Nadja Küchenmeisters Gedicht „toter mann“

NADJA KÜCHENMEISTER

toter mann

nur wie die wolken heute ziehen und der film geht an
geruch von sommer und verbrannten wiesen und ich
im wasser spielte toter mann und diesen stein der mir
den fuß aufschlitzte noch gefunden in der vitrine unter
staub und zetteln das kartenspiel zu dritt im gras die
mücken kamen vater warum bist du denn so stumm
doch einen toten muss man nicht mehr retten und mutter
bruder die vom blatt aufsahen und schauten sich nicht
nach dem toten um

2004/05

aus: Text + Kritik Heft 171. Junge Lyrik. Edition Text + Kritik, München 2006

 

Konnotation

Das Sommerbild, das die in Berlin lebende Lyrikerin Nadja Küchenmeister (geb. 1981) hier zeichnet, erlaubt zunächst einen begütigenden Rückblick des Ich in idyllische Szenen einer Kindheit. Beim Schwimmen übt das Kind das bewegungslose Dahintreiben, den „toten Mann“. Die um das Wasser versammelte Familie vertreibt sich die Zeit mit einem Kartenspiel. In die jambisch strukturierten Langzeilen bricht plötzlich der Schrecken ein.
Der „tote Mann“, der zuerst im Kinderspiel beschworen wurde, ist plötzlich real präsent. Die Idylle wird aufgesprengt durch die Konfrontation mit dem toten Vater. Aber nun geschieht etwas, was die verstörende Wirkung des Gedichts noch verstärkt. Denn die Angehörigen kümmern sich nicht um den „toten Mann“, sondern widmen sich ungerührt ihrem Kartenspiel. Eine Traumszene? Ein autobiografischer Erinnerungsblitz? Wir sind in dem alptraumhaften Bild gefangen und wissen nicht, wo die Grenzen liegen zwischen dunkler Imagination und schockhafter Erinnerung.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00