Polnische Literatur in Übersetzung von Karl Dedecius

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch Polnische Literatur in Übersetzung von Karl Dedecius

Polnische Literatur in Übersetzung von Karl Dedecius

KARL DEDECIUS – EINE WÜRDIGUNG

Was lasen wir im Mai dieses Jahres in den Tageszeitungen? Ein großer literarischer Verlag, der offensichtlich in eine wirtschaftliche Notlage geraten war, erklärte, die Veröffentlichung von drei Romanen polnischer Autoren sei zu viel. Was mich an dieser Aussage erschreckt hat, ist die Tatsache, dass hier nicht nach qualitativen, sondern nach nationalen Maßstäben gemessen wird. Kunst, so scheint mir es, bildet jedoch eine Einheit, die sich nicht in nationale Kategorien einfangen lässt, sondern große Kulturräume übergreift. Gibt es eine deutsche, italienische, polnische Musik, ist es in der bildenden Kunst überhaupt wesentlich, ob etwa Veit Stoß Deutscher oder Pole war? Hier wirkt eine europäische Tradition, die nach nationalen Kategorien nicht aufspaltbar ist, wenn das auch in den beiden letzten Jahrhunderten immer wieder versucht wurde. Wer den Dresdner Zwinger, den Pariser Louvre besucht, wird unmittelbar von allen Kunstwerken unabhängig von ihrer nationalen Zugehörigkeit angesprochen.
Doch gilt dies auch für die Dichtung? Hier begegnet man einer Grenze, die wir in aller Regel nicht zu überschreiten vermögen: der Sprachbarriere. Selbst Mehrsprachigkeit, zu allen Zeiten ein Bildungsziel – das allerdings zu jeder Zeit unterschiedlich interpretiert wurde –, hilft hier nur in seltenen Fällen, die Grenze zu überschreiten. Denn selbst, wenn das heutige Ideal einer Sprachverständigung zwischen Menschen verschiedener Sprachen erreicht wird, bleiben zwei Probleme bestehen, zum einen, dass es nicht möglich erscheint, alle zu unserem Kulturbereich gehörenden Sprachen zu beherrschen, zum anderen, dass eine auf Konversation oder Fachdiskussion konzentrierte Sprachbeherrschung gerade bei der Rezeption von Literatur nicht ausreicht, um das Wesentliche dieser Kunstgattung zu erfassen. Ist also, so muss man sich angesichts dieses Phänomens fragen, Literatur doch ein nationales Gut, ist das Nationale hier doch stärker als das Geistige?
Zugleich löst diese Frage eine weitere Frage aus: Ist die Sprache ein nationales, oder nicht vielmehr ein völkisches Gut? Karl Dedecius hat in seiner Jugend in Łódź ein polnisches Gymnasium besucht. Seine Klasse wurde von Schülern aus vier Nationen gebildet, neben Polen und Deutschen auch Franzosen und Russen. Sie gehörten vier Religionen an: Katholiken, Protestanten, Juden und russisch Orthodoxe. In nationaler Abstammung wie im religiösen Glauben getrennt, waren sie doch in der Sprache vereint. Hier greift die Sprache über das Nationale hinaus und reicht bis in die gemeinsame kulturelle Ebene zurück. Und das ist in Polen beileibe kein Einzelfall. Lassen Sie mich nur einen weiteren Fall wegen des umgekehrten Vorzeichens nennen. Eine Generation früher hat der polnische Schriftsteller Stanisław Przybyszewski in Thorn das deutsche Gymnasium besucht, was ihn ebenfalls für ein Leben prägte. Er ist literarisch wie journalistisch zweisprachig geblieben. Karl Dedecius erinnert an ihn in seinem Werk Das junge Polen,1 das mit einem Aphorismus von Przybyszewski schließt.
