter uns, die nicht Dichter oder Kritiker sind und Freiexemplare erhalten, zuletzt einen Gedichtband gekauft? Und zwar nicht Mörike oder Schiller, sondern Marcel Beyer oder Norbert Hummelt oder Raphael Urweider? Das ist, ich sehe es Ihren Nasenspitzen an, schon lange her. Und trotzdem würden doch die meisten der sogenannten Gebildeten unter den Zeitgenossen selbstverständlich dafür eintreten, daß das Lesen, Memorieren oder Aufsagen von Gedichten irgendwie immer noch zu unserer Kultur gehören soll. Keiner weiß mehr so ganz genau, warum der Sohn unbedingt Trakl und die Tochter unter allen Umständen Jandl lesen soll, aber wenn sie es plötzlich nicht mehr täten, wäre es doch schade drum. Also kriegen sie zur Konfirmation den Brunnen ewiger Dichtung oder das Große deutsche Gedichtbuch, wo sie alle drinstehen von A wie Aichinger bis Z wie Zech, von A wie „Abschied an eine Geliebte“ (Nikolaus von Bostel) bis Z wie „Zum Kampf der Wagen und Gesänge“ (Schiller), das wird dann mit guten Vorsätzen ins Regal gestellt und vielleicht sogar gelegentlich konsultiert, wenn einem die vierte Strophe vom „Abendlied“ von Matthias Claudius entfallen ist, das der Enkel so gern vorgesungen haben möchte. Es geht übrigens so:

Wir stolze Menschenkinder
Sind eitel arme Sünder
aaaUnd wissen gar nicht viel;

Wir spinnen Luftgespinste
Und suchen viele Künste
aaaUnd kommen weiter von dem Ziel.

Ach, wie recht er doch hat, der Wandsbeker Bote – wir versuchen uns in vielen Künsten und entfernen uns doch immer weiter von dem Ziel: von uns selbst. Es sieht nachgerade so aus, als multiplizierten sich die Künste, um die Distanz zu uns selbst ständig zu vergrößern. Am Anfang war „die menschliche Kultur ein Notprogramm zum Ausgleich von biologischen Ausstattungsmängeln“, wie es Hans Blumenberg formuliert hat, heute, wo alles zur Kultur geworden ist, von der Unternehmenskultur bis zur Kultur des Scheiterns, sind die im herkömmlichen Sinne kulturellen Leistungen einer Gesellschaft für diese zu großen Teilen gleichgültig geworden. Kaum einer kann noch eine Note lesen, aber man prügelt sich um Karten für die Opernpremiere und schwärmt anschließend von der sinnlichen Unmittelbarkeit der Sängerin; man steht während der Vernissage zwischen den kuriosen Objekten der modernen Kunst herum und preist laut die unvorhersehbaren Wege der Kreativität, insgeheim aber hofft man, nur ja nicht damit in tiefere Berührung kommen zu müssen – und wenn die Ehefrau unbedingt will, dann wird eben zur Künstlerförderung so ein Objekt gekauft und zu Hause über dem Sofa angebracht, damit die Gäste über die Sammelleidenschaft der Gattin staunen können – und über ihren eigenwilligen Geschmack. Da hängt es dann. Und nach vier Wochen fragt sich die Gattin, was sie eigentlich so faszinierend an den drei schwarzen Balken fand, die da so unsymmetrisch übereinandergeschraubt auf der Wand kleben. Vergessen. Schwarzes Loch. Blackout. Waren sie schön? Oder waren sie, im Gegenteil, nicht schön und deshalb faszinierend? War es die Form? Das Material? Erinnerten sie mich an etwas? Waren sie ein Zeichen für etwas anderes? Alle Begründungen weg, wie ausgeräumt das Hirn. Kein Mensch fühlt sich verpflichtet, nach solchen Erfahrungen mit der Kunst sein Leben zu ändern, und als einzige Hoffnung bleibt, der Künstler, der die drei Balken über dem Sofa angebracht hat, möge im Preis steigen, damit sich wenigstens die Investition gelohnt hat. So wie der Mensch vom Ursprung her ein Allesfresser ist, so hat er diese Eigenschaft nach der Periode des Mangels und der Entbehrung symbolisch auf die Kultur übertragen: Man darf getrost darüber staunen, was der sogenannte Kulturbeflissene in einer Woche in sich hineinfressen kann, ohne daß sich irgendeine Wirkung zeigen würde.
Auch den blitzhaften Erleuchtungen der Poesie, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist, geht es nicht viel anders. Zwar sind die Gedichte noch da, aber wir haben vergessen, warum. Keiner (außer den Dichtern) will sie freiwillig lesen, man läßt sie sich allenfalls vorlesen, open air oder mit Musik, auf Festivals oder als CD im Auto – Astern, schwälende Tage, / alte Beschwörung, Bann, / die Götter halten die Waage / eine zögernde Stunde an –, da fährt es sich doch gleich besser, und die Zumutungen an den Verstand, den diese Verse nun einmal bilden, verflüchtigen sich im Sound. Gedichte sind eine Zugabe geworden. Nach dem Verschwinden des Theatertextes in die reine Leiblichkeit der Aufführung, des Körperspiels, und dem Rückzug des lyrischen Sprechens, der Poesie, in eine seltsam schattenhafte Scheinbedeutung hat in unseren kulturbeschwerten, kulturgesättigten Gesellschaften allein der Roman als matter Abglanz der Großen Erzählung unserer Existenz seinen sicheren Platz halten können, wenn auch meistens auf unterster ästhetischer Wahrnehmungsgrenze, als Trivialroman, der immer wieder und ohne jede Hemmung die alten Geschichten – eben weil sie alt sind – hervorkramt und neu arrangiert. Ausgerechnet der Lebenszeitfresser par excellence hat den anderen Künsten den Rang abgelaufen! Ausgerechnet die Kompensationsdroge Roman soll am Ende der Zivilisation besser geeignet sein, unsere spielerischen Ansprüche zu befriedigen?
Theater und Poesie dagegen, die am Anfang der Kultur standen und das Schwere der Existenz im Spiel mit dem Mythos aufzuheben trachteten, sind durch die Veralltäglichung und Banalisierung der kulturellen Vorstellungen und Praktiken an den äußersten Rand des gegenwärtig waltenden gesellschaftlichen Interesses gedrängt worden.
Brauchen wir trotzdem Gedichte? Ihren Rhythmus? Ihr Spiel mit Worten und Bedeutungen? Ihre Dichte? Ihre Integrationsfähigkeit? In letzter Zeit sind drei bedeutende deutschsprachige Dichter gestorben, die auf sehr unterschiedliche Weise ihren Glauben an die Verwandlung durch Poesie gelebt haben: Thomas Kling, Robert Gernhardt und zuletzt Oskar Pastior. Alle drei waren auf geradezu besessene Weise davon überzeugt, daß die großen Metamorphosen, die nach dem Ende der Metaphysik unser Schicksal nicht mehr zu bestimmen vermögen, uns jedoch noch immer daran erinnern, daß wir eines haben, daß diese Metamorphosen nur noch in der Dichtung zu entwerfen und nachzuspielen sind. Alle drei waren große Spieler im Schiller’schen Sinne. Alle drei hatten die Geschichte der Poesie als Geschichte der gesamten Gattung im Kopf: Denn nur in der Poesie, in keiner anderen Kunstform, sind das Murmeln und der Schrei, der Seufzer und die pathetische Überschreitung, die frenetische Freude und die abgrundtiefe Trauer immer noch gegenwärtig. Sappho und Kling waren, trotz der zeitlichen Trennung, Geschwister. Und alle drei waren sich darüber im klaren, daß Dichtung nichts mehr mit Natürlichkeit zu tun hat, sondern eine sehr bestimmte Form von Künstlichkeit darstellt. Sieht man von Robert Gernhardt ab, der spät, aber gottlob nicht zu spät für seine Reime geliebt wurde, hatte die Arbeit der Dichter außerhalb der eingeweihten Zirkel kaum Resonanz gefunden. Erst ihr Tod hat sie, Gott weiß für wie lange, berühmt gemacht, was immer das heißen mag. Erst die durch ihre plötzliche Abwesenheit entstandene Leerstelle hat ihre poetische Leistung ins rechte Licht gerückt. Waren sie zu Lebzeiten als sonderbare Einzelgänger bekannt, die in ihren alchimistischen Wortküchen aus einem X ein U destillieren konnten, wurden sie nach ihrem Tod, wenigstens für den einen blitzhaften Moment, in ihrer einzigartigen Bedeutung erkannt.
Aus diesen Gründen – und um all das Gesagte und sattsam Bekannte noch einmal zusammenzufassen –, aus diesen Gründen sind neben allen anderen Förderungen Preise für Dichter so außerordentlich wichtig. Nicht nur wegen des Geldes, das sie selbstverständlich sehr gut gebrauchen können, weil das Honorar von Gedichtbüchern selten mehr als zwei Monatsmieten deckt, sondern weil Preisverleihungen die äußerst seltene Gelegenheit bieten, dem Erkenntnisspiel der Dichter Achtung und Dankbarkeit entgegenzubringen. Denn wenn ein Dichter heutzutage die „verkörperte Unwahrscheinlichkeit“ darstellt, dann erinnert er uns daran, was uns auf unserem Weg verlorengegangen ist. Kein Dichter erwartet natürlich mehr, daß man auf seinen Rat hört, kein Dichter glaubt mehr wirklich daran, daß man seine Arbeit achtet und ehrt, kein Dichter spielt noch mit der Vorstellung, daß es nicht nur einen Präsidenten der Republik, sondern auch einen macht-, aber nicht einflußlosen Dichter der Republik geben müsse, ein alle paar Jahre wechselndes Amt, das übrigens in England und Amerika noch ausgeübt wird. Der Dichter, der einst ein Seher war, dem die Götter die Zunge lösten, muß sich heute durch Selbstinspiration in Stimmung bringen, wenn er seiner schwierigen Arbeit nachgeht, die dann, wenn er Glück hat, in gebundener Form tausend Leser findet. Aber wenigstens Preise sollen die Dichter erhalten, damit sie laut gepriesen werden können.
Nun habe ich also die große Ehre, den Erich-Fried-Preis vergeben zu dürfen. Als ich gefragt wurde, ob ich dazu bereit sei, habe ich sofort zugesagt. Fast zwanzig Jahre war ich mit Erich Fried befreundet, den ich 1963 in London kennenlernte. Ich erinnere mich ziemlich gut an den ersten Besuch in seinem Haus, an die mit Papier überladene Küche und an den unerwarteten Besuch eines Nachbarn, den man damals noch ungestraft als Neger bezeichnete, eines ziemlich hochrangigen Diplomaten aus Westafrika von nebenan, dem das Salz ausgegangen war, der aber stundenlang in Frieds Küche blieb und schließlich von seiner salzlosen hungrigen Familie abgeholt werden sollte, die aber ebenfalls blieb, so daß plötzlich zwischen den gefährlich schwankenden Bücher- und Papierbergen eine ziemlich große und schwarz-weiß zusammengewürfelte Familie mit immer neu eintreffenden weiteren Mitgliedern versammelt war und ich mich besorgt zu fragen begann, wann und wie dieser Dichter je zum Schreiben kommen würde. Eine müßige Besorgnis, wie sich später herausstellen sollte, denn Erich hatte die unerhört seltene Gabe, überall und noch im größten Chaos schreiben zu können. Die reifste Leistung in dieser Hinsicht war sein emsiges Kritzeln in meinem entsetzlich lauten Deux cheveaux zur letzten Tagung der Gruppe 47. Während wir froh waren, das wacklige Auto vor dem Tagungsort der Pulvermühle endlich verlassen zu dürfen, blieb Erich Fried, der die ganze Fahrt von München an einem neuen Gedichtzyklus geschrieben hatte, bis zur Vollendung seiner Verse sitzen. Dieser generöse Mensch hätte den Weltuntergang verpaßt, den er um alles in der Welt vermeiden wollte. Er hat viel geschrieben, manche sagen: zu viel. Aber Gerechtigkeit und Liebe, diese zwei Götter, denen er zu jener Zeit huldigte, gaben ihm viel auf. Er war ständig unterwegs, mit Stock, unergründlicher Aktentasche und Plastiktüten voller Material, das ihm wohlmeinende und meistens weniger generöse Menschen, als er einer war, zugesteckt hatten. Ein geradezu chinesischer Wanderdichter, wie es nach ihm keinen mehr gab. Wer also sollte den Preis kriegen, den ich im Namen von Erich Fried vergeben durfte?
Die Antwort stand sofort fest, sie sitzt materialisiert unter Ihnen: Marcel Beyer. Er gehört zu der Handvoll jüngerer Dichter – jünger als ich, um genau zu sein, die mich mit jedem neuen Text – egal ob Gedicht oder Roman oder Essay – überraschen. Auf die Frage, was ein Gedicht auszeichnen müsse, um sie zu interessieren, sagte die amerikanische Dichterin Elizabeth Bishop: Es muß mich überraschen. Die meisten Dichter tun dies nicht, und das soll gar nicht abwertend klingen. In der Regel sind die überraschungslosen Dichter erfolgreicher als alle anderen, versierter und eingängiger. Sie haben ein paar solide formale Tricks, ein paar sprachliche Zauberkunststücke drauf, mit denen sie geschickt operieren, aber man spürt nach den ersten zehn Texten nicht mehr die Dringlichkeit, die Notwendigkeit. Und es gibt auf der anderen Seite Dichter, die einen nicht loslassen. Oft sind es ihre dunklen Gedichte, die einen länger verfolgen, weil man ihnen auf die Sprünge kommen will, die Wendungen haben, die man auf Anhieb nicht versteht, oder mit einem Vokabular arbeiten, das einem nicht vertraut ist und das man sich erst erlesen muß. Um solche Gedichte abzuwerten oder sich ihrer zu erwehren, nennt man sie gerne hermetisch. In Deutschland ist dies ein Verdachtswort, in Italien dagegen eine hohe Auszeichnung, die auf Ungaretti, Montale und Luzi angewandt wurde: auf eine Literatur, auf eine Poesie, die auf hochkonzentrierte Weise die genaue Beobachtung und die Reflexion im begriffszersetzenden Medium der poetischen Sprache zum Ausdruck bringt. Nicht viel anders geht auch Marcel Beyer in seinem mir ans Herz gewachsenen Band Erdkunde vor. Aber er sieht eben anders und anderes als Ungaretti, Montale, Celan, Jandl oder Kling.
Sein Gebiet für die poetische Feldforschung liegt zur Zeit im Osten, im Osten Deutschlands und in den östlichen Ländern Europas, in Polen, in Rußland. Das ist, nach all den kostenlosen Ausflügen nach Rom, in die Provence oder durch die gleichmacherischen Schluchten von New York ein Novum: Die Westbindung, von der wir politisch und philosophisch profitiert haben, ist in diesen Texten nicht das allein selig machende Weltverhältnis. Marcel Beyer kennt die Städte östlich von Dresden, der Stadt, in der der 1965 in Württemberg geborene Dichter heute lebt; er kennt aber auch die sprachlichen Ausdrucksformen der ganz anders sozialisierten Mentalitäten, das spießige, kleinbürgerliche Milieu, das sich noch nicht anpassen konnte – wollte? – an den westlichen Standard; und er verwendet in seinen Texten die Worte und Bilder, die diesem Milieu und dieser Mentalität angemessen sind: Es geht, wie es in Erdkunde heißt, um seine „Ossifizierung“ in jener „Ackermanngegend“, wo „alles pappig und grau“ ist. Der Bachelard’schen Phänomenologie der Ecken, Winkel und Verstecke fügt er den Kohlenkeller hinzu und das ausgehobene Grab. Und es hat nichts mit sozialromantischer Sentimentalität, sondern mit genauer Beobachtung zu tun, wenn in diesen Gedichten von Keuchhusten, Nesselfieber, feuchten Kammern, von Wand- und Dielenfäule, Kellerluft, Kohlenstaub, Feuchtigkeit in den Mauern, von Kondensmilch und Pfirsich aus der Dose, Rollmops und eingelegten Erbsen die Rede ist; hier wird eben nicht von Pinien am Mittelmeer, von Gladiolen und Rosen in südlichen Gärten geschwärmt, wenn der Blick von den Menschen mit Existenzrisiko weg auf die Natur fällt, sondern er sieht Schafgarbe, Löwenzahn, Wundklee, Wolfsblume und wilden Rhabarber, eben das, was dort wächst.
Marcel Beyers Gedichte sind alles andere als analytisch-essayistisch oder gar touristisch, sie integrieren das Fremde nicht in gefälligen Reimen, um es erträglich, genießbar zu machen, sondern lassen es in seiner Fremdheit schroff bestehen. Ich glaube, wir haben aus instinktiver Furcht vor unliebsamen Entdeckungen noch gar nicht begonnen, uns mit der Realität dieses Ostens auch nur in Grenzen bekannt zu machen – oder wir ahnen bestenfalls, wenn wir Stasiuk, Odija oder etwa den jungen ukrainischen Dichter Serhij Zahdan lesen, daß sich an und hinter den Grenzen eine bedrohliche, weil andere, fremde Realität aufbaut, die mit unseren vergleichsweise harmlosen Problemen nichts oder nur wenig zu tun hat. Der muß man sich, will man sie begreifen, aussetzen, damit man sie eben nicht gleich auf den – meistens falschen – Begriff bringt. In diesem Sinne sind die Gedichte aus der Erdkunde kleine, hochaktive Speicher für nicht auf den Begriff zu bringendes Sprachmaterial, das der Dichter Marcel Beyer auf seinen Expeditionen gesammelt hat. Er ist in einem ganz un-modischen Sinn ein Ethnologe, ein teilnehmender Beobachter, ein Horcher und Merker, der nicht verleugnen kann, daß die ganz und gar subjektive Wahrnehmung der Poesie die einzig wahrhafte Aufschreibungsmethode in diesem unsicheren Grenzgebiet ist. Nur die instinktive Beeindruckung durch den Gegenstand der Beobachtung kann zu etwas Objektivem führen. Und da Marcel Beyer offenbar auch etwas von Musik versteht, sind seine Gedichte Sprach-Kompositionen. „Die Schrift im geläufigen Sinn ist toter Buchstabe, sie trägt den Tod in sich. Sie benimmt dem Leben den Atem“, heißt es in einer Rousseau-Replik bei Derrida. In Gedichten, wie sie in Marcel Beyers Erdkunde stehen, ist das Gegenteil der Fall – sie bringen diese andere Welt ans Licht und zum Klingen, wenn auch der Klang manchmal dunkel ist. Diese andere Welt erhält in den Gedichten von Marcel Beyer eine Anschaulichkeit und Plastizität, die ein vollständiges Gegenbild entwickelt zu der ideologisch stabilisierten Realität, wie wir sie aus der Zeitung erfahren, wenn von Ostdeutschland oder dem „Osten“ die Rede ist. Wie der Dichter in seiner „Erdkunde“ verschiedene ineinander verschlungene Motivketten, wie er Vergangenes und Gegenwärtiges ineinander blendet, wie er Reime und Binnenreime einsetzt, um das Tempo zu drosseln oder die Aufmerksamkeit zu steigern, wie er Traum und Tagtraum zu einem metaphorischen Rätsel verknüpft, das sich erfolgreich der kritischen Auflösung widersetzt – und wie er bei all dieser Kunstleistung als Dichter und Arrangeur seines Sprachmaterials hörbar bleibt und an Kontur und Physiognomie gewinnt – das alles macht diesen Band zu einem Ereignis. Denn wer nur die Form beherrscht, verfällt in einen stumpfen Historismus, der uns kalt läßt; auch die Form muß Gegenstand der Bearbeitung werden.
Je mehr Lyrik man liest, hat es sinngemäß Joseph Brodsky einmal ausgedrückt, desto intoleranter wird man gegen Weitschweifigkeit jeder Art – ich muß also dringend zum Schluß kommen.
„Das Denken ist das Zweitschönste“, las ich kürzlich (bei Pascal Mercier), „das Schönste ist die Poesie.
Wenn es das poetische Denken gäbe und die denkende Poesie – das wäre das Paradies.“

