Paul-Henri Campbell: Zu JL Williams’ Gedicht „mäuschen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu JL Williams’ Gedicht „mäuschen“ aus JL Williams: After Economy. –

 

 

 

 

JL WILLIAMS

mäuschen

ab in den ofen mäuschen
aaaaaaaahuscht dahin
ES SIND DEINE ELTERN
sie erzählen die geschichte deiner geburt
erzählen sie jedem brot beim backen
aaaaaaaaaaaaaaaaund klempner stopfen
aaaaaaaaaaaaaaaaihre mäuler
aaaaaaaaaaaaaaaamit jenem ASCHENBROT
dies macht dich nicht gerade zur maus
aaaaaaaaaaaaaaaaweil du gelitten hast
aaaaaaaaaaaaaaaawie engel es tun
der duft aus dem ofen
wird verschwunden sein aus deinem gedächtnis
und du wirst vergeben
den menschen die den ofen bauten
du wirst ein bildnis malen
von deinen eltern in ihrer jugend
mit beinen und armen und augen
aaaaaaaaaaaaaaaaunverbrannt

 

JL Williams,

wie sich die in New Jersey geborene und seit Langem in Schottland lebende Dichterin Jennifer nennt, ist aus einem harten Holz geschnitzt. Einige Jahre lang war sie eine Herzkammer der Scottish Poetry Library, denn neben poetischer Einfühlung verfügt JL Williams über eine unfassbare Organisationsgabe. Ihr Werk wird phrasiert von zahlreichen Kollaborationen mit bildenden Künstlern, vor allem aber mit Musikern. So verfasst sie z.B. 2016 das Libretto Snow für eine Schneewittchenproduktion mit dem Ensemble The Opera Story oder entwickelt mit der Künstlerin Catherine Street eine Audioinstallation für die renommierte Talbot Rice Gallery in Edinburgh. Dieses Gedicht ist ihrem letzten Band After Economy (2017) entnommen. After Economy suhlt sich allerdings kaum in spätkapitalistischer Ästhetik, ist keine inbrünstig-resignierte Melange aus Selbsterforschung und Reflexion, sondern wird getragen von ausgedehnten Metaphern mit einem Sinn fürs Abstreifen atavistischer Kränkungen. Die kleinen Nager hier aus „Little Mice“ wirken spielerisch; keinesfalls sind sie zerebral zerstreute Mäuse; eher könnten sie aus Äsops Fabeln hervorhuschen oder aus Robert Burns’ Gedicht „To a Mouse“ (1785), das bekanntlich John Steinbeck seinem Of Mice and Men (1937) vorangestellt hatte. Die Verschiebung vom komplexen Bild zur thetischen Sentenz jedenfalls, die JL Williams hier vorführt, findet sich bei ihrem Edinburgher vorausgeborenen Burns auch. Aus den Leiden eines Kleinsäugers wird plötzlich ein Lob des porösen Gedächtnisses: „und du wirst vergeben“. Bei Burns heißt es in der letzten Strophe: „The present only toucheth thee“. Mäuschen: nur das Unmittelbare zählt, das Jetzt, was direkt vor Dir liegt. Die Moral der Maus wird bestimmt vom Imperativ der Vergesslichkeit, der obliviate Imperativ. Ein Mut (oder Zwang oder Fähigkeit) zum ständigen Neubeginn. „du wirst ein bildnis malen / […] / unverbrannt“. Auch dies ist eine Möglichkeit, um der von Hybris vernebelten Nostalgie zu entgehen.

Paul-Henri Campbell, Volltext, Heft 1, 2018

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