Die sprachliche Fundierung reicht also weit über den nationalen Aspekt hinaus. So hat Karl Dedecius in seinem literarischen Schaffen die Sprache über den nationalen Rahmen hinausgehoben und ihr einen kulturellen, das heißt gesamtmenschlichen Rang verliehen. Diese Vertrautheit mit mehreren Sprachen – eben nicht nur des Deutschen und des Polnischen – gibt ihm jenes Gespür für die künstlerische Aussagekraft der Literatur. Damit überwindet er – wie er es selbst formuliert – „den lokalpatriotischen Lattenzaun der nationalen Engstirnigkeit“.2 So hat er sich nicht nur mit der polnischen Literatur befasst. Er hat auch aus anderen slawischen Sprachen übersetzt, etwa aus dem Russischen – z.B. Sergej Jessenins Gedichte,3 fünf Werke von Wladimir Majakowskij4 sowie die Gedichte von Gennadij Ajgi5 und Jossif Brodskij6 – oder aus dem Serbokroatischen – Vasko Popas Gedichte7 und Nebenhimmel8 in deutscher Sprache veröffentlicht. Das Russische lernte er während seiner Gefangenschaft. Es diente ihm nicht nur zur Lebensbewältigung in einer schweren Zeit, sondern war ihm auch ein Helfer in einer geistigen Not.
Das ließ ihn auch die Differenz empfinden, die die Sprache als literarisches Ausdrucksmittel von der politischen Aussage unterscheidet. Sein Leben wurde geprägt von einem Wechsel unterschiedlicher politischer Systeme, die nicht nur zeitlich, sondern auch regional nebeneinander bestanden, das politische Spannungsfeld eines auslandsdeutschen Nationalismus, seit 1940 der deutschen Nationalsozialisten, dann nach seiner Gefangennahme in Stalingrad den russischen, anschließend den mitteldeutschen Kommunismus, schließlich die westdeutsche Euphorie der Bundesrepublik.
Diese gegensätzliche Vielheit staatlicher Systeme, die seinen Lebenslauf so nachhaltig beeinflusst hat, lehrte ihn die Bedeutung der politischen Ereignisse auf die dichterische Vorstellungskraft zu ermessen. Der Dichter – so forderte er in einem Vortrag 1968 – „verschweige die Wirren der Welt, die Schicksalstage, die reißenden, nicht“ – und das gilt natürlich auch für den Übersetzer.9 So verwundert es nicht, dass eine seiner ersten Veröffentlichungen die Übersetzung von Versen gefallener polnischer Dichter ist: „Leuchtende Gräber“, ein Titel von metaphysischem Rang. Wo zeigen sich die „reißenden Schicksalstage“ deutlicher als hier? Auch die Aufnahme der fiktiven Briefe an Tadeusz Różewicz über die „Lyrik nach Auschwitz“ in seine Aufsatzsammlung Von Polens Poeten10 gehört in diesen Zusammenhang.
Damit steht Karl Dedecius bei aller Distanz zu den aktuellen politischen Ereignissen und Verlautbarungen mit seinem Werk in einem engen Verhältnis zu dem öffentlichen Geschehen, zwar nicht zur Tagespolitik – weder der deutschen noch der polnischen –, jedoch zu einer Weltpolitik in umfassendem Sinn als einem Streben nach einer Friedensordnung, einem versöhnlichen Zusammenleben der Menschen vor allem in Europa, das für ihn eine „futurologische Aufgabe, ein auf Phantasie und Mut angewiesener Blick in die Zukunft“ darstellt.11
So hat er sich denn auch über das deutsch-polnische Verhältnis hinaus stets um eine Friedensordnung bemüht und zum Beispiel 1993 ein Wörterbuch des Friedens herausgegeben, ein „Brevier“, in dem unter alphabetisch geordneten Stichwörtern von Aggressivität bis Zertifikat – ausschließlich deutsche Autoren zu Wort kommen.12 Im Vorwort mahnt er „Das Gewissen der Sprache“ an. Auch in der politischen Auseinandersetzung der Nachkriegszeit hat er eine ausgleichende Haltung bezogen. Ihm kam es auf den dichterischen Rang, nicht auf die politische Haltung an. Dafür hat er denn auch von beiden Seiten entsprechende Ehrungen erfahren.13