Brauchen wir Gedichte? hatten wir eingangs gefragt.
Ja, natürlich, solche wie sie in Erdkunde stehen, lautet die kurze Antwort.
Herzlichen Glückwunsch zum Erich-Fried-Preis.

Michael Krüger, Laudatio Erich-Fried-Preis, 26.11.2006 in Wien

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Michael Braun: Augenzeuge in den Oststeppen
Frankfurter Rundschau, 20. 3. 2002

Michael Braun: Ein Augenzeuge, der hellwach durch die Oststeppen streift
Basler Zeitung, 20. 9. 200

Beatrix Langner: Aus der Bilderzone
Neue Zürcher Zeitung, 18. 4. 2002

Nico Bleutge: Ohne Schutzhelm in die Sprache
Badische Zeitung, 18. 5. 2002

Christoph Bartmann: In der Ackermanngegend
Süddeutsche Zeitung, 20. 7. 2002

Sebastian Kiefer: Das Gedicht als ‚Kameraauge‘
Neue Deutsche Literatur, Heft 1, 2003

Anastasia Simopoulos: Verknöchertes Erinnern
Rheinischer Merkur, 13. 3. 2003

Heinrich Detering: Das lyrische Hammerklavier. Notizen zur Lage der Poesie
Merkur, Heft 644, Dezember 2002

 

Wespenstiche und Bienenbilder.

– Zum Rhythmus des modernen Gedichts bei Francis Ponge, Thomas Kling und Marcel Beyer. –

Wespenstiche
„Hyménoptère au vol félin, souple“1 [Hymenoptera in katzenhaftem Flug, geschmeidig (A. G.)], so beginnt Francis Ponge sein langes Prosagedicht „La guèpe“ aus dem Band La rage de l’expression, geschrieben zwischen 1939 und 1943. Mit dem Begriff der Hymenoptera greift er auf die klassische biologische Ordnung der Insekten zurück, bei denen die Hautflügler neben Käfern, Schmetterlingen und Zweiflüglern eine der vier großen Ordnungen bilden. Der Fachbegriff Hymenoptera, der auf Linné zurückgeht, dient ihm jedoch keinesfalls zu einer klassifikatorischen Darstellung der Wespe etwa im Unterschied zu den benachbarten Arten der Bienen oder Hornissen. Was Ponge interessiert, ist vielmehr das metaphorische Potential, das es ihm erlaubt, die typischen Merkmale der Wespe mit denen des Dichters in Verbindung zu bringen.

Elle semble vivre dans un état de crise continue qui la rend dangereuse. Une sorte de frénésie ou de la forcènerie – qui la rend aussi brillante, bourdonnante, musicale qu’une corde fort tendue, fort vibrante et dès lors brûlante ou piquante, ce qui rend son contact dangereux.2

[Sie scheint in einem fortgesetzten Zustand der Krise zu leben, der sie gefährlich macht. Eine Art Raserei oder Wahnsinn – die sie auch genial, summend, musikalisch wie eine stark gespannte Saite macht, stark vibrierend und daher brennend oder stechend, was den Kontakt zu ihr gefährlich macht. (A. G.)]

Die permanente Krise und Gefährlichkeit, die sich in ihrem Flug abzuzeichnen scheint, die „frénésie“ und „forcènerie“, die die Wespe in eine Nähe zum dichterischen Enthusiasmus stellen, und schließlich die ihr eigene Musikalität stellen eine Analogie zwischen der Wespe und dem Dichter dar, die sich im Moment des Stiches vollendet:

Et si ça touche, ça pique.3 [Und wenn es berührt, dann sticht es. (A. G.)]

