Paul Celans Gedicht „Die Jahre von dir zu mir“

PAUL CELAN

Die Jahre von dir zu mir

Wieder wellt sich dein Haar, wenn ich wein. Mit dem Blau deiner Augen
deckst du den Tisch unsrer Liebe: ein Bett zwischen Sommer und Herbst.
Wir trinken, was einer gebraut, der nicht ich war, noch du, noch ein dritter:
wir schlürfen ein Leeres und Letztes.

Wir sehen uns zu in den Spiegeln der Tiefsee und reichen uns rascher die Speisen:
die Nacht ist die Nacht, sie beginnt mit dem Morgen,
sie legt mich zu dir.

1948

aus: Paul Celan: Die Gedichte. Hrsg. u. kommentiert v. Barbara Wiedemann. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2003

 

Konnotation

Auf der berühmten Niendorfer Tagung der Gruppe 47 im Mai 1952, zu der man ihn erstmals eingeladen hatte, sah sich der Dichter Paul Celan (1920–1970) mit der ruppigen Ablehnung seiner Gedichte konfrontiert. Celan las dort neben der „Todesfuge“ einige Liebesgedichte, darunter einen Text, den er später, in seinem persönlich designierten Exemplar des Gedichtbands Mohn und Gedächtnis, seiner unglücklichen Geliebten Ingeborg Bachmann (1926–1973) widmete.
Das 1948 in Wien entstandene Gedicht bedient sich durchaus noch aus dem Motiv-Repertoire des traditionellen Liebesgedichts, wobei die weichen, fließenden Metren des Anapäst und des Daktylus die rhythmischen und lautlichen Suggestionen des Textes verstärken. Die Liebe siedelt hier in einem imaginären Raum zwischen Sommer und Herbst oder an jenem real nicht existierenden Zeitpunkt, da die Nacht mit dem Morgen beginnt. Bleibt der Liebe also überhaupt kein Ort? Doch, denn da ist die Hoffnung, dass die Nacht das Ich zum Du „legt“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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