Rainer Maria Rilkes Gedicht „Vorfrühling“

RAINER MARIA RILKE

Vorfrühling

Härte schwand. Auf einmal legt sich Schonung
an der Wiesen aufgedecktes Grau.
Kleine Wasser ändern die Betonung.
Zärtlichkeiten, ungenau,

greifen nach der Erde aus dem Raum.
Wege gehen weit ins Land und zeigens.
Unvermutet siehst du seines Steigens
Ausdruck in dem leeren Baum.

1924

 

Konnotation

Auf einem Ausflug ins Wallis, die Rhone aufwärts bis nach Sierre, entdeckte Rainer Maria Rilke (1875–1926) im Juli 1921 einen alten Wohnturm aus dem 13. Jahrhundert, der in seinen letzten Lebensjahren zu seinem Refugium wurde: Château de Muzot. Dort entstanden einige rhythmisch vollkommene Gedichte, weiche Melodien, die vom Herannahen eines neuen Lebensgefühls künden. Alle „Härte“ schwindet in dem im Februar 1924 entstandenen Gedicht angesichts des erwachenden Frühlings zugunsten einer zarten Durchlässigkeit.
Mit den Metamorphosen der Natur korrespondieren die Veränderungen im poetischen Verfahren: In der Verschränkung von Natur- und Vers-Reflexion deuten sich Nuancen („kleine Wasser“) an, die ihre „Betonung ändern“. Die Erfahrung einer sich öffnenden, weitenden Frühlingslandschaft manifestiert sich in den „Zärtlichkeiten“ des Versbaus.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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