Das toucher, die schon in der antiken Rhetorik begründete Form des movere, des Berührens, das die Dichtung auszeichnet, zeigt sich bei der Wespe in der Form des Stiches als eines körperlichen Kontakts der schmerzhaften Unmittelbarkeit. Dichtung kann und soll berühren, treffen, stechen. Am Ende seines Textes macht Ponge klar, dass das, was ihm in seinen scheinbar ungeordnet hingeworfenen Aufzeichnungen von der Kritik vorgeworfen werden könnte, „l’allure saccadée de ses notes, leur présentation désordonnée, en zigzags4 [die abgehackte Bewegung ihrer Aufzeichnungen, ihre unordentliche Präsentation, im Zickzack (A. G.)], dem unruhigen Flug der Wespe entspricht, dem er die Bewegungen des eigenen Textes angeglichen hat. Sein Gedicht will Ponge wie einen Wespenflug verstanden haben, unruhig, unberechenbar, jederzeit mit der Gefahr des Stiches verbunden. In „La guèpe“ errichtet Ponge eine Analogie zwischen dem Dichter und der Wespe, die in ihrer metaphorischen Ausformung nicht nur bis zu Vergils berühmter Darstellung der Genese der den Wespen nahestehenden Bienen im vierten Buch der Georgica zurückgehen kann, sondern die auch im 20. Jahrhundert Schule gemacht hat.
Ponge ist nicht der Einzige geblieben, der sich im Medium des Gedichts mit den Wespen auseinandergesetzt hat. In seinem Gedichtband Life and Art hat Michael Hamburger das Wespennest als „Meisterwerk / Aus dem gewöhnlichsten Material“5 dargestellt, als ein Kunstwerk, das im Fall der Wespe aus Holzstaub, im Fall des Dichters aus Sprache besteht. Die Übertragung der skulpturalen oder architektonischen Kunst der Wespe auf die Spracharbeit des Dichters dient Hamburger in ähnlicher Weise wie Ponge zu einer poetologischen Selbstreflexion, die am Ende in der Frage mündet, ob er das Kunstwerk der Wespen vor dem Fenster beseitigen soll oder nicht, ohne dass diese eine eindeutige Beantwortung finden würde. An ihre Stelle tritt eine eigentümliche Verhältnisbestimmung von Religion, Biologie und Kunst, die offen lässt, was mit dem Wespennest geschieht:

Mit Lob- und Segensgesang widersetzt aus Assisi
Eine einsame Stimme sich dem Befund und den Thesen,
Die mit der Fracht der Beagle auf uns gekommen sind.
6

Die Stimme aus Assisi scheint über den Kampf ums Überleben die Oberhand zu behalten, den Wespen auch im Lebensraum des Menschen zumindest die Möglichkeit des Überlebens gesichert zu werden. Die Dichtung findet damit einen anderen, ihnen freundlicheren Zugang zu den Wespen, als es die Naturwissenschaften vermögen.
Ein Freund der Wespen war auch Thomas Kling. Geradezu legendär ist nicht nur der schwarz-gelb gestreifte Pulli, der Kling schon auf Bildern früher Lesungen zeigt und ihn selbst in eine Wespe zu verwandeln scheint. Die Wespe gilt ihm auch in seinen poetischen Texten geradezu als Emblem der eigenen Dichtung, als das Banner, das er vor sich herträgt und nach außen zeigt. Noch in den Gedichten der 1990er Jahre hält Kling an der emblematischen Figur der Wespe fest:

ihr hinterleib in ständiger bewegung, und in bewegung ihre fühler mit
dem schwarzen haar, die sie mit schwarzen füßen ständig wieder putzen
muß, wobei der schwarze kopf, ihr dunkles wespenhaupt, gesenkt muß

werden. mit fühlern und mit schwarzen zangen versucht die wespe im
oktober das schwarze zifferblatt zu knacken; mit gutgeputzten fühlern
gutgeputzen zangen will sie die zeit, die hinter panzerglas an meinem

handgelenk, einfangen, die wespe achtet nicht des worts, den träger von
der armbanduhr, den träger schauerts, von frösteln, kaltem herbst spür-
bare spur.
7

Wie Francis Ponge, so hält auch Thomas Kling zunächst die stets bedrohliche Bewegung der Wespe fest, ihre beständige Unruhe, die sich umstandslos auf den Dichter zu übertragen scheint, der von kalten Schauern durchrieselt wird, als sich die Wespe an seiner Armbanduhr zu schaffen macht. Den Angriff der Wespe auf das Zifferblatt seiner Uhr begreift Kling zugleich als einen Angriff auf die Zeit, der selbst eingebettet ist in die Jahreszeit des Herbstes, die das Gedicht melancholisch aufruft. Klings „oktoberwespe“, die „die uhr zu knacken sucht“,8 steht so für die Unmöglichkeit ein, die Zeit aufzuhalten, wie für die Fähigkeit der Dichtung, Zeit zu kondensieren, zu einem Moment der Intensität – ganz wie ein Stich – zu versammeln. Mit dieser Auffassung von Dichtung als sprachlicher Speicher von Zeit und Geschichte – „Gedicht ist Gedächtniskunst“,9 heißt es schon kurz und bündig in Itinerar – hat Kling einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf die Dichtung der Gegenwart ausgeübt, insbesondere auch auf den von ihm bereits früh protegierten Marcel Beyer.

Wespenmund
Dass Thomas Kling und Marcel Beyer sich nahestanden, als Freunde wie als Dichter, ist kein Geheimnis. Sie haben sich wechselseitig Hommagen erwiesen, in ihren Werken immer wieder aufeinander Bezug genommen, bis der Dialog durch den Tod Klings 2004 jäh unterbrochen wurde. So beginnt auch der Gedichtband Graphit mit einem Porträt Thomas Klings als „Schneimeister“,10 der mit lässiger Hand vorführt, „wie man in / Neuss am Rhein / Maschinenschnee zu / Schneekunst macht“ (Gph S. 8). Die Gedichte „Timide, Timide“ und „Wacholder“ hat Beyer im Anhang selbst als Hommagen an Kling kenntlich gemacht, so dass der gesamte Band nicht nur, aber eben zu wesentlichen Teilen auch als eine Auseinandersetzung mit dem Erbe Klings zu verstehen ist. Wenn Marcel Beyer in Graphit das Gedicht „Wespe, komm“, als eine schon durch das Thema der Wespe deutlich erkennbare Hommage an Thomas Kling aufnimmt, dann kann auch er an die Bestimmung der Dichtung als Wespenstich bei Ponge, Kling u.a. anschließen

WESPE, KOMM

Wespe, komm in meinen Mund,
mach mir Sprache, innen,
und außen mach mir was am
Hals, zeigs dem Gaumen, zeig es

uns. So ging das. So gingen die
achtziger Jahre. Als wir jung
und im Westen waren. Sprache,
mach die Zunge heiß, mach

den ganzen Rachen wund, gib mir
Farbe, kriech da rein. Zeig mir
Wort- und Wespenfleiß, machs
dem Deutsch am Zungengrund,

innen muß die Sprache sein. Immer
auf Nesquik, immer auf Kante.
Das waren die Neunziger. Waren
die Nuller. Jahre. Und: so geht das

auf dem Land. Halt die Außensprache
kalt, innen sei Insektendunst, mach
es mir, mach mich gesund,
Wespe, komm in meinen Mund.
(Gph S. 125)

Thomas Kling, der europäische Wespendichter: Marcel Beyer hat das Gedicht in dem von Thomas Geiger herausgegeben Band Laute Verse selbst kommentiert und als Hommage an Kling verstanden haben wissen wollen. Dementsprechend hat schon Tobias Lehmkuhl in einer Rezension in der Zeit in dem Gedicht entsprechend „die wohl tiefste Verbeugung vor dem Freund“11 erkannt, und Lothar Müller spricht in der Laudatio anlässlich der Verleihung des Bremer Literaturpreises an Marcel Beyer von einem „Totengespräch“ mit Thomas Kling.12 Beyer selbst betont in seinen Ausführungen zunächst die Scheu, das emblematische Tier des europäischen Wespendichters Kling im Gedicht einzufangen, die Scheu vor einem Sakrileg, das er zu begehen scheint, wenn er in dessen eigenen Bereich hereingreift:

Die Vorstellung aber, Thomas Klings Leitinsekt anzurufen und die von ihm durchschwirrten Verse vor Publikum zu Gehör zu bringen, ließ mich stocken.13

Erst ein zweites Moment konnte diese Scheu überwinden: Als Auftragsarbeit für den Musiker Enno Pappe, eine Textvorlage mit möglichst ein- oder zweisilbigen Wörtern zu erstellen, gewann „Wespe, komm“, bis zu seiner in Graphit aufgenommenen Form allmählich Kontur.
Beyer hat sich an die ihm gemachten Vorgaben einer möglichst einfachen Textvorlage gehalten und diese zugleich überschritten. Das Gedicht besteht aus fünf vierzeiligen Strophen, die jeweils durch Enjambements miteinander verbunden sind. Bis auf die letzten beiden Zeilen, die dadurch ein besonders Gewicht bekommen, verzichtet das Gedicht auf Reime. Die liedhafte Einfachheit der Form macht sich auch in der geforderten Ein- oder Zweisilbigkeit der Wörter bemerkbar, die im weiteren Verlauf des Gedichtes aber zunehmend aufgebrochen wird zugunsten von mehrsilbigen Neologismen: die Ausdrücke „Wort- und Wespenfleiß“, „Zungengrund“ und „Insektendunst“ deuten an, dass die einfachen Silbenbausteine allmählich komplexere Strukturen annehmen, so als würde sich die dichterische Freiheit allmählich aus dem vorgegebenen Korsett schälen und die dichterische Form erst in der Spannung zwischen Vorgabe und Variation zu sich finden.
Schon der Titel des Gedichts deutet darüber hinaus einen imperativischen Gestus an. Das titelgebende „komm“ ergänzt der Text um die weiteren Aufforderungen „mach“, „gib“, „zeig“, „halt“. Beyer nimmt damit einen Gestus ein, den er schon in früheren Gedichten durchgespielt hat. Bereits das Gedicht „Bienenwinter“ aus dem Band Erdkunde beginnt mit der Aufforderung „Geh du zum Bienenwagens,14 „geh du nach Farben“. (Ek S. 101) Später heißt es dort:

Stirb mir, Genosse, stirb mir
nicht den Imkertod
(Ek S. 104)

Mit diesem imperativischen Gestus nimmt das Gedicht zugleich die Tradition der klassischen Moderne auf, wie sie paradigmatisch in Stefan Georges „komm in den totgesagten park“ zum Ausdruck gekommen ist. Wie bei George, bei dem das „komm“, „schau“, „nimm“, „erlese“, „küsse“, „flicht“ und „verwinde“15 als Chiffren für die Arbeit des Dichters stehen, so handelt es sich bei Beyers „Wespe, komm“ um ein poetologisches Gedicht, um ein Gedicht, das die Frage erörtert und vorführt, wie Gedichte zu verfertigen sind.
Die poetologische Bestimmung des Gedichtes im Zeichen einer Anrufung der Wespe als Inspirationsquelle – „Wespe, komm in meinen Mund“ – geht mit einer Selbstreflexion einher, die sich in den Prosasätzen des Gedichtes zugleich als Reflexion der Geschichte zu erkennen gibt.

So ging das. So gingen die
achtziger Jahre. Als wir jung
und im Westen waren

Die elliptische Form der Sätze deutet einen lakonischen Umgang mit der Zeitgeschichte an, der wiederum an Thomas Kling erinnert. Der Rückgang auf die achtziger Jahre, auf die Zeit vor der Wende im Westen, verbindet autobiographische Momente mit der Chiffre Zeitgeschichte, die von den achtzigern bis zu den nuller Jahren aufgerufen wird:

Das waren die Neunziger. Waren
die Nuller. Jahre

Was die Zeit der achtziger bis zu den nuller Jahren gekennzeichnet hat, bleibt vordergründig offen. Im Rahmen der poetologischen Bestimmung des Gedichtes als Frage nach der Stimme der Dichtung heute, und das heißt auch nach dem Tod Thomas Klings, lässt sich der Rückblick jedoch zugleich als Rekapitulation jüngst vergangener Dichterstimmen verstehen. Was Beyer in dem Rückblick auf die jüngste Vergangenheit aufruft, ist, wenn man so möchte, ein musikalischer und dichterischer Sound, der Sound der achtziger, der neunziger und der nuller Jahre, der geprägt worden ist von Thomas Kling, von Barbara Köhler und Ulrike Draesner, von Durs Grünbein, und eben, bei aller Bescheidenheit, von Marcel Beyer selbst.
Das Gedicht gibt sich so in einem doppelten Sinne als Anrufung der Musen zu erkennen: als Anrufung der Wespe, die auf deutlich erotisch konnotierte Weise in die Mundhöhle eindringt und das Sprechen poetisch verändert, und als Anrufung des europäischen Wespendichters Thomas Kling als einer zentralen Inspirationsquelle, der sich das Gedicht noch einmal trauernd vergewissert: Der abschließende Reim „mach mich gesund, / Wespe, komm in meinen Mund“, der durch den Paarreim eine eigentümliche Rundung und Geschlossenheit herstellt, verweist auf einen Heilungsprozess, der eben in der Trauerarbeit des Gedichts selbst besteht, das als Hommage an Thomas Kling diesem verpflichtet bleibt und aus der Erinnerung an ihn heraus eine Form der Dichtung hervorbringt, die zwar von ihm inspiriert ist, sich aber dennoch von ihr unterscheidet.