Dieses politische Bekenntnis zu einem Humanismus wurde besonders 1990 durch die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels durch den Börsenverein des Deutschen Buchhandels gewürdigt. Gerade die in ihm sich manifestierende Verbindung von Literatur und Politik charakterisiert die politischen Intentionen von Karl Dedecius treffend. Darauf hat Heinrich Olschowsky – von gänzlich anderer politischer Voraussetzung ausgehend – in seiner Laudatio zur Friedenspreisverleihung hingewiesen.14
Dabei wurde Karl Dedecius von den politischen Konfrontationen in Europa besonders hart getroffen. Sein Abitur hat er 1939 noch in der deutsch-polnischen Einheit abgelegt. Dann zwang ihn der polnische Staat, ein Jahr später der deutsche Staat in den Arbeitsdienst, schließlich zum Militär, das er mit aller schrecklichen Konsequenz durchlitten hat. Erst nach sieben Jahren russischer Gefangenschaft wandte er sich 1950 nach Deutschland, da seine Heimatstadt Łódź ihm keine Heimstatt mehr bot. In Weimar, in der inzwischen seine Verlobte und spätere Ehefrau lebte, trat er – nach kurzer Zeit in der staatlichen Finanzverwaltung – mit dem Deutschen Theaterinstitut in Verbindung. Dort konnte er in der Stellung als Oberassistent und wissenschaftlicher Redakteur seine privaten Erfahrungen mit der russischen Sprache beruflich nutzen, indem er die russische Dramatik der Gegenwart für die Weimarer Bühne erschloss. Schließlich wechselte er 1952 in die Bundesrepublik und trat – ebenfalls nach einem kurzen Gastspiel in der Presse – in Verbindung zur Wirtschaft. Das war sicherlich nicht seine Wunschvorstellung. Doch hat er fünfundzwanzig Jahre bei dem Versicherungskonzern Frankfurter Allianz eine Aufgabe erfüllt, die für viele eine Lebensaufgabe gewesen wäre.
All dies hat ihm jedoch kein neues Lebensziel gegeben, wenn er auch beruflich mit dem aktuellen Zeitgeschehen durch diese Aktivitäten immer wieder mit einer neuen Welt konfrontiert wurde. Denn vor aller Notwendigkeit dieser Brotarbeit blieb ihm weiterhin die Literatur wichtig, zuerst als eine ernste Freizeitbeschäftigung, dann immer mehr als Hauptteil seines tätigen Lebens, stets mit dem Ziel einer kulturellen Vermittlung. So hat er bereits 1959 eine seiner ersten Übersetzungen polnischer Gedichte mit dem charakteristischen Titel Lektion der Stille15 veröffentlicht, der im Laufe der Jahrzehnte eine Fülle von Werken folgte. Ihre Zahl überschreitet in den vierzig Jahren, die seit der Erstveröffentlichung vergangen sind, die Grenze von hundert Titeln.16 Dabei hat er im Laufe seines Lebens rund 300 polnische Autoren übertragen.17
Seine eigentliche Aufgabe fand er jedoch im Polen-Institut, das er im Jahre 1979 gründen und im Mai 1980 eröffnen konnte, wobei ihn die Bundesländer Hessen und Rheinland-Pfalz sowie die Stadt Darmstadt tatkräftig unterstützt haben. So hat z.B. die Stadt Darmstadt mit dem Josef-Maria-Olbrich-Haus, einem der bedeutenden Jugendstilhäuser auf der Mathildenhöhe, dem Institut eine würdige Heimstatt gegeben. Damit konnte das Polen-Institut an eine kulturelle Tradition in Darmstadt anschließen, die auf den Großherzog Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt und den Grafen Hermann Keyserling zurückreicht. Eine glückliche Fügung brachte diese Villa durch eine mäzenatische Schenkung in den Besitz der Stadt mit der Auflage, sie für „wissenschaftliche, kulturelle und Friedensarbeit gewidmete Zwecke“ zu nutzen. Was lag da näher, als sie dem Polen-Institut zu überlassen, welche andere Einrichtung hätte diese testamentarische Auflage der Wissenschafts-, Kultur- und Friedensförderung besser erfüllen können?
