Michael Krügers Gedicht „Auf den ersten Blick“

MICHAEL KRÜGER

Auf den ersten Blick

Eigentlich hat sich nichts verändert:
die Kastanie vor dem Haus, vom Efeu gemartert,
die Pflaumenbäume auf ihrem blauen Teppich,
der süße Geruch der Kindheit und des Verfalls.
Vom Tal herauf dröhnen die Laster,
und der Schatten läuft eilig ums Haus,
gegen die Zeiger der Uhr und prüft den Kummer.
Sogar der Brunnen steht noch wie ein Gedicht.
Als ich hineinsah, grüßte von unten, vom Grund,
ein Gesicht, von Fröschen in Falten gelegt.
Sein Mund stand weit offen, als wollte er schreien.
Nur die Wege ums Dorf haben sich vermehrt,
und einer führt geradenwegs durch mein Herz.
Aber sonst hat sich nichts verändert.

1990er Jahre

aus: Michael Krüger: Archive des Zweifels. Hrsg. v. Kurt Drawert. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2001

 

Konnotation

An nichts arbeiten die melancholisch disponierten Sonderlinge, die wir in den Gedichten und Romanen Michael Krügers (geb. 1943) antreffen, so ausgiebig wie an der Beschwörung der Vergeblichkeit, an jener „Apotheose des Umsonst“, die Krüger von seinem Lieblingsautor E.M. Cioran geborgt hat. In den schönsten Gedichten Krügers gerät die vertraute Lebenswelt seiner Figuren aus den Fugen, und nach dem „ersten Blick“ auf die Realien des Alltags geht plötzlich ein Riss durch die empirische Wirklichkeit – und ein Abgrund tut sich auf.
Es hat sich eben doch etwas verändert in dieser friedlichen Land-Idylle, in der nur eine aus der Ferne dröhnende Autostraße an die hässlichen Merkzeichen der Zivilisation gemahnt. Es ergreift den Beobachter der Szene ein Schwindelgefühl, als er wie ein verspäteter Narziss in einen Brunnen hinabsieht und ihm dort das eigene Konterfei wie ein Abbild des Schreckens entgegenblickt. Die Landschaft der Kindheit indes ist für immer versunken.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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