Nelly Sachs’ Gedicht „Wer ruft?“

NELLY SACHS

Wer ruft?

Die eigene Stimme!
Wer antwortet?
Tod!
Geht die Freundschaft unter
im Heerlager des Schlafes?
Ja!
Warum kräht kein Hahn?
Er wartet bis der Rosmarinkuß
Auf dem Wasser schwimmt!

Was ist das?

Der Augenblick Verlassenheit
aus dem die Zeit fortfiel
getötet von Ewigkeit!

Schlaf und Sterben sind eigenschaftslos

1961

aus: Nelly Sachs: Fahrt ins Staublose. Die Gedichte der Nelly Sachs. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1988

 

Konnotation

Zwischen Paris und Stockholm läuft der Meridian des Schmerzes und des Trostes“, schrieb Nelly Sachs (1891–1970), die jüdische Dichterin, am 28. Oktober 1959 an ihren seelenverwandten Kollegen Paul Celan (1920–1970). Das war das Bekenntnis zu einer schicksalhaften Verbundenheit zwischen zwei von den Nazis verfolgten Dichtern, eine Verbundenheit, die dann Ende Mai 1960, als sich Sachs und Celan in Zürich trafen, ihren Höhepunkt erreichte. Ein Jahr nach ihrer Zürcher Begegnung schrieb Nelly Sachs dieses Gedicht.
Auf diese poetische Epistel antwortete Celan mit einem Bekenntnis zur „Verlassenheit“ als poetischer Konstante einer Dichtung, in die sich die Erfahrung der Verfolgung eingeschrieben hat: „Es ist sehr einsam geworden um uns, Nelly, wir haben es nicht leicht.“ Was bleibt den vom Holocaust bedrohten Poeten? Nur ein einsames Selbstgespräch mit dem Tod? Und das Konstatieren der eigenen „Verlassenheit“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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