Paul-Henri Campbell: Zu Giorgos Seferis’ Gedicht „Morgens“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Giorgos Seferis’ Gedicht „Morgens“ aus Giorgos Seferis: Logbücher

 

 

 

 

GIORGOS SEFERIS

Morgens

Mach die Augen auf und entfalte
ganz das schwarze Tuch spann es
reiß die Augen auf schau genau hin,
konzentrier dich
konzentrier dich jetzt weißt du
dass man das schwarze Tuch entfaltet
weder im Schlaf noch im Wasser
noch wenn die schlaffen Lider hängen
und schrägwärts sinken wie Muscheln
jetzt weißt du dass die schwarze Trommelhaut
deinen ganzen Horizont bedeckt
wenn du erholt die Augen öffnest, etwa so.
Zwischen Frühlingsanfang und Herbstbeginn
Sind hier die fließenden Gewässer hier der Garten
hier summen Bienen in den Zweigen
und brummen in die Ohren eines Säuglings
und da die Sonne! Und die Paradiesvögel
eine große Sonne, größer als Licht.

 

In seinen politischen Tagebüchern

notiert Giorgos Seferis am 8. Juni 1937:

Wir lernten uns an einem Augustmittag kennen, am Strand, wo wir nebeneinander unsere Körper trocknen ließen. Ein schwarzes, nasses Tuch bedeckte ihr Gesicht. Ich beugte mich zu ihr, sie zu küssen. Ihr Kopf blieb fremd, gleichgültig, mit zusammengebissenen Zähnen und kühlen Lippen. Dann zog sie jäh das Tuch zur Seite, wie man ein Buch öffnet.

Wie eine Fermate wirkt dieses Gedicht des Nobelpreisträgers Seferis (1900–1971), das die Begegnung mit seiner späteren Frau Marika (Maro) Lontou auf der Insel Ägina beschreibt, in dem weltgeschichtlich bewegten Drama, das sich in den Gedichten seiner Logbücher zeigt. Das öffentliche Leben wird unter dem autoritären Metaxas-Regime zunehmend mit Nazi-Deutschland gleichgeschaltet. Der im heutigen Izmir (Smyrna) geborene Dichter erlebte eine Jugend der Flucht und der Zerstörung der Welt seiner Kindheit. Nun aber scheint ihm sein Land wie „ein Alptraum mit minimalen lichten Unterbrechungen, die von tiefer Sehnsucht erfüllt sind. Sich nach der Heimat zu sehnen und zugleich dort zu leben, das ist wirklich bitter.“
Seine Übersetzerin Andrea Schellinger beschreibt entlang der atemberaubenden Einträge seiner Logbücher die Wirkung dieser Erfahrungen auf sein Schreiben, das häufig als Neubeginn der griechischen Literatur besungen worden ist: Am Tag des Einmarsches deutscher Truppen heiraten Giorgos und Maro, setzen sich aber bald nach Kreta ab und begeben sich sodann zur griechischen Exilregierung nach London, die ihn im Sommer 1941 als Diplomat nach Pretoria (Südafrika) schickt, dann – wenige Monate später – nach Kairo versetzt, das aber von Rommels Afrikakorps eingenommen wird, sodass sie in Jerusalem landen. Was sich in diesen Logbüchern offenbart, ist eine kraftvolle Poesie, die den Verfall und Abfall Griechenlands von der Humanität protokolliert, doch zugleich nach der Befreiung des Landes durch die Alliierten auch Verse beinhaltet, darin der Optimismus eines neuen Anfangs unauslöschlich verbürgt ist, da der Dichter während das „schwarze Tuch“ über sein Land gespannt war, immer „eine große Sonne, größer als Licht“ erblicken konnte.

Paul-Henri Campbell, Volltext, Heft 3, 2019

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