Karl Dedecius hat die Erwartungen, die sich an diese Gründung richteten, schon in kurzer Zeit erfüllen, ja übertreffen können. Der wissenschaftliche wie kulturelle Anspruch wurde vor allem durch die Polnische Bibliothek erreicht, in der das Institut bereits bis 1985 – also innerhalb von nur fünf Jahren – fünf Titel vorlegen konnte, als erstes eine Übersicht über die polnischen Dichter vom Mittelalter bis zur Gegenwart.18 Diese Bibliothek umfasst neben literaturwissenschaftlichen Studien auch historische Abhandlungen über das polnische Mittelalter, über Polen im Exil oder die polnische Aufklärung sowie Übersetzungen aus fast allen literarischen Gattungen. Sie wurde tatkräftig unterstützt und gefördert vom Suhrkamp Verlag und seinem Inhaber Siegfried Unseld. Die „Friedensarbeit“, die Bemühungen um eine Überwindung der Jahrhunderte alten Gegensätze, findet nicht nur in den zahlreichen Begegnungen mit polnischen Autoren, sondern auch in der Förderung des Jugendaustausches statt.
Welche Bedeutung diese Gründung einer deutsch-polnischen Kultureinrichtung hatte, die in einer Zeit, als noch der Eiserne Vorhang Europa teilte, diese politische Trennung geistig – und vor allem auch menschlich – erfolgreich zu überwinden half, zeigt sich in der Bereitschaft der großen deutschen Kulturförderungseinrichtungen, neben der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes vor allem der Robert-Bosch-Stiftung, die die Herausgabe der Polnischen Bibliothek ermöglichte, oder der Stiftung Volkswagenwerk, der das Institut den Aufbau seiner wissenschaftlichen Bibliothek verdankt. Dieses Engagement gerade für das Polen-Institut ist natürlich kein Zufall. So haben sich denn auch namhafte Politiker und Publizisten aktiv im Polen-Institut engagiert. Es seien nur Helmut Schmidt und Marion Gräfin Dönhoff genannt.19
Neben der unermüdlichen Aktivität seines Gründers – und natürlich auch seiner Mitarbeiter – ist es vor allem das Land Polen, das hier ein Paradigma für eine neue innereuropäische Verständigung abgibt. Denn welches Land ist besser geeignet, die Grenzen völkischer Enge zu überschreiten? Keine Region in Europa ist über die Jahrhunderte so sehr von einer Vielsprachigkeit geprägt gewesen wie diese. An diese Tradition wieder anzuknüpfen nach einer katastrophalen Nationalisierung, ist eine wahre Rückkehr zu den Wurzeln Europas, ja zu der gemeinsamen Wurzel der Menschheit. Karl Dedecius gibt für diese Stellung Polens in der europäischen Geschichte ein typisches Beispiel in seinem Nachwort zu den Gedichten von Zbigniew Herbert, in dem er den „Völkerjahrmarkt“ der Stadt Lemberg beschreibt, jener Stadt, in der „uralte Handelsstraßen des Orients und Okzidents mündeten und Kulturen scheinbar kontroverser Traditionen wie die slawische, die türkische und die habsburgische unter einem Hut staken“, mit ihren „mächtigen Minderheiten der Ukrainer, Juden und Armenier“.20 Hier weisen die Aufgaben des Polen-Instituts, die Aktivitäten seines Gründers und Leiters über die deutsch-polnischen Beziehungen hinaus auf die Lösung eines allgemeinen Problems des menschlichen Zusammenlebens: Vergangenheitsbewältigung als Zukunftsgestaltung.

