Ralf Eggers: Zu Wilhelm Bartschs Gedicht „Thuringia Kallipygia“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Wilhelm Bartschs Gedicht „Thuringia Kallipygia“ aus dem Band Mitteldeutsche Gedichte. 

 

 

 

 

WILHELM BARTSCH

Thuringia Kallipygia

Auf die Zehnspitzen stellt sie sich dann, um mein Ketchup zu angeln.
Wer nimmt denn Ketchup zur Roster in Thüringen?? Ich. Komm, ich zeig’s dir,
einsam gewordener EROS – am Wurststand beim GLOBUS-Markt
HERMSDORF!

Waren wir nicht – und hinterrücks glücklich – an   d e m   Arsch der Welt jüngst?
Klar, Alter! – Syrakus’ Vollmond war gar nichts gegen den Hintern!
Kucke nun den hier, in Jeans, in Hermsdorf, Mann!! – Love it or leave it.

Sie streckt ein Bein weg und wippt wie ein Glücksstern auf grad noch zwei Zehen –
Wie sie dann zwinkern: zwei Bäckchen-Augen aus Fadenschein-Seide!
Gähne nur, Amor! – Ich träume vom Trollfjord – zisch – fliegenden Fischen

Brecht, böse Blicke! Bleibt, porzellankühle Halbmonde, eisfrei!
Küss ihr, Sand Hermsdorfs, die Schuhsohlen! Krache als Raumfahrt-Keramik,
etwa als Mars-Missions-Eierschutz, wieder mal rein in den Kriegsstern!

Mars mag ich, Glutbett und Rauch sein, ihr jauchzend gewendeter Bratworst!
Stets nur „Eins-dreißsch!“ will sie haben – ich flöge ja zu ihr, zur Venus,
gäbe sie – „Stimmt so!“ – nicht hier noch ihr derart schönhinternes Gastspiel

 

Geistreiches, wo niemand es vermutet

Wer ein Gedicht „Kallipygia“ nennt, spielt mit der Halbbildung des Lesers, als könne der nicht bei Wikipedia erfahren, dass Kallipygos für das schöne Hinterteil von Aphrodite oder Venus steht. Obwohl ich das auch nicht wusste, fühle ich mich als häufiger Kunde des erwähnten Wurststandes zur Kommentierung von Wilhelm Bartschs Gedicht berufen. Der Brandenburger Bartsch führt uns ins Holzland, den selbsternannten Nabel der Bratwurstwelt, und er hat richtig erkannt, dass kein Holzländer Ketchup zur Bratwurst nehmen würde (jedenfalls nicht, wenn er vor 1990 kulinarisch sozialisiert wurde). Ich will mich nicht vor der Frage drücken, ob mir beim Warten auf meine „Bratworst“ ähnliche poetische Assoziationen kamen. Die Antwort ist: Nein. Ich kann die Qualität der Würste und den Preis bestätigen. Aber Kallipygia? Nein.
Lyrik kann sich eben (wie der Eros) an jedem Gegenstand entzünden. Einen Wortkünstler wie Bartsch kümmert es nicht, ob die Frau, deren körperliche Vorzüge er preist, ein Gedicht lesen würde, das sich nicht reimt und mit „Kalli – Dingsda“ überschrieben ist. (Um das Versmaß zu erkennen, hätte der Hermsdorfer Literaturunterricht so nahrhaft wie die Bratwürste sein müssen).
Bartschs Gedicht findet das Schöne und das Geistreiche dort, wo niemand es vermutet. Er hebt das geistige Flachland der Provinz in die Höhenluft der Mythologie und verwandelt den Dampf des Holzkohlegrills in den berühmten weißen Nebel, der aus den Wiesen wunderbar steiget. Dass man (ich jedenfalls) nicht jede Anspielung versteht, macht nichts: „Ich träume vom Trollfjord-zisch-fliegenden Fischen“ ist so schön, dass es nicht auch noch etwas bedeuten muss. Bei „Brecht, böse Blicke…“ dachte ich zunächst an Bert Brecht – ein Beispiel, wie Lektüreerfahrungen den Blick verstellen. Wer eine Interpretation will, vielleicht diese: Wen der Eros gepackt hat, dessen Phantasie ist nicht mehr aufzuhalten. Oder, wie man im Holzland sagt: Wenn der Ofen erst mal glüht, ist der Verstand im Pygos.

Ralf Eggersaus Jens Kirsten und Christoph Schmitz-Scholemann (Hrsg.): Thüringer Anthologie. Weimarer Verlagsgesellschaft, 2018

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