Bienenbilder

Er macht gerne mit der Sprache rum.16

Das waren Thomas Klings gewohnt unkonventionelle Worte für Marcel Beyers Dichtung. Sie verraten ebenso viel über Beyers wie über Klings eigene Auffassung der Dichtung: mit der Sprache rummachen als Bestimmung einer Dichtung, die ihre Intensität aus einer Bindung an die Sprache gewinnt, die zugleich dazu bereit ist, Regeln und Grenzen – der Syntax, der Orthographie etc. – zu überschreiten. Diese Bestimmung des in gewisser Weise erotischen Verhältnisses des Dichters zur Sprache, das die Dichtung seit der Antike auszeichnet, verbindet Kling in seinem kurzen Text „Das kommende Blau. Über Marcel Beyer“ mit dem Thema der Rhythmizität: „der rhythmische Forensiker der Gegenwartsliteratur“17 sei Marcel Beyer, und allein „die Rhythmizität der Liebenden“18 sei es, die solche Gedichte wie die von Beyer möglich mache. Thomas Klings Liebeserklärung an Marcel Beyer – wenn Liebe die gemeinsame Bindung an die Sprache heißen darf –, der in „Wespe, komm“ die liebende und eben daher auch trauernde Erwiderung folgte, verweist auf ein zentrales Moment der Dichtung, das aus theoretischen Bestimmungen moderner Lyrik allzu oft herausfällt; auf den Zusammenhang von Rhythmus und Poesie. Wer von Rhythmus spricht, der spricht von der Form der Dichtung, aber von einer besonderen Form der Form, von der Form in Bewegung. Das hat bereits Émile Benveniste in seinen wegweisenden Überlegungen zu La notion de ,rythme‘ dans expression linguistique herausgearbeitet. Benveniste zufolge bezeichnet der Ausdruck Rhythmus im Unterschied etwa zu dem des von der antiken Philosophie bevorzugten Begriffs des Schemas „la forme improvisée, momentanée, modifiable“19 [die improvisierte, augenblickliche und veränderbare Form (A. G.)] und zugleich „l’ordre dans le mouvements20 [die Ordnung in der Bewegung (A. G.)], eine geordnete Form der Bewegung also, die sich in der Sprache überhaupt und nicht zuletzt eben in der Dichtung auf besondere Weise zeige. So konnte Henri Meschonnic in seinen Arbeiten zur Poetik den Begriff des Rhythmus, wie ihn Benveniste in die Sprachwissenschaft eingeführt hat, über die Linguistik hinaus auf die moderne Dichtung erweitern. In seiner monumentalen und bis heute über die Grenzen Frankreichs kaum rezipierten Arbeit Critique du rythme aus dem Jahr 1982 hat Meschonnic den Rhythmus als Ausgangspunkt einer Poetik zur Geltung gebracht, der es im Unterschied zu strukturalistischen und poststrukturalistisehen Modellen um den in der Sprache wirksamen Zusammenhang zwischen Sinn und Subjekt geht:

Si le sens est une activité du sujet, si le rythme est une organisation du sens dans le discours, le rythme est nécessairement une organisation ou configuration du sujet dans son discours. Une théorie du rythme est donc une théorie du sujet dans le langage. Il ne peut pas y avoir de théorie du rythme sans théorie du sujet, pas de théorie du sujet sans théorie du rythme. Le langage est un élément du sujet, l’élément le plus subjectif, dont le plus subjectif à son tour est le rythme.21

[Wenn die Bedeutung eine Aktivität des Subjekts ist, wenn der Rhythmus ein Aufbau von Bedeutung in der Rede ist, dann ist der Rhythmus notwendigerweise ein Aufbau oder eine Konfiguration des Subjekts in seiner Rede. Eine Theorie des Rhythmus ist also eine Theorie des Subjekts in der Sprache. Es kann keine Theorie des Rhythmus ohne eine Theorie des Subjekts geben, keine Theorie des Subjekts ohne Theorie des Rhythmus. Die Sprache ist ein Element des Subjekts, das subjektivste Element, dessen subjektivstes wiederum der Rhythmus ist. (A. G.)]

Meschonnic begreift den Rhythmus in scharfer Abgrenzung zum linguistischen Begriff des Zeichens im Anschluss an Benveniste als Ausdruck der Subjektivität in der Sprache, diese nicht verstanden als System von Zeichen, sondern als Diskurs im Sinne einer Sprache, die in Bewegung versetzt ist. Benveniste wie Meschonnic zufolge konstituiert sich das Subjekt erst in der Sprache, jedoch nicht in einem lacanianischen Gleiten unter den Signifikanten, sondern in der einfachen Weise des Ich-Sprechens, die nicht nur in der Poesie zur Geltung kommt, sondern in jeder Form der Sprachverwendung. Die Aufgabe einer Theorie des Rhythmus, die Meschonnic von Fragen der Metrik im engeren Sinn getrennt wissen will, besteht dementsprechend darin, die dichterische Form nicht als in sich verfestigte Einheit zu begreifen, sondern als Ausdruck einer in sich geordneten Form der sprachlichen Bewegung, die zugleich das auch für Thomas Kling entscheidende Moment der Stimmlichkeit mit sich führt. Den Rhythmus insbesondere der modernen Dichtung, von Baudelaire, Rimbaud, Mandelstam bis zu Celan, herauszuarbeiten, ist die Aufgabe, der Meschonnic sich gewidmet und die er hinterlassen hat.
Klings Bezeichnung Marcel Beyers als rhythmischer Forensiker der Gegenwartsliteratur trifft mit dem Rhythmus demnach einen Kern dessen Arbeit im Sinne von Meschonnic: die eigentümliche Stimme Marcel Beyers, die sich, weniger schroff, nicht immer auf Kante, durchaus von der Thomas Klings unterscheidet. Was Kling und Beyer verbindet, ist die „Einbeziehung aller Medien“, die Kling schon in Itinerar gefordert hat. Bei Beyer macht sich diese Forderung aber anders bemerkbar, in der Einbeziehung populärer Musik etwa, die in Graphit in den zahlreichen Anspielungen auf Musiker wie Don Cosmic alias Don Drummond oder Slim Shady alias Eminem deutlich wird oder in Gedichttiteln, die Songs zitieren wie „California Girls“. Beyers Coverversion von Trakl in „An die Vermummten“, die zugleich die frühe Arbeit „Verklirrter Herbst“ aus Falsches Futter aufnimmt, die musikalische Technik des Samplings, die Johann Rißer an Brinkmann und Kling herausgearbeitet hat, aber auch für Beyer geltend zu machen wäre, sowie die zahlreichen Rückbezüge auf die klassische Moderne, in Graphit etwa auf Ezra Pound, Robert Walser, Elias Canetti und Robert Musil, geben Marcel Beyers Gedichten eine eigentümliche Prägung, in der, wie auch in den Romanen, mediale Formen der Gegenwart als Träger der Erinnerungsarbeit fungieren. Und wie bei Kling ist diese Erinnerung meist an bestimmte Orte gebunden, zwischen Neuss und Dresden, Rustschuk und Sankt Petersburg, an Orte, die Geschichte in sich gespeichert haben, die es im Gedicht freizusetzen gilt. Dass Beyer diese archäologische Arbeit an der Sprache weniger forciert vollzieht als Kling, weniger polemisch und weniger aggressiv als dieser, macht den Unterschied zwischen ihnen aus. Wie Kling, so beschwört Beyer zwar die Wespe und in ihr den Dichter Kling als Inspirationsquelle. In seiner eigenen Arbeit beansprucht die Biene jedoch den gleichen Raum wie die Wespe. Schon bei Ponge überlagern sich im Block auf die Ordnung der Hymenoptera Wespen und Bienen:

Qu’est qu’on me dit? Qu’elle laisse son dard dans sa victime et qu’elle en meurt?22 [Was sagt man mir? Dass sie ihren Stachel im Opfer zurücklässt und daran stirbt? (A. G.)]

Der Unterschied zwischen dem Wehrstachel der Biene, die den ihren zurücklässt, und dem der Wespe, die sticht und ihren Stachel behält, verwischt Ponge in seinem Gedicht. Kling und Beyer sind in ihren Texten dagegen um Präzision bemüht, eine Präzision, die bei Beyer die Biene ebenso sicher erfasst wie die Wespe:

Geh du zum Bienenwagen,
tiefer in den Wald, ins
Unterholz, Honig im Kopf,
bis du die Kästen leuchten

siehst. Die Honigbiene kennt
den Menschen nicht,
rotblind, sie orientiert sich
nicht an dir, sie kennt

die Birken und Robinien,
Buchweizenwiesen. Aber
Du hörst doch, wie sie
Spricht: geh du nach Farben
. (Ek S. 101)

Der Weg des Dichters, „Honig im Kopf“, führt in den Wald zu den Bienen. Die Aufmerksamkeit gilt den unterschiedlichen Weisen der Wahrnehmung, der Farbblindheit der Wespen und der eigenen Orientierung an der Farbe, um zum gesuchten Ziel zu kommen. Trotz dieser Differenz kommunizieren die Biene und der Dichter:

Du hörst doch, wie sie
Spricht: geh du nach Farben

Und wie in „Wespe, komm“, so folgt der Dichter der Aufforderung der Biene:

Ich geh nach Farben, geh ein
Stück, das zwanzigste
Jahrhundert: Bienenbilder
(Ek S. 111).

In seiner Sammlung kurzer Erzähltexte Putins Briefkasten geht Beyer auf eine unverhoffte Buchentdeckung ein, einen „Glücksgriff“,23 wie er es nennt, auf Liselotte Getterts Mein Bienenjahr. Ein Arbeitskalender für den Imker. Um einen Glücksgriff handelt es sich, weil Beyer Getterts Arbeitskalender als Poetik versteht:

Wir imkern nicht, wir machen keinen Honig, wir sammeln weder Honigtau noch Pollen – und ebendarum lesen wir Mein Bienenjahr als konziser kaum vorstellbares Werk, das uns etwas über das Schreiben sagt und zugleich vorführt, wie Schreiben vonstatten gehen kann. (PB S. 136)

Der Schriftsteller geht bei der Imkerin in die Lehre:

Imkern, das weiß ich mittlerweile, ist Schreiben ohne Text (PB S. 154).

Wespenstiche und Bienenbilder: Beyers dichterische Arbeit folgt, in der Erinnerung an den europäischen Wespendichter Thomas Kling, beiden und gewinnt so den Rhythmus einer eigenen Stimme, von der schon Kling sagte, es sei „die Rhythmizität des Liebenden, der solche Gedichte schreiben kann“.24

Achim Geisenhanslüke, aus Christian Klein (Hrsg.): Marcel Beyer. Perspektiven auf Autor und Werk, J.B. Metzler Verlag, 2018

Das Pathos der Sachlichkeit

– Gespräch mit Marcel Beyer. –

Marcel Beyer gilt spätestens seit seinem Roman Flughunde (1995) als einer der Maßstäbe setzenden jungen Autoren Deutschlands. „Man wird schwerlich in der Gegenwartsliteratur einen Autor finden, der den Verheerungen, die die Jahre 1933 bis 1945 in den deutschen Gemütern hinterlassen haben, mit solcher Sensibilität und Beharrlichkeit nachgeht wie der zwanzig Jahre nach Kriegsende geborene Marcel Beyer“, schreibt Ernst Osterkamp über Flughunde. Sigrid Löffler bezeichnet Flughunde als ein „medientheoretisches Kunststück – im politisch-dokumentarischen Stil, vor einem grausamen Märchenhintergrund“. „Marcel Beyer macht das, was alle gute Literatur tut: er macht Fiktion plausibel – so könnte es gewesen sein“, sagt Andrea Köhler. „Und er nähert sich diesem deutschen Thema, das auf der Tonspur der Lippenbekenntnisse noch immer das Echo des Schweigens mitführt, mit einer Nüchternheit, die den brüllenden Wahnsinn, den sie beschreibt, von selbst diskreditiert.“ Begonnen hat Beyer allerdings als Lyriker. Michael Braun sagt über Marcel Beyers Gedichtband Erdkunde (2002):

Marcel Beyer schreibt Gedichte, die nicht von der Fremdheit der Phänomene erlasen, sondern… mitten in ihr ,Geheimnis‘ hineinführen. Hier wird in großer Eindringlichkeit über Geschichte gesprochen – in Gedichten, die gleichermaßen aus Benennen und Verschweigen bestehen.

Marcel Beyers unter dem Titel Nonfiction herausgegebene gesammelte Essays und Reden, in denen er den Ansatz der eigenen Literatur in Roman und Gedicht erkundet, haben für Daniel Sundermann die „Qualität seiner Romane. Der Zweifel zeichnet sie aus, der Wille, sich nicht überrumpeln zu lassen – von der Sprache der anderen sowenig wie von der eigenen.“ Während zahlreiche Autoren nach der Vereinigung vom Osten in den Westen Deutschlands umsiedelten, gibt Beyer ein prominentes Gegenbeispiel 1996 zog er von Köln nach Dresden.