Nun habe ich viel über die politischen Intentionen und organisatorischen Aktivitäten von Karl Dedecius gesagt. Doch bilden diese nur eine sekundäre Schicht seines Wesens. In erster Linie ist Karl Dedecius ein Dichter – ich sage dies betont, sehr wohl wissend, dass seine große schöpferische Kraft in der Übersetzung liegt.
Diese Gleichsetzung von Übersetzer und Dichter gilt natürlich nicht allgemein. Sie trifft jedoch in besonderem Maße auf Karl Dedecius zu. Diese Verwandtschaft haben vor allem Dichter empfunden. So hat Tadeusz Różewicz in einem Karl Dedecius gewidmeten Sonett diese Verwandtschaft treffend charakterisiert:

AN DEN ÜBERSETZER K. D.21

Du übersetzt
mein gedächtnis
in dein gedächtnis
mein schweigen
in dein schweigen

das wort leuchtest du aus
mit dem wort
hebst das bild
aus dem bild
förderst das gedicht
aus dem gedicht zutage

verpflanzt
meine zunge
in eine fremde

dann
tragen meine gedanken
früchte
in deiner sprache

Und Witold Wirpsza schließt sein Widmungsgedicht an Karl Dedecius mit den Zeilen:

Die Sphäre ist dieselbe. Die Sphäre ist ganz anders.22

Sprache als Welterfahrung setzt eben eine Verbindung von Sprachen voraus, die die Eigenheiten jeder Sprache wahrt und zugleich transformiert. Diese Transformation stellt das Lebenswerk von Karl Dedecius dar. Vordergründig ist er ein Vermittler des Polnischen. Doch reicht seine Wirkung weit über diese Tätigkeit hinaus. Das zeigen seine zahlreichen Arbeiten zur Dichtungs- und Übersetzungstheorie, auch hier mit Rückgriff auf polnische Poetiken des 20. Jahrhunderts, z.B. von Zbigniew Bierikowski sowie Julian Przyboś und Czesław Miłosz, die beide Dichtung und Poetik eng verbinden.23
Was also, so muss man fragen, ist denn eigentlich übersetzen? Karl Dedecius hat sich eingehend mit den verschiedenen Formen und Zielen des Übersetzens auseinandergesetzt. Eine eigene Veröffentlichung mit Texten zu diesem Thema aus fünfundzwanzig Jahren zeugt von diesem Bemühen um eine Klärung der Möglichkeiten und Grenzen des Übergangs von einer Sprache in eine andere. So hat er 1981 eine Taxonomie der Übersetzung aufgestellt unter dem bezeichnenden Titel „Quadratur des Kreises“.24 Dabei weist er vier Prioritäten des Übersetzens auf:

1. lexikalisch – wortgemäß – Worttreue
2. syntaktisch – satzgemäß – Stiltreue
3. phraseologisch – sinngemäß – Bedeutungstreue
4. artistisch – kunstgemäß – Formtreue

