Sarah Kirschs Gedicht „Fahrt I“

SARAH KIRSCH

Fahrt I

Die Erde in unserer Gegend ist übel dran
Der Winter wie Krieg ging seine Fetzen
Verdrecktes Verbandzeug zerfallen, da sehn
Narben und Schorf hervor, die Erde
In unserer Gegend ist grindig

Filziges bleiches Gras Schamhaar
Reckt sich über die größten Löcher, die Erde
Ist tonig sanft blutig stöhnt unterm trocknen Himmel

Die durchsichtigen Bäume sind so leicht zu verletzen
Daß sie ganz still stehn Modelle aus Glas

Nur Schwertlilien im Bahnwärtergarten
Schlagen sich unbeirrt aus der Erde
Die Blattspitzen zerreißen dabei
Die ersten haben es am schwersten

1967

aus: Sarah Kirsch: Sämtliche Gedichte. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005

 

Konnotation

Mit ihrem genauen Blick auf Phänomene der Natur hat die studierte Biologin und Dichterin Sarah Kirsch (geb. 1935) schon sehr früh den Protest der DDR-Literaturpolitik provoziert. Bereits ihrem Debütband Landaufenthalt (1967) wurde „eine Spur von unfruchtbarem Trotz“ unterstellt. Bei der „Fahrt“ des lyrischen Subjekts durch eine industriell bearbeitete Landschaft wird kein glücklich entwickelter Sozialismus sichtbar, sondern nur ein Panorama der Zerstörung.
Die Ordnung der Natur ist hier schwer beschädigt, und Schuld daran trägt nicht allein der Einbruch des Winters. Zwar werden keine Ursachen für den „üblen“ Zustand der „Gegend“ benannt, aber allein den Befund eines Zerfallsprozesses kann man als Anklage deuten. Nur an einem einsamen Ort – dem Bahnwärterhaus – kann sich organisches Wachstum noch ungestört entfalten. Mit ihrem störrischen Natur-Enthusiasmus geriet Sarah Kirsch immer häufiger in Konflikt mit den Literaturpolitikern. Im August 1977 verließ sie die DDR, 1983 ließ sie sich in einem kleinen Dorf in Schleswig-Holstein nieder.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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