Ich traf Marcel Beyer am 20. September 2003 im Garten seines Ateliers in Dresden-Pieschen. Wir tranken Tee zusammen, zündeten eine Zigarette an der anderen an und waren über die ganze Zeit hin sehr entspannt. Zunächst sprachen wir über den soeben erschienenen Band Nonfiction, etwa über das Anzweifeln von Autoritäten, über die Suche nach einer anderen Art politischer Literatur, über die Frage, wie es gelingen könnte, T.S. Eliots Four Quartets originalgetreu zu übersetzen, ohne daß das heutige Sprachverständnis den Text verfremdet. Im weiteren Gespräch gab Beyer ausführlich Einblick in die bei der Arbeit am Roman Flughunde zu lösenden formalen und inhaltlichen Probleme. Flughunde ist auch der Versuch, eine historische Person wie Goebbels „aus dem Bereich des rein Historischen und Dämonischen herauszuholen“ und dem Leser, jenseits der Klischees, einen eigenen Zugang zur Geschichte zu eröffnen. Während des Gesprächs wird mir deutlich, mit welchem Fleiß und mit welcher Akribie Marcel Beyer sich seine zumeist geschichtlichen Themen erarbeitet. Das von Beyer mehrfach beschworene „Pathos der Sachlichkeit“ ist nicht nur ein formaler Aspekt bei der Erarbeitung und Vermittlung des Stoffes, es schafft auch eine scheinbar vertrauliche Ebene zwischen Autor und Leser.

Axel Helbig: Herr Beyer, von Ihnen ist zuletzt der Band Nonfiction erschienen, ein Buch, das Essays, Reden und Selbstauskünfte versammelt. In Nonfiction spricht nicht der Literaturwissenschaftler und Germanist Marcel Beyer. Bemerkbar ist ein bewußter Verzicht auf Intellektualisierung. Der Ton ist mitunter nahezu feuilletonistisch. Die Herangehensweise ist oft eine sinnliche: Riechen, Hören, Sehen, Schmecken werden als Voraussetzungen Ihrer Literatur beschrieben. Kann man den Titel Nonfiction auch als eine Art Versprechen auffassen: Hier ist alles wahr und authentisch, das ist der unverstellte, der unverdeckte und ungeschützte Marcel Beyer?

Marcel Beyer: Ja, das ist die Frage. Als der Plan da war, in einem Band kürzere Texte aus den letzten sieben, acht Jahren zu versammeln, überlegte ich, welchen Titel ein solches Buch tragen könnte, da es sich ja nicht nur um Aufsätze zur Literatur handelt, sondern zum Beispiel auch um Texte, die meinen Umzug vom Westen in den Osten thematisieren, oder Texte über arabische Musik. Außerdem mache ich einen Unterschied zwischen Aufsatz und Vortrag, was die Form des Sprechens angeht, etwa die Konstruktion und Länge der Sätze, je nachdem, ob ein Text nun im Vortrag gehört oder leise gelesen wird. Am liebsten, dachte ich, wäre mir ein Haupttitel, unter dem sich jeder Untertitel erübrigt. Nonfiction war dann ein passender Zufallsfund. In diesem Zusammenhang stellte ich mir auch die Frage, warum eigentlich Gedichte im Buchhandel unter fiktionaler Literatur eingeordnet werden. Das begreife ich immer weniger, weil ein Gedicht im eigentlichen Sinne nichts apriori Fiktionales ist. Erst als beschlossen war, den Band Nonfiction zu nennen, kam die Überlegung: Wie ehrlich ist eigentlich dieser Titel. Denn, es geht ja in machen Texten des Buches auch um die Beobachtung, daß ich, sobald ich die drei Buchstaben  I C H  hinschreibe, beginne, dieses Ich zu beobachten und als Figur zu betrachten. Selbst wenn mein Schreiben auf Authentizität abzielt, gelingt es selten, dieses Ich nicht als jemand anderen zu sehen, dem ich zuschaue. Insofern ist dieses Buch nicht die Aufklärung aller Geheimnisse. In einigen Essays erlaube ich mir, Hypothesen oder „spinnerten“ Thesen nachzugehen, die ich nie ernsthaft vertreten würde. Das sind Versuche des Auskundschaftens von Möglichkeiten.

Helbig: Manche Texte erinnern in der Art und Weise der Selbstauskunft an den von Ihnen auch als Vorbild bezeichneten Michel Leiris, ich denke hier vor allem an den Text „Spucke“ der die Offenlegung von Arbeitstechniken zum Thema nimmt und in völliger Aufrichtigkeit vom Scheitern eines Gedichtprojektes spricht.

Beyer: Natürlich entspricht es in diesen Texten einer Grundhaltung, daß ich, also der Verfasser, nicht lüge. Aber auch bei dem Versuch, so aufrichtig wie möglich zu sein, kann ein fiktionales Moment nie ganz ausgeschaltet werden. Man stellt Zusammenhänge her und baut Brücken zwischen Elementen, die für sich authentisch sind. Diese Brücke ist dann aber etwas Fiktionales. Zum Beispiel hat es die Ansätze zu einem Gedicht mit dem Titel „Spucke“ tatsächlich gegeben. In der Rückschau, im Blick auf diese abgebrochene Arbeit aber geraten Dinge mit ins Bild, die mir während der Arbeit nicht gegenwärtig waren. Oder: Es gibt einen Text im Buch, wo ich in Marokko auf der Straße Musik des Sängers Hasni höre und ein bestimmtes Musikstück beschreibe. Dieses Stück habe ich in Wirklichkeit aber erst viel später, zu Hause, gehört. Das zur Verschränkung von Fiktion und Nonfiction beim Schreiben. Bei Michel Leiris, der sich den Grundsatz äußerster Aufrichtigkeit auferlegt hatte, gibt es in seinen autobiografischen Schriften ein ganz zentrale Moment, wo deutlich wird, daß Leiris diese Aufrichtigkeit nur möglich wird, indem er ein Geheimnis umkreist, welches er nie ausspricht. Dieses Geheimnis ist die Herkunft seiner Frau. In der Öffentlichkeit galt sie als Nichte der Frau des berühmten Kunsthändlers Kahnweiler, dessen Galerie sie später leitete. Tatsächlich war sie aber nicht Nichte, sondern geheime Tochter. Dieses Geheimnis ist erst nach dem Tod von Leiris und seiner Frau gelüftet worden. Leiris hat sich in seinen Texten stets an diese Abmachung zwischen Tochter und Mutter gehalten und dieses Geheimnis bewahrt. Seine Aufrichtigkeit betraf nur die eigene Person, ihm ging es nicht ums Enthüllen der Geheimnisse anderer. Aufrichtigkeit ist eben nicht dasselbe wie Rücksichtslosigkeit.

Helbig: In dem in Nonfiction enthaltenen Text der „Der blatte Volkswagen“ aber auch in anderen Texten, wird der Zusammenhang von Literatur und Gesellschaft thematisiert. Der Zusammenhang von politischer und literarischer Sprache. Sie sprechen in dem Zusammenhang von der „Suche nach einer anderen Art politischer Literatur, … in der sich das Politische auf andere Weise bemerkbar macht als in jener Literatur, die vorderhand als politische Literatur zu bezeichnen wäre.“ Welche andere Art der literarischen Auseinandersetzung ist damit konkret gemeint?

Beyer: Dafür gibt es keine allgemeingültige Lösung. Die Frage, wie sich Politik in einem Text bemerkbar macht, muß man von Text zu Text neu untersuchen. Man merkt das auch beim Lesen von älteren Texten, die im Zuge der „Verklassikerung“ zunächst als „schöne Literatur“ zur Kenntnis genommen worden sind. Erst später sind diese Texte noch einmal anders gelesen worden – vor dem Hintergrund der Frage: Wie hat der Text in seiner Zeit gewirkt? –, wobei widerständige Momente bemerkt worden sind. Zum Beispiel Hölderlin, der zunächst als eine Art Spinner abgetan worden ist und dann – zur Zeit des Ersten Weltkrieges – im Zuge der Vaterlandsverherrlichung herangezogen wurde. Später, in den 60er, 70er Jahren, begann man, in ihm den „Revolutionär“ zu entdecken. Die Lesart hat mit der jeweiligen Zeit zu tun, insofern stellt sich diese Frage immer wieder neu.
Man sieht es sehr deutlich an der DDR-Literatur, die im Westen natürlich ganz anders gelesen worden ist als im Osten. Die in den 90er Jahren um Texte von DDR-Autoren geführten Auseinandersetzungen haben dies deutlich gemacht. Texte, die im Westen als politische Texte gelesen worden sind, wurden im Kontext des Im-Westen-Lebens gedeutet.
Ein anderes Beispiel ist Francis Ponges Buch Die Seife, welches er Anfang der 40er Jahre, während der deutschen Besetzung Frankreichs, geschrieben hatte. Der Auslöser für diesen Text war das Fehlen von Seife, die Sehnsucht nach Seife. Ich sehe in dieser Arbeit aber auch eine Reaktion auf die Tatsache, daß ein offenes politisches Bekenntnis damals nicht möglich war.
Zum Politischen muß ich allgemein anfügen, daß Politik lange Zeit etwas war, das mich nicht interessiert hat, etwas, das ich mit Partei-Politik gleichgesetzt hatte. Ich schrieb dann einige Gedichte, in denen es um den österreichischen Dichter Josef Weinheber geht. Weinheber hatte einerseits, in den 30er und frühen 40er Jahren in Österreich, lokalpatriotische Kalendersprüche und Gedichte um Wein und gutes Essen verfaßt, andererseits war er bereits zu einem Zeitpunkt eingeschriebenes Mitglied der NSDAP, als diese in Österreich noch verboten war. Nach dem Vortrag eines meiner Weinheber-Gedichte kam der Germanist Peter Geist zu mir und meinte: Das war jetzt ein politisches Gedicht. Ich dachte: Politische Gedichte, das ist etwas, das mich überhaupt nicht interessiert, damit will ich nichts zu tun haben. Aber, es war klar, daß Peter Geist etwas vollkommen anderes unter einem politischen Gedicht verstand als ich. Da ist mir dieser Begriff ins Schwimmen geraten. Für mich hatte sich das bis dahin auf der Ebene des Agitprop bewegt.

Helbig: An einer Stelle zitieren Sie Michel Leiris aus dessen Tagebuch von 1968 (Zu einem an eine Pariser Mauer geschriebenen Text): „Aber was soll man davon halten: WEG MIT DEN BLUMENSTRÄUSSEN WENN DIE GESELLSCHAFT EINE FLEISCHFRESSENDE PFLANZE IST?“ Wie interpretieren Sie das? Heißt das: Die Zeit der Revolution ist keine Zeit für Dichtung?

Beyer: Das ist mehrfach gespiegelt zu sehen. Einerseits handelt es sich bei diesem Spruch um eine sehr poetische Aussage. Andererseits soll dieser schöne Vers ausdrücken: Jetzt ist keine Zeit für schöne Verse! Diese Haltung – Jetzt ist keine Zeit für schöne Literatur! – hat es Ende der 60er Jahre auch in Westdeutschland gegeben. Vor diesem Hintergrund – daß sich die schöne Literatur eigentlich rechtfertigen muß vor den gesellschaftlichen Verhältnissen, die anderes erforderlich erscheinen ließen – habe ich – ganz biografisch betrachtet – Lesen und Schreiben gelernt. Mein Vater begann 1968 zu studieren und nahm mich schon als kleines Kind mit an die Uni. Das war die Zeit, als ich meine ersten Bücher bekommen habe. Auf der einen Seite, also 68, diese ungeheuer wichtige Zeit, auf der anderen Seite aber hatten meine Eltern – zum Glück – die sogenannte schöne Literatur nie in Frage gestellt. Soll die Dichtung das Leben ändern? Solche Diskussionen um den gesellschaftlichen Nutzen von Literatur behagen mir nicht. Ein aktuelles – befremdliches – Beispiel sind die Werbeprospekte, welche VW gegenwärtig als Zeitschriftenbeilagen in Umlauf bringt. Dort werden u.a. Gedichte von Erich Fried abgedruckt. Das kam mir sofort eigenartig vor – auch die Tatsache, daß die Nachlaßverwalter von Fried dem offenbar zugestimmt haben. Andererseits erschien es mir irgendwie auch aufschlußreich, daß Erich Frieds Gedichte – obwohl er eine ganz dezidierte politische Position gegen das Establishment bezog – offenbar doch benutzbar sind. Sie sind von den richtigen aber auch von den falschen benutzbar. Meine Vorstellung von Literatur ist, daß sie überhaupt nicht benutzbar sein sollte. Aber, wenn sie nicht benutzbar ist, ist sie – in solchen Kategorien gedacht – auch nicht nützlich.