Dass dieses Quartett der Übersetzungsmöglichkeiten nicht eine gleichberechtigte Reihenfolge darstellt, ist jedem, der sich einmal mit Übersetzungen befasst hat, klar. Zu welchen sprachlichen Perversionen lexikalische Wortübersetzungen führen können, kennen wir aus zahlreichen kuriosen Computerübersetzungen. Wer nur auf Wörter blickt, verfehlt die Sprache. So tadelt Karl Dedecius denn auch jene Kritiker, die „die zwei oder zehn Worte zitieren, mit denen sie nachweisen, der Übersetzer habe die Sprache missverstanden, weil er die zwei oder zehn Worte anders wiedergegeben hat, als sie im Lexikon zu finden sind“.25
Doch weist Karl Dedecius darauf hin, dass es Möglichkeiten einer streng-wörtlichen Übersetzung gibt, die in besonderer Weise in die literarische Ebene verweisen. So zitiert er Walter Benjamin mit einem aus dem Polnischen wörtlich übersetzten Satz: „Hat genommen sich Axt zu bauen Haus“.26 Hier löst sich die Sprache von ihrer Mitteilungsfunktion und erreicht eine Charakterisierungsform, die nicht den Gegenstand der Aussage, sondern die Eigenheit des Sprechers und der Sprache wiedergibt.
Dabei verleiht die Einschränkung des lexikalischen Prinzips dem Übersetzer nicht einen uneingeschränkten Freipass für seine Wortwahl. In seiner in polnischer Sprache erschienenen Übersetzungstheorie „Notatnik tłumacza“27 gibt Karl Dedecius mehrere Beispiele für unnötig freie und damit unzureichende Übersetzungen aus dem Polnischen, die nur zum Teil auf mangelnden Sprachkenntnissen beruhen, sondern auch – wie zum Beispiel die Übertragungen der Gedichte von Wacław Rolicz-Lieder durch Stefan George28 – auf einem eigenwilligen Sprachbewusstsein. Karl Dedecius zeigt an einem dieser Gedichte, dass „drei falsch gewählte Wörter vollauf genügen, um ein Gedicht in seiner Stimmung gänzlich zu verändern“.29
Die zweite und dritte Form des Übersetzens bilden insofern eine Einheit, als sie eine gemeinsame Grundvoraussetzung verbindet. Karl Dedecius spricht hier vom „männlichen Faktor“ des Entstehungsprozesses einer Übersetzung. Er wird – wie Karl Dedecius sagt – durch die „philologische Disposition, ein Quantum von verarbeiteten Kenntnissen, fixierten Erfahrungen“ gebildet.30 Dass Karl Dedecius diesen Faktor beherrscht, zeigt er nicht nur in seinen Übersetzungen, sondern auch in den zahlreichen theoretischen wie historischen Arbeiten zur Übersetzungstheorie, etwa in seinem Werk „Notatnik tłumacza“ mit einer Geschichte der Übersetzungstheorien von der Antike bis zur Gegenwart nach Ländern geordnet sowie in seinen historischen Einzelstudien, zum Beispiel über Hieronymus, Wieland oder Horaz.31 Auf dieser philologischen Stufe wird das Wort-für-Wort-Übersetzen zu einem „Übertragen“, einem Hinübertragen von Bedeutungen aus einer Sprache in eine andere.
Doch damit sind die Möglichkeiten des Übersetzens noch keineswegs erschöpft. Dem „männlichen Faktor“ muss sich – vor allem bei der Übersetzung von Dichtung – der „weibliche Faktor“ zugesellen. „Der weibliche Faktor ist primär“, stellt Karl Dedecius fest, er geht als „biologische Voraussetzung“ dem Gedanken, den verarbeiteten Erfahrungen und den philologischen Kenntnissen voraus. Am Anfang alles Übersetzens stehen persönliche Erlebnisse. Bei Karl Dedecius reichen sie bis weit in seine frühen Lebensjahre zurück. Er nennt sein viertes Lebensjahr. Die damals gemachten Erfahrungen betrafen noch nicht die Sprache, sondern entzündeten sich an einer Wasserscheide, dem Gegenüber eines Flussufers. „Das andere Ufer“, es hat seitdem seinen Horizont bestimmt. So ist ihm seit früher Jugend übersetzen zum übersetzen geworden. Dieses Erlebnis hat ihn zum Fährmann gemacht.32
Das sind natürlich Metaphern. Doch zeigen sie, wie sehr Karl Dedecius von früh an der Metapher nahe stand. So spricht er denn auch von der Übersetzung als seiner „Geburtsurkunde“.33 Mit dieser Verbundenheit gleitet seine Sprache systematisch in die Dichtung. So ist er in seiner geistigen Haltung längst ein Dichter, bevor er ein Übersetzer wurde. In seiner Jugend hat er – wie so viele – selbst Gedichte verfasst. Doch hat er in der russischen Gefangenschaft gelernt, „hellhörig für das Fremde zu werden“, Seitdem stellt für ihn das Übersetzen eine Steigerung des Dichtens dar, vereint es doch individuelle Spontaneität mit kritischem Sprachbewusstsein.
