Theodor Storms Gedicht „Meeresstrand“

THEODOR STORM

Meeresstrand

Ans Haff nun fliegt die Möwe,
Und Dämmrung bricht herein;
Über die feuchten Watten
Spiegelt der Abendschein.

Graues Geflügel huschet
Neben dem Wasser her;
Wie Träume liegen die Inseln
Im Nebel auf dem Meer.

Ich höre des gärenden Schlammes
Geheimnisvollen Ton,
Einsames Vogelrufen –
So war es immer schon.

Noch einmal schauert leise
Und schweiget dann der Wind;
Vernehmlich werden die Stimmen,
Die über der Tiefe sind.

1854

 

Konnotation

In der romantischen Dichtung gibt es noch ein dialogisches Verhältnis zwischen der Natur und dem lyrischen Ich; die Landschaft wird zum Zeichen und Resonanzraum für die Empfindungen des lyrischen Subjekts. Bei Theodor Storm (1817–1888), dem großen norddeutschen Landschaftsdichter, ist die kosmische Ordnung zerbrochen; der Mensch hat sich abgesondert von der Natur. Er hat nichts mehr mit den Naturerscheinungen zu tun und wird teilnahmslos seiner Einsamkeit und Vergänglichkeit überlassen. So beispielhaft in dem 1854 entstandenen Gedicht „Meeresstrand“.
Der Schauplatz des Gedichts ist von Bedeutungen entleert, die Naturkreisläufe – Dämmerung, Vogelflug, Nebel und Stimmen über der Tiefe – sind von eigentümlicher Fremdheit. Es bleibt auch unklar, woher die Stimmen „über der Tiefe“ rühren: Sind es Tote, Geister, umherirrende Seelen? Wenn sie denn noch eine Botschaft an die Lebenden überbringen, dann ist sie nicht mehr zu entziffern.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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