Richard und Paula Dehmels Gedicht „Die Schaukel“

RICHARD UND PAULA DEHMEL

Die Schaukel

Auf meiner Schaukel in die Höh,
was kann es Schöneres geben!
So hoch, so weit! Die ganze Chaussee
und alle Häuser schweben.

Weit über die Gärten hoch, juchhee,
ich lasse mich fliegen, fliegen;
und alles sieht man, Wald und See,
ganz anders stehn und liegen.

Hoch in die Höh! Wo ist mein Zeh?
Im Himmel! ich glaube, ich falle!
Das tut so tief, so süß dann weh,
und die Bäume verbeugen sich alle.

Und immer wieder in die Höh,
und der Himmel kommt immer näher;
und immer süßer tut es weh –
der Himmel wird immer höher.

1900

 

Konnotation

Für die Monogamie war der vitalistische Dichter und Lebenskünstler Richard Dehmel (1863–1920) nicht zu gewinnen; durchaus aber für eine poetische Kollaboration mit seiner langjährigen Ehefrau Paula Dehmel (geborene Oppenheimer, 1862–1918). Seine Ehe mit Paula Dehmel versuchte er immer wieder mit Zusatz-Frauen aufzurüsten (u.a. mit der von seinem Widerpart Stefan George inbrünstig verehrten Ida Coblentz), was seine Frau nach 1900 mit der Scheidung beantwortete. Trotz aller erotischen Platzkämpfe haben Richard und Paula Dehmel gemeinsam Kindergedichte geschrieben – wobei bei den meisten Texten Paula Dehmel die Federführunq hatte.
1900 und 1903 veröffentlichen die Dehmels zwei Bände mit Kindergedichten: Fitzebutze und Rumpumpel. Vor allem Paula versteht es dabei, Töne anzuschlagen, die – wie es ihr Bewunderer Erich Mühsam (1878–1934) sagt –, „in der Seele der kleinen Kinder wiederklingen“. Dass die kindliche Schaukel-Bewegung über die engen Begrenzungen des Daseins hinweg tragen kann – das wird in diesem Gedicht eindrucksvoll festgehalten.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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