Während also der Dichter von dem „Sprachquartett“, das uns Karl Dedecius vorgeführt hat, vor allem dem vierten Punkt, der Formtreue, verbunden ist, greift der Übersetzer auf alle vier Formen der „Quadratur“ zurück. Natürlich sind sie für ihn nicht gleichwertig, doch sind sie alle zu beachten. Über die Überlegungen von Dedecius zur Worttreue habe ich bereits berichtet. Vor allem jedoch die Bedeutungstreue wird für ihn zu einer ständigen Aufgabe. So hat er sich zum Beispiel eingehend mit den Pleonasmen auseinandergesetzt. Er sieht in ihnen „unreine Stellen“, „Missgriffe, Entgleisungen“, die den Übersetzer zur Korrektur zwingen. Der Eingriff in die syntaktische Struktur wird also unter dem „artistischen“ Aspekt zu einer dichterischen Notwendigkeit. Auch diese theoretischen Überlegungen werden in seiner Übersetzungstheorie an zwei Beispielen erläutert, an Adolf Rudnickis Erzählung „Die reine Strömung“ und Stefan Żeromskis „Waldecho“.34
Doch nicht nur die Lexik, die Grammatik oder die Syntax sind keine festen Voraussetzungen für den Übersetzer. Selbst die Logik findet in der Kunst ihre Grenzen. Das ist mir vor einigen Jahren bei einer persönlichen Begegnung mit Karl Dedecius bewusst geworden. In einem kleinen Kreis trug er einige von ihm übersetzte Gedichte vor. In einem von ihnen verwandte er einen Hyperlativ, jene logisch nicht erlaubte Steigerung eines Superlativs, wie zum Beispiel „das Allergrößte“. Natürlich lehren uns die Sprachpfleger, dass es über den Superlativ hinaus keine Steigerung geben kann. Aber gilt dies auch für die Dichtung? Karl Dedecius hat mich belehrt, welche poetische Kraft an dieser Stelle eben der Hyperlativ besitzt, und dass die Sprache der Dichtung von zwei sprachlichen Elementen bestimmt wird, zum einen von der Formtreue, zum anderen von der Bildlichkeit.
Die Formtreue ist für Karl Dedecius ein wesentliches Element seiner Übersetzungen. Dass er gerade dieses Element so sehr betont, liegt natürlich auch an seiner Vorliebe für bestimmte dichterische Formen, vor allem der Lyrik. Schon ihre Urelemente – Reim und Rhythmus – fordern eine Sprachbeherrschung, die über das, was man gewöhnlich als Übersetzung bezeichnet, weit hinausreicht. Was in ihr abgebildet wird, ist die Klangstruktur der Sprache, und diese ist jeder Sprache eigentümlich. Sie besitzt in der Lyrik eine Dominanz, die es dem Übersetzer erlaubt, ja ihn verpflichtet, über den vordergründigen Sinnbezug hinauszuschreiten. In ihr wird Dichtung zur Musik.
Das zweite Element verbindet die Dichtung mit der Malerei. Es findet seinen genuinen Ausdruck in der Metapher, der Bildsprache. Karl Dedecius hat der Metapher ein großes Gewicht in seinen Nachdichtungen verliehen. Auch hier löst sich die Übersetzung von der einfachen Wort- oder Satzwiedergabe und wird zu einer Sprachschöpfung. Denn die Metaphern einer Sprache können – schon wegen der verschiedenen Konnotationsbreite der Wörter – niemals wörtlich übersetzt werden. Sie verlangen eine neue Gestaltung in der anderen Sprache.
Da die bildlich gestaltende Sprache die dichterische Ursprache darstellt, muss es das Ziel eines jeden Übersetzers sein – wie es Karl Dedecius in seinem „ABC des Übersetzens“ formuliert hat –, „die Urstoffe umsichtig umzutopfen“ und damit zu einer „Uraufführung“ zu gelangen.35
Doch reicht das „Quartett“ der „Quadratur des Kreises“ noch nicht hin, die künstlerische Qualität der Übersetzung zu sichern. Nicht nur Worttreue, Stiltreue, Bedeutungstreue und Formtreue bestimmen den Rang einer Übersetzung. Daneben – und vielleicht vor allem – geht es Karl Dedecius um die Knappheit, die Präzision des Ausdrucks. Dass ihm dieses Ziel wichtig ist, ergibt sich aus seiner – neben der Lyrik – vorherrschenden Vorliebe für den Aphorismus. Er hat dieser im Polen des 20. Jahrhunderts beliebten Literaturform seine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Zwei Anthologien polnischer Aphorismen und je zwei Einzelausgaben der Dichter Adolf Nowaczyński und Wiesław Brudziński hat Karl Dedecius herausgegeben und übersetzt. Vor allem aber fühlte er sich mit dem Großmeister des polnischen Aphorismus und Epigramms Stanisław Jerzy Lee verbunden, dessen „Unfrisierte Gedanken“ er in mehreren Ausgaben herausgab. Sie erlebten zahlreiche Auflagen und Nachfolgen, zum Beispiel Neue unfrisierte Gedanken, Letzte unfrisierte Gedanken und Das große Buch der unfrisierten Gedanken.36 Seinem frühen Tod hat Karl Dedecius 1966 ein „Letztes Geleit“37 gegeben.