Helbig: In einem Text zitieren Sie Paul Celan aus einem Brief an seine Frau (der den Besuch einer Ausstellung kommentiert): „… ein wenig Pop, würde ich sagen, verschieden von dem, was ich mache. Aber diese Dinge werden gemacht, und ich werde das in meinen Gedichten beachten müssen, wie alles Aktuelle.“ Welche Möglichkeiten sehen Sie, mit Ihrem Schreiben auf aktuelle Entwicklungen in der Gesellschaft Zu reagieren? Wie wirkt das ,Aktuelle‘ von dem Celan sprach, auf Ihre Texte ein?

Beyer: Es wirkt intensiv auf meine Text ein, was aber nicht bedeutet, daß ich es aufgreife. Schon die Wahl gerade dieses Zitats von Paul Celan kann ja als Reaktion auf Aktuelles gelesen werden, „ein wenig Pop“. Ich arbeite immer vor dem Hintergrund gegenwärtiger Ereignisse, auch wenn diese nicht ausgestaltet, nicht einmal genannt sein müssen.

Helbig: Der in Nonfiction enthaltene Text „Wasserstandsbericht“ thematisiert diese Frage.

Beyer: Ja. Während des Hochwassers in Dresden kamen Anfragen auf mich zu, ob ich nicht etwas schreiben könne. Über diese „aktuellen, dringenden“ Anfragen habe ich mich so geärgert, daß ich bewußt auf die Bremse getreten habe und mir, wie ein störrischer Esel, extrem viel Zeit ließ, etwas über das Hochwasser zu schreiben. Dieses Widerspenstige, diese Verweigerungshaltung gegenüber dem Modischen und Aktuellen hat mich vermutlich auch zu einer Zeit, wo sich alles um das „neue Berlin“ dreht, dazu verführt, halb vergessene Ortschaften in der nordböhmischen Senke aufzusuchen und lieber darüber zu schreiben. Das alles geschieht natürlich in einem Spannungsverhältnis zu aktuellen Vorgängen. Das ist der gleiche Impuls, der mich – in einer Zeit, wo die ungenierte Ich-Aussprache regiert – dazu verführt, ein Buch Nonfiction zu nennen, in dem allerdings dieses Ich dann doch als ein fiktionales oder zweifelhaftes erscheint.

Helbig: In „Der blaue Volkswagen“ zitieren Sie u.a. Ernst Jandl, der von einer „mickrigen Haltung der Sprache gegenüber“ sprach, „mickrig“ in dem Sinne, daß mancher, der sich schriftstellerisch betätigt, nichts wage, was über die bereits gesetzten Normen hinausginge. Welche Regeln und welche Autoritäten müssen wir nach Ihrer Meinung anzweifeln, um der Gefahr jener Mickrigkeit zu entgehen?

Beyer: Sicherlich viele. Ich bin sehr skeptisch gegenüber Menschen, Schriftstellern oder Instanzen, die versuchen, alles auf ein mittleres Maß einzuköcheln und alles auf eine gleiche Temperatur zu bringen. Sprachlich. Ich verstehe es, wenn ein Zeitungsredakteur einen Text, den ich abgebe, redigiert im Sinne einer Leserschaft, die er vor Augen hat. Nach der – manchmal sehr fiktiven – Vorstellung, daß die Oma von da oder dort das ansonsten nicht verstehen könnte. Ich bin jedoch zum Beispiel sehr skeptisch gegenüber solchen – in den letzten Jahren in Deutschland wieder zu Popularität gelangten – Bestrebungen, die deutsche Sprache zu reinigen. Also die englischen Ausdrücke aus dem Deutschen zu streichen und dafür deutsche Wörter einzusetzen. Das ist eine Vorstellung von Sprachnormierung – auch die Tatsache, daß eine bestimmte Gruppe die Autorität über eine Sprache beansprucht –, die meiner Vorstellung von Sprache, als etwas sehr Vielfältigem, das von verschiedensten Menschen aus den verschiedensten Schichten gesprochen und von verschiedensten Leuten geschrieben wird, widerspricht. Man kann die Sprache nicht zähmen. Eine gezähmte Sprache wäre eine langweilige Sprache, eine Stubensprache. Die Sprache würde akademisch, dumpf und vorhersehbar. Es gibt ja diese Sachbücher: „Der gute Stil. Wie man einen Aufsatz schreibt“. Da dürfen bestimmte Satzkonstruktionen nicht verwendet werden, da dürfen die Sätze nicht zu kurz und nicht zu lang sein. Da gibt es Worte, die immer zusammenstehen müssen, der „Wald ist dunkel“ und die „Täler sind tief“. Erst wenn man beginnt, über diese Konventionen nachzudenken, wird Sprache interessant.

Helbig: Welche Bedeutung hat die Auseinandersetzung mit der Moderne – mit den Autoren des Expressionismus, den Dadaisten, den Surrealisten, den Autoren des Nouveau roman – für Ihr Schreiben?

Beyer: Das waren alles Richtungen in der Literatur, wo sich Autoren mit den herrschenden Konventionen – wie man richtig und gut zu schreiben habe – nicht abgefunden haben. Wo dann natürlich oft auch ein Moment der gesellschaftlichen Revolte dazukam. Das sind alles Richtungen, die für mich – obwohl ich sie historisch begreife – nach wie vor etwas Spannendes haben.

Helbig: Wirkt das auch auf die eigenen Texte?

Beyer: Auf jeden Fall. Es wirkt auf die eigenen Texte. Es interessiert mich jedoch nicht, neuexpressionistische Gedichte zu lesen – was einer verspäteten Imitation gleichkäme – oder dieses Nonkonforme als eine Konvention zu begreifen. Was aber meine Lektürevorlieben angeht – und die Rahmen, auf welche ich immer wieder zurückkomme –, ist das ganz wichtig. Auch Surrealismus. Und zwar immer die nichtakademischen und nichterstarrten Varianten. Sobald Surrealismus zu einer quasi Religion wird, interessiert er mich überhaupt nicht mehr.

Helbig: Als Lyriker und Übersetzer von Lyrik stellen Sie sich (Z.B. in „Der blaue Volkswagen“) die Frage, wie es gelingen könnte, … eine Sperrigkeit, eine Spannung, eine größtmögliche Sprödigkeit zu erreichen) mit Kunstlosigkeit umzugehen und dabei etwas zu schreiben, das trotzdem als Gedicht erkennbar wäre…“ Sehen Sie in dieser Herangehensweise einen „postmodernen“ Ansatz? Führt Sie dieses „Ausloten von Möglichkeiten“ von dem Sie sprechen, zu Positionen der „literarischen Postmoderne“?

Beyer: Das weiß ich nicht.

Helbig: Weil man nicht weiß, was Postmoderne ist?

Beyer: Genau. Postmoderne ist ein Begriff, von dem ich den Eindruck habe, das war – so in den 80er Jahren – eine schöne Möglichkeit, die verschiedensten Dinge wieder unter einen Hut zu bringen, ohne bestimmen zu müssen, was man eigentlich genau damit meint. Insofern halte ich diesen Begriff nicht für produktiv. Ich verwende ihn auch nicht. Die Benutzung von Formen, Klängen und Rhythmen, um mit ihrer Hilfe an die Grenzen dessen zu gehen, was man noch als Gedicht oder als Roman erfaßt – solche Ansätze hat es immer gegeben. Ich denke, daß die jeweiligen neuen Richtungen immer aus einer Auseinandersetzung mit den bis dahin herrschenden Gegebenheiten entstanden sind. Was die Sprödigkeit angeht: Die späten Gedichte von Günter Eich, die Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre entstanden sind – bis heute verstehe ich nicht, warum ich diese späten Gedichte als Gedichte begreife.

Helbig: Sie meinen die „Maulwürfe“?

Beyer: Ja, die „Maulwürfe“ waren auch etwas, womit er alle vor den Kopf gestoßen hat. Aber Eich hat auch nach den „Maulwürfen“ noch Gedichte geschrieben. Und diese Frage – Was ist das eigentlich? – kommt ja nur zustande vor dem Hintergrund, daß man es ja doch irgendwie als literarischen Text erkennt. Denn sonst würde man sagen, das ist eine Gebrauchsanweisung oder eine Glosse, und könnte es dort einordnen. Ich lese diese Texte selbstverständlich als Gedichte, wenn ich sie mir jedoch genau anschaue, wüßte ich nicht zu bestimmen, was das Gedichthafte daran ist.

Helbig: In „Andere Echos“ schreiben Sie: „Dichtung kann in einem Gesprächszusammenhang stehen, auch ohne daß sie verstanden wird.“

Beyer: Ja, das betrifft zum Beispiel die gerade genannten „Maulwürfe“ und späten Gedichte von Günter Eich. Diese Texte liegen bereits längere Zeit vor und ich habe sie auch schon früh und häufig gelesen, aber ich habe bis heute nicht das Gefühl, sie zu verstehen. Trotzdem sprechen diese Texte zu mir und ich komme auch immer wieder auf sie zurück und bin immer wieder verwundert über diese Texte. Aber indem sie ihr Geheimnis nicht preisgeben, kommunizieren diese Texte mit mir. Sonst hätte ich ja irgendwann gesagt: Gut, fertig, versteh ich nicht, weg damit!

Helbig: Das gleiche empfindet man ja oft auch beim Betrachten eines Kunstwerkes.

Beyer: Dort beginnt eigentlich das Gespräch zwischen dem Betrachter und dem Kunstwerk.

Helbig: In Bezug auf ein Projekt zur Übersetzung der Gedichte von T.S. Eliot (gemeinsam mit Norbert Hummelt) sprechen Sie davon, daß ein „Blick auf Eliots englische Verse ermöglich(t)“ werden solle, „der nicht von jenen Nachkriegsauffassungen und -kompromissen einer Übersetzung geprägt (sein solle), wie sie das Original nicht kenn(e).“ Was konkret muß überwunden werden?

Beyer: Eliot hat Ende der 30er, Anfang der 40er Jahre seine Four Quartets geschrieben. In der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Sie sind dann von Nora Wydenbruck – offenbar einer Bekannten oder sogar Freundin von Eliot – für einen österreichischen Verlag ins Deutsche übersetzt worden. Aber sie hat ins Österreichische jener Zeit übersetzt. Man weiß, das Eliot sehr religiös war, daß er sich sehr intensiv mit Religion auseinandergesetzt hat, daß er zum Anglikanismus übergetreten ist, und könnte daraus ableiten, daß dies möglicherweise eine gute Voraussetzung für einen guten katholischen österreichischen Text wäre. Das funktioniert jedoch nicht. Eliot hat sehr intensiv mit ganz unterschiedlichen Sprachschichten, ganz unterschiedlichen Jargons, also mit Hochsprache und Straßensprache gearbeitet. Und das wird alles eingeebnet in der österreichischen Übersetzung. Bei Eliot kommen Dinge vor, die nicht salongerecht sind und die sich für die Dichtung „als das Gute, Wahre, Schöne“ nicht gehören. Nora Wydenbruck hat die Texte jedoch in ihrer Übersetzung salon- und hochkulturfähig gemacht. Obwohl Eliots Ausgangstext gerade von diesen Brüchen und der Gegenüberstellung lebt. Eva Hesse hat diese Übertragung überarbeitet. Trotzdem spricht aus diesen Übersetzungs-Fassungen die jeweilige Zeit des Übersetzens viel stärker als die Zeit, in der die Original-Fassungen entstanden sind. Man kann das schwer den Übersetzern anlasten. Übersetzungen altern immer schneller als die Originale. Insofern besteht unser nun seit zehn Jahren laufender Versuch darin, näher in die Zeit des Originals zu gehen, und auch an den Ort der Entstehung des Originals zu gehen. Was Norbert Hummelt und ich vorhaben, ist natürlich auch wieder ein Aktualisierungsversuch. Es wird ja immer von heute aus übersetzt. Bislang hat jeder von uns erst einmal allein übersetzt. Was vor uns liegt, ist eine gemeinsame Fassung der Four Quartets, wir werden an vielen Stellen diskutieren müssen, um Kompromisse zu finden.

Helbig: Wie wollen Sie der Gefahr entgehen, daß das heutige Sprachverständnis den Text verfremdet?

Beyer: Selbstverständlich besteht diese Gefahr, und es ist auch eine Gefahr, der man nicht entgehen kann. Das heutige Sprachverständnis beherrscht die Übersetzungspraxis. Aber auch die heutigen Erkenntnisse über Eliot und seine Dichtung sind von Einfluß. Auch die Vorstellungen, wie man eine gute Übersetzung macht, haben sich entwickelt und sind von Einfluß auf die Übersetzungspraxis. Man hat natürlich immer die Vorstellung, je weiter die Zeit fortschreitet, desto besser wird das Verständnis des Originals, aber eigentlich verändert sich ja nur das Verständnis. Aber wir arbeiten zu zweit, da ist immer der andere, der einem beim Abwägen von Gefahren und Chancen zur Seite steht. Die endgültige Übersetzung eines Textes wird es nicht geben können. Ich glaube, Texte müssen immer wieder neu übersetzt werden, in der jeweiligen Zeit.

