Norbert Hummelt: Zu Gottfried Benns Gedicht „Acheron“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Gottfried Benns Gedicht „Acheron“ aus Gottfried Benn: Gedichte. In der Fassung der Erstdrucke. 

 

 

 

 

GOTTFRIED BENN

Acheron

Ein Traum: – von Dir! Du Tote schrittest kühl
im Durcheinander streifender Gestalten,
die ich nie sah, – ein wogendes Gewühl,
mein Blick, der suchte, konnte dich nicht halten.

Und Alles starrte wie aus fremder Macht,
denn Alles trank sich Rausch aus weißen Drogen,
selbst Kindern ward ein Lid herabgezogen
und in die Falte Salbe eingebracht.

Zwei Knaben führtest du, – von mir doch nicht,
von dir und mir, – nein, ich erhielt doch keine,
auch ließest du mich dann nicht so alleine
und zeigtest mir nur flüchtig dein Gesicht,

Nein, du – Diana einst und alabastern,
ganz unvermischbar jedem Fall und Raum –
schwandest in diesem Zug aus Schmach und Lastern
und littest – sah ich so – in diesem Traum.

 

 

Das dunkle und flüchtige von Traumbegegnungen

„Das Gedicht ,Acheron‘ stammt wohl aus dem vorigen Jahr“, schrieb Gottfried Benn im März 1949 an seinen Brieffreund, den Kaufmann Oelze. Sein Brief gibt uns einiges an die Hand, um dieses rätselhafte Gedicht einzuordnen, wenn es auch riskant sein mag, Selbstdeutungen eines Lyrikers zu folgen. „Es ist ein wirklicher, vom ersten bis zum letzten Wort erfolgter Traum“, bekennt Benn und beteuert geradezu, für den prekären Inhalt der Verse nicht persönlich haftbar zu sein: „Nie in meinem Leben wäre ich darauf gekommen, nie habe ich etwas darüber gelesen oder gedacht, dass man Kindern ein Lid herunterziehn könnte, um Kokainsalbe oder dergl. darein zu applizieren“, lässt er Oelze wissen, wohl in der Annahme, dass der ihm solche Phantasien zutrauen könnte. In seiner frühen Zeit hatte der Arzt und Dichter Benn Experimente mit Drogen gemacht, die er in Verse ummünzte:

O, Nacht! Ich nahm schon Kokain,
Und Blutverteilung ist im Gange.

Auch in diesem berühmten Gedicht von 1916 fällt schon das Wort „Traum“, eine von Benns Lieblingsvokabeln. Später scheute er sich nicht, es ganz traditionell auf „Raum“ oder auf „Schaum“ zu reimen. Immer aber stand der Traum für etwas, das nur dem lyrischen Ich gehörte. „Den Traum alleine tragen“, dieser Vers aus einem der vielen Abschiedslieder, die Benn für Frauen schrieb, die er verließ, wurde zur Chiffre für innere Welten, die nur der Dichter schauen kann. Wieso nur er? Träume haben wir doch alle, auch wenn wir sie selten aufschreiben. Im Traum überschreitet das Ich die Schwelle zum Unbewussten, rührt an Erfahrungen, die dem Tagbewusstsein unzugänglich sind; etwas dämmert herauf, das wir vergessen wollten, weil es peinlich oder schmerzhaft ist.
In diesem Sinne waren Benn die Bilder nicht geheuer, die er im Traum sah und die er in Gestalten und Motive der griechischen Mythologie übersetzte, um sie so von sich abzurücken. Es ist eine Hadesfahrt, die wir mit ihm schauen. Acheron ist einer der Flüsse der Unterwelt, über die der Fährmann Charon die Toten setzt. Und eine der Toten erkennt der Dichter so genau, dass wir sie mit Hilfe des Oelze-Briefs identifizieren können: Es ist Hertha von Wedemeyer, seine zweite Ehefrau, die sich kurz vor Kriegsende auf der Flucht vor den Russen das Leben nahm. Benn hatte sie allein nach Berlin vorausgeschickt und blieb selbst noch in Landsberg an der Warthe, wo er als Truppenarzt stationiert war. Der Gedanke, dass er sie dadurch dem Tod ausgeliefert hatte, peinigte und beflügelte ihn zugleich. Einige seiner stärksten Gedichte aus den vierziger Jahren, wie „Orpheus’ Tod“, reagieren unmittelbar auf Herthas Tod. Die zu Lebzeiten unscheinbare Hausfrau, die ihrem Mann die Socken stopfte und die Manuskripte abtippte, wird darin als Eurydike besungen oder, wie hier, zur Jagdgöttin Diana stilisiert. In „Acheron“ holen Benn, der nun zum dritten Mal verheiratet ist, die Bilder seiner verstorbenen Frau wieder ein. Wir bräuchten das aber gar nicht zu wissen und können doch schon von der ersten Strophe hingerissen sein, die das Dunkle und Flüchtige von Traumbegegnungen in suggestive Verse fasst.
Wirklich beängstigend ist dann die zweite Strophe mit den Kindern und dem Kokain – hier überzeugt der Traum durch die typisch alogische Verknüpfung der Bilder, denn wer im alten Hades hätte schon „weiße Drogen“ geschnupft? Auch die Präsenz einer anonymen „fremden Macht“, von der „Alles“ beherrscht wird, kennt mancher aus seinen Albträumen. Aus der Hadesfahrt wird ein Drogentrip, und nur im Traum kann Benn betrauern, dass seine Ehe mit Hertha kinderlos blieb. Im wirklichen Leben war das für ihn ein Segen, denn er konnte mit Kindern nichts anfangen und hatte seine Tochter Nele nach dem Tod seiner ersten Frau einer Pflegefamilie anvertraut. Menschliches Leid, gab er einmal kühl zu Protokoll, interessiere ihn nicht, nur Leid der Kunst. Damit werden wir in diesem Gedicht reichlich versorgt. Am Ende leiden beide um die Wette: die Tote, die in einem „Zug aus Schmach und Lastern“ schwindet, was so klingt, als würden noch in der Unterwelt dionysische Feste gefeiert, und der Verlassene, der mit den Bildern allein bleibt, die der Traum ihm zeigte.
Übrigens hat er Oelze nicht ganz die Wahrheit gesagt, denn vom ersten bis zum letzten Wort kann er dieses Gedicht unmöglich geträumt haben. Nicht einmal Benn wird die Inhalte seines Unbewussten in fünfhebigen Versen mit Kreuzreim und umarmendem Reim vorgefunden haben. Die Kunst des Dichters erweist sich darin, dass er mit scheinbar leichter Hand einen dunklen Gesang geschaffen hat, der seine strenge Form nicht merken lässt und der uns vorkommen kann, als bestünde er nur aus flüchtigen Bildern, die wir selbst geträumt haben.

Norbert Hummeltaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierunddreißigster Band, Insel Verlag, 2011

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