Natürlich kann ein so umfangreiches literarisches Werk nicht ohne öffentliche Anerkennung bleiben. Die Ehrungen, die Karl Dedecius im Laufe seines Lebens erhalten hat, sind so zahlreich, dass sie hier nicht im einzelnen aufgeführt werden können. So ist er Mitglied zahlreicher Akademien und wissenschaftlicher Gesellschaften und hat führende Literaturpreise erhalten. Doch sei vor allem auf die Ehrendoktorate der Universitäten Köln, Lublin,38 Łódź und Thorn sowie die Ehrenbürgerbriefe der Städte Łódź und Plock verwiesen.
Will man das Werk von Karl Dedecius auf einen Begriff bringen, bietet sich der Terminus Hermeneutik an. éρμηνεύειν  – auslegen – weist natürlich auf den griechischen Götterboten Hermes hin. Auch Karl Dedecius ist für uns ein Bote aus dem göttlichen Reich der Kunst, und dabei nicht nur der eigenen, sondern auch der Kunst der anderen, eben jener Gemeinschaft der Dichter und Denker. So grüßen wir ihn hier als unseren Hermes.

Günther Pflug

 

 

 

Vorwort

Seit Jahren gehört es zum festen Ausstellungsprogramm der Deutschen Bibliothek, zum jeweiligen Länderschwerpunkt der Frankfurter Buchmesse eine Ausstellung zu zeigen.
Im Jahr 2000 bildet Polen das Schwerpunktthema. Was liegt für uns näher, als eine Ausstellung über den unermüdlichen Kulturvermittler und bedeutendsten zeitgenössischen Übersetzer aus dem Polnischen, Herrn Professor Dr. h.c. mult. Karl Dedecius, zu zeigen? Professor Dedecius lebt in Frankfurt am Main und ist unserem Hause seit Jahren freundschaftlich verbunden.
Eine Ausstellung über seine Übersetzerleistung und seine Vermittlungs- und Herausgebertätigkeit ermöglicht es, ein Panorama der polnischen Literatur – so der Titel seiner umfangreichen, mehrbändigen Anthologie – zu präsentieren. Es ist ein individuell geprägtes Panorama entstanden, das aber durch seine Spannweite dennoch ein umfassendes Bild der polnischen Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart vermittelt.
Die Ausstellung beruht auf den Beständen der Deutschen Bibliothek Frankfurt am Main und dem umfangreichen Archiv von Karl Dedecius, aus dem Briefe, Manuskripte, biographische Dokumente, bibliophile Bücher, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel und Fotos ausgewählt wurden. Hinzu kommen Leihgaben aus dem Deutschen Polen-Institut, Darmstadt, und dem Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main.
Für die vorliegende Publikation, die die Ausstellung begleitet, stellte Herr Professor Dr. Günther Pflug, Generaldirektor der Deutschen Bibliothek in den Jahren 1976 bis 1988, freundlicherweise seinen Einführungsvortrag zur Eröffnung der Ausstellung am 12. Oktober 2000 zur Verfügung. All denen, die bereitwillig die Erlaubnis zum Abdruck von Briefen, Gedichten und Fotos gaben, sei hiermit herzlich gedankt. Danken möchte ich auch dem Deutschen Polen-Institut, Darmstadt – vor allem Herrn Dr. Kaluza und Herrn Mack – sowie dem Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, für Auskünfte und Leihgaben.
Mein besonderer Dank gilt Herrn Professor Dedecius selbst, der die Entstehung der Ausstellung und der Publikation mit Anregungen, zahlreichen Leihgaben und Auskünften bereitwillig unterstützte. Ich hoffe, dass sie dazu beitragen wird, Neugier zu wecken und der polnischen Literatur und somit dem Lebenswerk von Professor Karl Dedecius weitere Freunde zu gewinnen.

Elisabeth Niggemann, Frankfurt am Main, im September 2000, Vorwort

 

 

 

Bettina Eperspächer im Gespräch mit Karl Dedecius: „dann tragen meine gedanken früchte in deiner sprache“

Natasza Stelmaszyk im Gespräch mit Karl Dedecius: Wege zur polnischen Literatur

Fakten und Vermutungen zu Karl Dedecius + UeLEXDAS&D +
Kalliope + Johann-Heinrich-Voß-Preis
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde OhlbaumKeystone-SDA +
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Nachrufe auf Karl Dedecius: FAZ ✝ FR ✝ NZZ ✝ BB ✝ Echo ✝
SZ ✝ Die Zeit ✝ Übersetzen ✝ PalmbaumButh

 

 

Zum 100. Geburtstag von Karl Dedecius:

Markus Krzoska: „Es muss im Leben sterben, was Gedicht sein möchte“
dialogforum.eu, 19.5.2021

Antje Scherer: Sein Werk entstand nach Feierabend – Party für den Übersetzer Karl Dedecius in Lodz und Frankfurt (Oder)
MOZ, 19.5.2021

 

 

 

 

Internationales Symposium zum 100. Geburtstag von Karl Dedecius am 20.–21.5.2021 in Łódź. Panel 1: Karl Dedecius und Łódź

 

 

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