Helbig: In dem Text „Thomas Kling: Haltung“ wenden Sie sich gegen Ezra Pounds Diktum: „Dichten = condensare“ und beziehen sich auf die gemeinsame Herkunft der Begriffe Dichter und Diktator aus dem lateinischen „dictare“, „dessen Bedeutungsrahmen das Vorsagen als Instruktion und Verführung genauso (umfasse) wie das Vorsagen als In-die-Feder-Diktieren, also dem Sprechen am Übergang zur Schrift.“ Sie sagen weiter: „Dichter und Diktator: Beide sind Vorsager, Vorsprecher, Einflüsterer. Und es hat den Anschein, diese sprachliche Verwandtschaft bildet ein Spannungsverhältnis, das in der deutschen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg auf mehreren Ebenen gegenwärtig ist. Fragen der sprachlichen Form und des öffentlichen Redens sind davon genauso betroffen wie die Problematik der Authentizität.“ Ich bitte Sie, dies näher zu erläutern.

Beyer: Es ist eine landläufige – und auch sehr anschauliche – Vorstellung, daß ein Gedicht verdichte. Es lassen sich jedoch genügend Beispiele anführen, wo dies überhaupt nicht stichhaltig ist. Ein Gedicht kann ja auch etwas ausbreiten.
Diese gemeinsame etymologische Wurzel – Dichter, Diktator, dictare. Russische Dichter deklamieren ihre Texte bis heute. Wenn ich so etwas höre, dann bewundere ich dies einerseits, andererseits bekomme ich auch eine Gänsehaut. Diese Selbstverständlichkeit, mit der der eigene Text da ausgerufen und halb gesungen wird, ist sehr befremdlich für mich. Diese Lesungen vor einem ungeheuer großen Publikum. Das ist etwas, was in mir auch Skepsis weckt. Ich glaube, mir würden sich alle Stacheln aufstellen, wenn jemand im deutschen Sprachraum so etwas machen würde. Und ich habe angefangen darüber nachzudenken: Warum gibt es in Rußland und anderen Ländern solch eine durchgehende, ungebrochene Rezitationskultur, in Deutschland aber nicht. Bei öffentlichen Lesungen in Deutschland hat man oft den Eindruck, der Autor versucht vorn so zu sitzen, als wäre er gar nicht da. Er nuschelt so in sich hinein und macht sich ganz klein. Was eine eigentümliche Reaktion darauf ist, daß man sich in einer Auftrittssituation befindet. Daß es dem Text eher schadet, wenn ich versuche, diese Situation zu leugnen, ist offensichtlich. Für mich ist es beim Schreiben selbstverständlich, mit den Ohren zu schreiben, die Vorlesbarkeit eines Textes zu bedenken. Ich kam darauf, daß dieses Verstecken beim öffentlichen Vortrag auch eine Reaktion auf die fast hysterischen Szenarien des Nationalsozialismus ist. Man hat sich in den 30er Jahren derart von öffentlichen Rednern hinreißen lassen, daß die Schriftsteller bei der Frage, welche Rolle sie in dem Verhältnis zwischen Schreibenden und Lesenden in der Öffentlichkeit übernehmen sollten, ein sehr gebrochenes Verhältnis zu jener Macht entwickelt haben, die man nun einmal als Redner über einen Zuhörer hat. Man merkt das auch an anderen Dingen. Im englischsprachigen Raum lernen die Kinder noch das Debattieren, lernen, die rhetorischen Fähigkeiten auszunutzen, um jemanden von etwas zu überzeugen. Das ist etwas, was in Deutschland erst wieder kommt. Es ist auch ein Unterschied, ob man in der DDR oder in der BRD zur Schule gegangen ist. Während meiner Schulzeit war rhetorische Brillanz nicht gerade eines der Hauptlernziele, das man den Schülern vermitteln wollte.
In meinem Roman Flughunde hat man auf der einen Seite die Hauptfigur Hermann Karnau, die Joseph Goebbels bei Reden beobachtet und mitbekommt, wie diese nationalsozialistischen Redner den Menschen etwas einflüstern. Das ist die Ebene der Beschreibung. Dann gibt es aber auf der anderen Seite auch die Ebene des Schreibenden, also meinen Part. Für mich war die Frage, wie mache ich den Lesern dieses Buches diese Geschichte, die Hermann Karnau erzählt, glaubhaft. Als Schreibender flüstere ich dem Leser immer etwas ein. Ich wollte dieses Problem nicht aussparen, Hermann Karnau sollte den Leser von seiner Darstellung überzeugen, ohne daß aus dem Hintergrund der Autor einzugreifen scheint. – Ein Moment, mit dem es vorsichtig umzugehen gilt. Es ging sogar soweit, daß manche Leser Dinge, die ich in dem Roman erfunden habe, wirklich für bare Münze nahmen.

Helbig: Sie haben sich u.a. auch zu der von Ignatz Bubis und Martin Walser geführten Debatte – „Wir brauchen eine neue Sprache für die Erinnerung“ (FAZ) – geäußert und festgestellt, daß zwar Übereinkunft über die Tatsachen besteht, es jedoch nicht nur unangemessen, sondern unwürdig und gefährlich erschiene, daraus eine Konsenssprache ableiten Zu wollen – und, für die Literatur, eine Konsensform oder einen Konsenston. Nun ist es ja aber so, daß immer wieder neue Fragegenerationen heranwachsen. Besteht aus Ihrer Sicht für den Sprachgebrauch innerhalb des Schulbereichs (also gegenüber Kindern und Jugendlichen) die Notwendigkeit, eine Konsenssprache im Zusammenhang mit der Darstellung von historischen Fakten des Nationalsozialismus zu finden?

Beyer: Ich habe mich mit meiner Äußerung nur auf den Bereich der Literatur bezogen. Das gibt es ja alle paar Jahre, daß irgendeine öffentliche Persönlichkeit, ein Politiker oder ein Kulturträger, sich dermaßen im Ton vergreift, daß es dann ungeheure Diskussionen gibt und derjenige von seinem Posten zurücktreten muß. Wenn ich zum Beispiel an den Bundestag denke: Natürlich muß es da eine Konsensform geben, wie man spricht. Es ist richtig, daß im Bereich der Repräsentanten der Öffentlichkeit bestimmte Regeln eingehalten werden müssen. Ich frage mich nur, ob man der Literatur nicht etwas an Möglichkeiten nähme, wenn man für sie dieselben Regeln festlegte und sie sich an diese Regeln halten müßte. Denn, es gibt immer wieder dieses Element der Regelübertretung, ja, auch des Provokativen, wofür Literatur – und Kunst überhaupt – ein Raum ist. Auch um sich dann, anhand dieser Regelverletzung, wieder der doch gut begründeten Regeln zu vergewissern.

Helbig: Es ging ja in dieser Diskussion auch um die schlagwortartige Verwendung des Wortes Auschwitz die von Ihnen kritisiert worden war.

Beyer: Ich bin grundsätzlich allem Schlagwortartigem gegenüber skeptisch. Ich würde das auch in der Schule sein. Ich merke das auch, wenn ich an Veranstaltungen in Schulen teilnehme, daß ich immer wieder nachfragen muß: Du hast jetzt das und das gesagt, was meinst Du jetzt eigentlich genau damit? Also dieses Verselbständigen von Sprache und bestimmten Formulierungen. Man signalisiert damit, man hätte sich mit etwas auseinandergesetzt, aber es ist eigentlich nur dieses Signal. Wenn man nachbohrt, hat es eine wirkliche Auseinandersetzung nicht gegeben. Mir ist auch klar, daß dieser Wunsch, den ich habe, sehr unpraktisch ist, daß es für Lehrer sehr aufwendig und schwierig ist, jenseits der Schulbuchformulierungen Ansätze zu finden, um den Schülern etwas zu vermitteln. An den Schulen wird ja auch Propaganda unter der Hand betrieben. Ein Lehrer muß erst einmal dahinter kommen, daß außer der Meinung, die er zu vermitteln versucht, auch noch andere Meinungen aktiv vermittelt werden, die auf dem Schulhof, auf den der Lehrer keinen Zugriff hat, noch gefestigt werden. Die Weltsicht des Lehrers konkurriert mit anderen Weltsichten, die ganz aktiv von Mitschülern vermittelt werden.
Ich hatte im vorigen Jahr eine Lesung an der deutschen Schule in Barcelona, eine Schule, die unter dem Franco-Regime nicht gerade nonkonform war und die bereits in den 30er Jahren, aufgrund der historischen Verbindungen zwischen Nationalsozialismus und Franco-Regime, ganz gut „funktioniert“ hat. In Vorbereitung dieser Lesung mußten die Lehrer der Schule – jenseits der Schulbuchvermittlung – überlegen, wie das Buch Flughunde zu präsentieren sei: Wie bereiten wir die Schüler auf das Thema Nationalsozialismus vor, wie spielt in dieses Thema die Geschichte unserer eigenen Schule mit hinein? Und sie haben das unwahrscheinlich gut gemacht. Die Schüler selbst haben in Gruppenarbeit Wandzeitungen zum Thema Nationalsozialismus gestaltet. Eine Gruppe verwendete historische Fotos, auf denen Hakenkreuze zu sehen waren. Dies führte zu einer Spaltung der Schüler- und Lehrerschaft. Die einen haben gesagt: Wir machen das so, wie der Autor das im Roman gemacht hat; wir präsentieren diese Wirklichkeit ohne einen zusätzlichen Kommentar. Die anderen haben gesagt: Moment mal, wenn die Schule jetzt Besuch bekommt, dann könnte es die Gäste oder Eltern befremden, wenn sie beim Betreten der Schule als erstes Hakenkreuze sehen. Ich, als Autor, sollte nun entscheiden, welche Seite recht hat. Ich mußte natürlich beiden Seiten recht geben, konnte ihnen aber sagen, daß ihnen eigentlich nichts besseres passieren konnte, als diese Diskussion zu führen. Diese Diskussion hatte sich natürlich längst von meinem Buch gelöst und war bei der Frage angekommen: Wie stellen wir das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit dar, wie reagieren wir innerhalb der Schule auf gegenwärtigen Rechtsradikalismus?

(…)

Helbig: Michel Leins spricht in einem Interview von „überhöhen, ohne zu verfälschen“. Wie erreicht man das? Wie findet man das richtige Maß?

Beyer: Dieses Maß findet man von Satz zu Satz immer wieder neu. Das hat auch etwas mit der Sprödigkeit zu tun, von der wir vorhin gesprochen haben, Gedichte, die man als Gedichte erkennt, wo man sich aber fragt, wieso erkenne ich das als Gedicht, auch ohne Reim, Versmaß und „Wohlklang“. Dieses Maß zu finden, ist ein permanenter Prozeß von Glätten und wieder Aufrauhen. Das betrifft Detailfragen, das betrifft den Satzrhythmus. Wenn ich jetzt an die Gedichte in Erdkunde denke. Da steckt natürlich schon so etwas wie Pathos drin. Ein Pathos der Sachlichkeit. Wenn man sieht, wie dort einzelne Dinge hervorgehoben werden, einzelne Gegenstände, dann ist das schon wie eine Anrufung. Aber ich hätte natürlich nie Gesänge über den neuen Osten verfassen wollen. Gesänge auf das untergegangene Königsberg oder etwas in der Art. Kaliningrad, diese rauhe Stadt, hat mich sehr beeindruckt, obwohl ich dort nichts Wohliges habe entdecken können. Kurz nach dieser Reise habe ich ältere Gedichte gelesen, die in der Art einer Anrufung, der Verherrlichung dieser Stadt verfaßt waren. Mir war klar, dieser Ton geht nicht, diese Art Überhöhung ist nicht möglich. Und zwar aus mehreren Gründen. Die Balladen etwa einer Agnes Miegel dienen der Verklärung, für mich hat das Gedicht aber mit Aufklärung zu tun. Dann die indiskutable politische Haltung, die sowohl bei den Königsberg-Nostalgikern als auch bei den Kaliningrad-Verfechtern zum Ausdruck kommt. Und schließlich: Beim Blick auf diese Stadt war ich nicht von Nostalgie gelenkt, ich habe Kaliningrad gesehen, ohne Königsberg darin zu suchen. Das politische Bekenntnis, die Verklärung, die Nostalgie: Pathosfallen schlechthin. Ich mußte das Level also erst einmal ganz herunter ziehen. Die nur lakonisch beiseite gesprochene Beobachtung wäre jedoch auch nicht passend gewesen. Dann hätte sich die Frage gestellt: Warum denn Kaliningrad und nicht Dresden-Prohlis? Denn diese Stadt hat natürlich eine ganz spannende und wechselvolle Geschichte. Das muß schon drinstecken. Insofern war die Aufgabe, von diesem niedrigen Level ganz vorsichtig wieder hinaufzugehen und das richtige Maß zu finden für ein Gedicht, das eine Lakonie hat, ohne Klang, Rhythmus, sogar Reim auszublenden.

