Reisetopographie

(Haupts Reise geht tief in das gewärtige Sein dessen, was der Mensch zu sein scheint. In sich selbst trage dieser die trichterförmigen Abgründe, das Chaos, den Tumult, die er fälschlich – in ewiger Flucht vor der Erkenntnis seiner selbst – in die Wüste schicken will. Doch während er sich in den Weiten der Wüste wie ein Sandkorn verliert, läßt er die Chance, die eigene Seele als wüsten Kosmos zu entdecken, ungenutzt. Haupts Werk gibt, diesem Entwurf folgend, eine Topographie jener inneren Landschaft.)

SCHWARZ: »Seit wann schreiben Sie eigentlich?«
WEISS: »Ich lebe davon.«
SCHWARZ: »Woher nehmen Sie denn aber die Ideen?«
WEISS: »Ideen? Gibt es wie Sand im Wüstenmeer.«
SCHWARZ: »Und trotzdem – haben muß man sie doch! Worüber könnten Sie sonst schreiben? Was?«
WEISS: »Darüber schreibt man nicht. Nicht über Ideen.«
SCHWARZ: »Sondern?«
WEISS: »Man lebt davon …«
SCHWARZ: » … also schreiben Sie wohl über das Leben? Ja?«
WEISS: »Was ich erlebt habe, darüber brauche ich nicht auch noch zu schreiben.«
SCHWARZ: »Und doch schreiben Sie! Sie reisen oft. Sie waren in der Mongolei, in China …«
WEISS: »… und so schreibe ich auch. Wie ich lese. Oder reise. Ja. Doch. Wie einer, der die innere Mongolei von innen kennt und also weiß, daß sie von außen nicht zu beschreiben ist. Denn nur weil ich in der innern Mongolei gewesen bin, ohne dort gewesen zu sein, kann ich immer wieder werden, was ich bin, wenn ich sich schreibe: schreibe …«

(Tatsächlich genossen, wie Chlebnikow in seiner Arbeit über »Weltliche Autoritäten in Nord- und Zentralasien« ausführt, jene Autoren besonderes Ansehen, welche ihre erste Reise durch den Tod – durch den Tod hindurch – schon hinter sich hatten. Die Zurückgekehrten – nach einer alten mongolischen Überlieferung werden die sehr leichten Knochen dieser Wenigen durch einfache, in der Regel rasch rostende Drahtschlingen oder -klammern zusammengehalten – führen nun als Auserwählte, und das heißt: als Verdammte, unter wechselnden Namen ein weiteres Leben, doch im allgemeinen erreichen die Autoren wegen ihrer außerordentlichen Reisestrapazen, die recht drastisch als Zerstückeln, Garkochen, Auskratzen beschrieben werden, kein hohes Alter. Bei ihrem Tod gerät die Leserschaft nicht selten in eine Krisenstimmung, die solange anhält, bis die Verschiedenen ihre Unsterblichkeit oder – noch besser – ihre Sterblichkeit bewiesen haben.)

 

aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.

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