Ruth Klüger: Zu Theodor Kramers Gedicht „Winterhafen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Theodor Kramers Gedicht „Winterhafen“ aus Theodor Kramer: Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan. –

 

 

 

 

THEODOR KRAMER

Winterhafen

Moses Vogelhut, den semmelblassen,
des Hausierens in den Häfen matt,
führte einst sein Rundgang aus den Gassen
bis zum Winterhafen vor die Stadt.
Mit der Flut im Schein der Uferlampe
zog ein angepflockter Kahn am Seil;
Schiffer hockten auf der kalten Rampe,
Vogelhut bot Kram und Messer feil.
aaaMoses Vogelhut,
aaatu vom Haupt den Hut,
aaaspät am Strand zu schlendern tut nicht gut!
aaaDenn der Stromwind beizt Gesicht und Lunge
aaaund die Faust ist rascher als die Zunge,
aaaMoses Vogelhut, du alter Jud!

Moses Vogelhut, vorm Bauch den Kasten,
pflegte oft nun vor die Stadt zu gehn
und dem Löschen der verstauten Lasten
und dem Gang der Krane zuzusehn.
Auf die Schlepper trug er weite Hosen,
seine Börse dröhnte schlecht verwahrt;
auf der Rampe luden ihn Matrosen
ein zum Grog und zausten ihm den Bart.
aaaMoses Vogelhut,
aaawisch den Priem vom Hut,
aaaspät am Strand zu tänzeln tut ja gut!
aaaDenn der Stromwind beizt Gesicht und Lunge
aaaund die Faust ist rascher als die Zunge,
aaaMoses Vogelhut, du alter Jud!

Moses Vogelhut schritt durch die Kühle
mancher Nacht, allein mit Tau und Strand
bis das Schaufelrad der Ufermühle
morgens stockend ihn beim Kaftan fand.
Dünner Regen sprühte in den Rahen,
ausgeblutet lag er und verstummt;
die ihn nachts noch bei den Speichern sahen,
sagten aus, er hätte dort gesummt:
aaaMoses Vogelhut,
aaahalt vom Haupt den Hut,
aaaspät am Strand zu schlendern tut dir gut!
aaaDenn der Stromwind beizt Gesicht und Lunge
aaaund die Faust ist rascher als die Zunge,
aaaMoses Vogelhut, du alter Jud!

 

Tatort am Ufer

Theodor Kramer, jüdischer Dichter, zur falschen Zeit und am falschen Ort, nämlich in Österreich, geboren, unglücklich im Londoner Exil, 1957 nach Wien zurückgekehrt, wo er ein halbes Jahr später starb, wird von der Literaturwissenschaft weitgehend ignoriert: ein traditioneller Versemacher, der zuviel geschrieben hat. Bewundert wird er hingegen von manchen Autoren und Autorinnen, die sich mit Verfolgung und Ausgrenzung beschäftigen, wie Milo Dor, Erich Hackl und Herta Müller. Kramer hatte, in den Worten der letzteren, „ein Mitgefühl für alles, was außerhalb der eigenen Person steht“. Seine Gedichte, schreibt sie, „haben meine Ängste, ohne zu täuschen, bestätigt und dadurch erträglich gemacht“.
Das sind gute Voraussetzungen für Balladen, eine Gattung, deren großes Zeitalter längst vorüber ist und die trotzdem immer noch erstaunliche Beispiele eines Erzählens zeitigt, hinter dem die Prosa zurücksteht, weil sie nie so suggestiv sein kann wie die Lyrik. Viele der schönsten deutschen Balladen, von Bürgers „Lenore“ und Goethes „Erlkönig“ über Droste-Hülshoffs „Der Knabe im Moor“ bis zu Brechts „Vom ertrunkenen Mädchen“, sind, wie unser Gedicht erfüllt von der Unheimlichkeit der Natur, auch der menschlichen, und einer überall spürbaren Todesnähe. Ein alter Hausierer verläßt seine gewohnten Handelsplätze und findet sich unter unbekannten Menschen, die ihn verspotten. Ein haarscharfes Uferbild, wie auf drei Schnappschüssen, entsteht in drei Strophen mit Hilfe von Seemannsausdrücken, wie das Löschen (für Ausladen) von Lasten, die Schlepper oder die nassen Rahen (Balken am Mast). Der alte Jude ist das fremde Element in jeder Szene; schon sein Hut, den er abnehmen soll und der seinen etwas lächerlichen Namen betont, wirkt absonderlich in dieser Umgebung. Der „semmelblasse“ Mann paßt sowenig hierher unter die Schiffer mit ihren windgebeizten Wangen wie das Aug auf die Faust, die es trifft. Und sind nicht die drei (und dreimal wiederholten) Worte „du alter Jud“ wie der Faustschlag, der in der vorhergehenden Zeile dreimal angekündigt wird?
In jeder Strophe beschreiben je acht Verse realistisch eine Gegenwart, auf die der zukunfts- und unheilsträchtige sechszeilige Refrain folgt. Meisterhaft variiert in seiner ersten Hälfte, ist dieser Refrain jedesmal einer anderen Instanz zuzurechnen. In der ersten Strophe spricht ein unpersönlicher Dichter einen Text, der den streunenden Juden warnt: Sein Geschwätz, seine Zungenfertigkeit, kann nicht so rasch reagieren wie die Gewalt, die Faust, und wird ihn nicht retten. Aber der Hausierer läßt sich nicht abschrecken. Er kommt wieder, weil er Freude am Treiben des Hafens hat und der Hafenarbeit gern zuschaut. Ein harmloses Vergnügen. Moses Vogelhut läßt sich ein mit den Matrosen, gibt nicht acht auf sein Geld (die schlecht verwahrte Börse) und führt sie, die ihn mit Alkohol traktieren, ihm an den Bart gehen und mit ihrem Kautabak anspucken („wisch den Priem vom Hut“), vermutlich in Versuchung. Der zweite Refrain ist höhnisch („tänzeln tut ja gut“) und geht aufs Konto der Matrosen.
In der dritten Strophe stirbt der Hausierer. Wir sehen nur seine ausgeblutete Leiche, nicht wie’s geschah. Moses Vogelhut ging des Nachts am Wasser spazieren, weil er wie andere sehnsüchtige Seelen „allein mit Tau und Strand“ sein wollte. Dann hat der Kaftan des toten Juden das Rad der Mühle eines Morgens zum Stocken gebracht. Wahrscheinlich wurde er ausgeraubt und erschlagen oder erstochen; hatte er doch selbst in der ersten Strophe Messer feilgeboten. Und da er Ähnliches, in der Vorahnung des Refrains, voraussah, könnte man es auch eine Art Selbstmord nennen. Die letzten sechs Zeilen stammen ja von ihm, sie waren seine letzten verbürgten Worte. Er hatte sich das angeeignet, was ihn zu Fall bringen würde. Ob er meinte er könne der Drohung entgehen, indem er sie konfrontierte, oder ob er sich ihr, um die Folgen wissend, resigniert auslieferte, ist wie das Kernproblem der jüdischen Diaspora und bleibt dahingestellt.

Ruth Klügeraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebenundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2004

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