(…)

Helbig: Sie sprechen davon, daß „der Impuls zum Schreiben entsteht,… wo Begriffe nicht mehr feststehen, nicht mehr fraglos ein- oder ausgeblendet sind, wo etwas brüchig wird. Heißt das, daß sich Schreibimpulse für Sie auch aus Mangelsituationen ergeben?

Beyer: Ja, das sind Momente, wo man aufmerksamer ist, ohne daß man es richtig merkt. Man wird anfälliger. Solche Momente sind fast immer der Antrieb zum Schreiben. Solange mir die Welt klar ist, habe ich nicht das Bedürfnis, über die Welt zu schreiben. Dort, wo mir die Welt unklar wird, beginne ich schreibend zu erforschen, um was für eine Welt es sich handelt.

Helbig: Ich bitte Sie, noch etwas zu Ihrer Mitherausgeberschaft der Schriftenreihen Vergessene Autoren der Moderne und Experimentelle Texte zu sagen.

Beyer: Ich habe Germanistik an der Universität Siegen studiert, bei Prof. Karl Riha, der ein großer Expressionismusexperte ist. Riha hat diese Schriftenreihen begründet und herausgegeben. Es war eine noble Geste von Karl Riha, daß er – im Unterschied zu anderen Professoren – die Mitarbeiter an den einzelnen Projekten auch namentlich in Erscheinung treten ließ. Es gibt ja Professoren, die die Arbeiten ihrer Assistenten ausschlachten und das dann als eigene Arbeiten ausgeben. Bei Riha war das Gegenteil der Fall. Sobald jemand als Hilfskraft an einer Edition mitgearbeitet hat, ist er auch als Mitherausgeber aufgeführt worden. So kam es, daß ich, als ich Hilfskraft bei Riha wurde, auch als Mitherausgeber der Vergessenen Autoren der Moderne aufgeführt wurde. Später habe ich die Redaktion der Reihe Experimentelle Texte betreut, die von Siegfried J. Schmidt und Karl Riha zusammen herausgegeben worden sind.
Die Vergessenen Autoren der Moderne hatte es damals bereits einige Zeit gegeben. Das war eine Reihe, die sich als Anreger-Reihe verstanden hat, verschollene Autoren der ersten Jahrhunderthälfte, die auf dem heutigen Buchmarkt kaum eine Chance gehabt hätten, dennoch einer Leserschaft zugänglich zu machen. Man konnte diese Reihe für den Preis des Portos abonnieren. Auf diese Art hatte sich sehr schnell ein Abonnentenkreis von über tausend Lesern in der ganzen Welt gebildet. Es war dann oft auch so, daß Verlage aufmerksam geworden sind und im nachhinein Bücher auf den Markt gebracht haben. Es gab viele Entdeckungen. Auch bisher unbekannte Texte von Hugo Ball sind herausgegeben worden. Es war oft so, daß Karl Riha auf Reisen Manuskripte angetragen wurden, weil bekannt war, daß er sich für Dada und Expressionismus interessierte. Auch Personen, die Texte im Privatbesitz hatten, waren auf uns zugekommen, oder andere, die uns auf Funde in alten Zeitschriften aufmerksam machten. Das war eine sehr interessante Arbeit, bei der ich, zum einen, ganz viele Autoren für mich entdeckt habe. Zum anderen habe ich ganz praktische Kenntnisse erlangt – wie macht man ein Layout, worauf muß man achten bei einer Publikation, vom Manuskript bis zur Druckerei.

Helbig: In Bezug auf ein neu erwachtes Selbstbewußtsein im wiedervereinten Deutschland äußerten Sie:

Da soll zusammen, was zusammen gehört, und doch will die Berufung auf eine gemeinsame Geschichte nicht gelingen. Und doch mag die eine Seite nichts von der anderen hören, wirft die eine Seite der anderen ihr Rede- und Schweigeverhalten vor, weiß der Westen alle Antworten auf den Osten auch ohne zu fragen, wie seinerseits der Osten auf den Westen.

Sind Sie 1996 von Köln nach Dresden gezogen, um sich diese Fragen sukzessive selbst beantworten zu können?

Beyer: Auch, ja. Es war so, daß mit dem 9. November 1989 ganz plötzlich mein Interesse an der DDR geweckt war. Ich habe die DDR vorher kaum zur Kenntnis genommen. Das Land war für mich wie nicht auf der Landkarte vorhanden. Ich weiß noch, im Sommer 1989 war ich das erste Mal in Berlin und sah die Grenzanlagen: Das Ende meiner Welt. Im Mai 1990 war ich dann zu einem Besuch bei Johannes Jansen in Ostberlin, alles hatte sich innerhalb weniger Monate verändert, auch für mich, da ich die Welt jenseits des sogenannten Eisernen Vorhangs, der ja nicht gefallen ist, sondern gelüftet wurde, in der Gegenwart betreten konnte. Vorher hatte es, 1988, in Westdeutschland eine Begegnung mit Jan Faktor gegeben, und bei einer Veranstaltung sah ich Rainer Schedlinski. Auf die Idee allerdings, ich könnte selber in entgegengesetzter Richtung reisen, wäre ich seinerzeit nicht gekommen. 1996 ergab sich – dadurch daß ich meine Freundin kennenlernte – die Möglichkeit, nach Dresden zu ziehen. Ich habe dann nicht lange überlegt. Ich habe keinen Versuch unternommen, meine Freundin zu überzeugen, nach Köln zu ziehen, sondern habe das – obwohl ich Dresden nur von einem eintägigen Besuch im Sommer 1991 kannte – sofort als eine Eröffnung neuer Welten begriffen. Ich habe sofort gesehen, daß ich eine Menge Neues erfahren kann und habe gemerkt, daß der Westen sehr langweilig ist. Ich lebe jetzt seit über sieben Jahren in Dresden, und diese Überzeugung verfestigt sich ständig. Der Westen wird immer langweiliger.

Helbig: Wann war Ihre erste Begegnung mit in der DDR geschriebener Literatur? Welche Unterschiede zwischen dem „Ton“ der DDR-Literatur und dem „Ton“ der Literatur in der Bundesrepublik stellten Sie fest?

Beyer: Ich habe mich immer zur österreichischen Literatur stärker hingezogen gefühlt als zur deutschen, ganz gleich ob aus der BRD oder der DDR. Die westdeutsche Literatur kenne ich bis ungefähr in die Achtziger Jahre von wenigen Ausnahmen abgesehen gar nicht. Soziales Engagement, politisches Bekenntnis, gerade auch vor dem deutsch-deutschen Hintergrund – von literarischer Qualität war da mitunter zuletzt die Rede. Und das galt auch für die Wahrnehmung von DDR-Literatur im Westen. Eine der wenigen Ausnahmen war Christa Wolfs Buch Kein Ort. Nirgends. Das war ein Buch, das man den Ostspezialisten im Westen nicht erst entreißen mußte. Das konnte man – fern der politischen Betrachtung – als reine Literatur lesen. Ab Mitte der achtziger Jahre aber, vor allem durch die Vermittlung von Elke Erb, die zwei augenöffnende Anthologien mit herausgab, geriet mir eine völlig andere Literatur aus der DDR in den Blick, die – zum Teil ebenfalls über den Umweg Österreich, Ernst Jandl und Friederike Mayröcker als wichtige Figuren an ganz andere Figuren anknüpfte, die mit der Vorstellung vom Schriftsteller als Ersatzpolitiker nichts zu tun haben. Im Frühjahr 1989, erinnere ich mich, war ich auf einer wissenschaftlichen Tagung in Dubrovnik, wo ich mich Karlheinz Barck gegenüber beklagte, es gebe über diese andere Literatur nichts zu lesen. Er widersprach mir heftig, und ein paar Wochen später bekam ich Gerhard Wolfs Buch Wortlaut Wortbruch Wortlust (Reclam, Leipzig 1988) zugeschickt. Darin, und daraus hervorgehend, mache ich noch heute Entdeckungen. Was meine erste Begegnung mit DDR-Literatur angeht: Erst im letzten Jahr habe ich gemerkt, daß ich Das Judenauto von Franz Fühmann schon sehr lange kenne. Das war mir gar nicht mehr bewußt. Ich denke, die Erzählung ist mir als Kind vorgelesen worden, oder ich habe sie als Schüler gelesen.

Helbig: Was hat Sie vor 1990 davon abgehalten, in die DDR zu reisen?

Beyer: Das waren sicher mehrere Dinge. Ich weiß von Freunden mit familiären Beziehungen in die DDR, die in den Ferien Besuche gemacht und dadurch den DDR-Alltag kennengelernt haben. In unserer Familie gab es keine familiären Kontakte, obwohl wir, lax gesagt, alle von Ossis abstammen, wie sich so nach und nach herausgestellt hat. Mein Urgroßvater stammt aus Possendorf [Sächsische Schweiz], wovon ich allerdings, als ich hergezogen bin, noch nichts wußte. Insofern gab es erst einmal keinen direkten Anlaß, keinen familiären Anlaß, in die DDR zu reisen. Auf eigene Faust in die DDR zu reisen, das lag fern, weil Paris und Amsterdam „näher“ am Rheinland lagen. Es war auch so, daß mir das öffentliche Bild von der DDR im Westen den Blick verstellt hatte, oder zumindest dazu geführt hatte, daß ich auch gar nicht erst versuchen wollte, hinter dieses öffentlich erzeugte Bild zu steigen. Das kam dann erst durch persönliche Kontakte zustande. Es gab einmal – während der Schulzeit – das Vorhaben, mit dem Geschichtskurs in die DDR zu fahren. Ich weiß heute nicht mehr, warum dieses Vorhaben letztlich nicht ausgeführt worden ist. Und noch ein Erlebnis – im März 1990. In Köln, an der Studiobühne, die zur Universität gehört, gab es jedes Jahr ein Theatertreffen, wo westdeutsche Theatergruppen und Theatergruppen aus jeweils einem anderen Land aufeinandertrafen. Die Autorenwerkstatt, zu der ich einige Zeit gehörte, machte zu diesem Anlaß eine Zeitung. Am Abend hat man sich die Vorstellungen angesehen, nachts Besprechungen verfaßt und bereits am nächsten Morgen wurde eine schnell hektografierte Ausgabe an die Teilnehmer und ans Publikum verteilt. Dieses deutsch-deutsche Theatertreffen des Jahres 1990 war lange Zeit vorbereitet worden. Es wurde dann eine ganz intensive Begegnung auf engstem Raum, mit allen schlimmen Mißverständnissen, die da möglich sind. Eine Schauspielerin war sehr geknickt, als wir die Inszenierung, in der sie spielte, heftig kritisierten. Was für uns ein ganz selbstverständlicher kritischer Ton war, das kannte sie bis dahin so nicht. Wir haben dort gemerkt, daß wir zwar dieselbe Sprache sprechen, es aber lange dauern würde, zu erklären, worin die gleichwohl offen zutage tretenden Unterschiede bestehen.

Helbig: Ich bedanke mich für das Gespräch.

Aus: Axel Helbig: Der eigene Ton. Gespräche mit Dichtern, Edition Erata – Leipziger Literaturverlag, 2007

 

Literarische Selbstgespräche … keine Fragen stellte Astrid Nischkauer – Von und mit Marcel Beyer

Vier Fragen an Marcel Beyer: Die Sprache ist alt genug, um auf sich selber aufzupassen

 

 

 

KUSS
für Marcel Beyer

Nach der Lippen
Schranke den Vokalzoll
Abgetreten
An das Gegenüberohr
Ihn mit Speichel
Vermengt sichtbar gemacht
Ihn unter die Nase geleckt
Dem Menschenleib

Wunderbar das Wort
Gezwungen sich im Hellen
Auszuziehen
Bis aufs Grundmorphem
Feinsäuberlich
Auch die Sehnen und Muskelfasern
Ihm abgezogen
Vom grammatikalischen Knochen

Ihm über den Zungenhals
Eintritt über die andere Schranke
Hinweg erküßt
Bald getrunken
Ertrunken

Nora Gomringer

 

 

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