Solang es dich, mein Russland, gibt

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch Solang es dich, mein Russland, gibt

Solang es dich, mein Russland, gibt

DAS TODESLAGER

Vor Jahren, als ich zur Armee gehörte,
blieb mir der Anblick Buchenwalds erspart,
obgleich im Jahr des großen Sieges führte
ganz nah vorbei am Lager meine Fahrt.

Zu tief hat damals Schmerz in mir gefressen…
Jetzt aber wie im Schreckenstraum ich stand
vor Stachelreitern, Krematoriumsessen,
wo man vielleicht auch hätte mich verbrannt;
wär nicht geflohn ich, hätten auch aus meiner Haut
die Mörder einen Lampenschirm gebaut.

Wir kommen langsam näher und betreten
ein Haus, von lichtem Sonnenschein erhellt,
wo unter Glas sind Peitschen, Eisenketten,
Gestapo-Mordbefehle ausgestellt.

Ja, solch eine Idee ist gutzuheißen,
daß ein Museum zeigt der ganzen Welt
an Hand von grauenhaften Schaubeweisen,
wie furchtbar man gefoltert uns, gequält.

Ein Bild zeigt uns die Todesbadestube
und davor Leichenberge Schicht um Schicht,
vertiert gemordet liegt in offner Grube
ein junger Mann, mir ähnlich im Gesicht.

Mir ähnlich! Doch mein Schmerz wird nicht geringer,
ich stehe aufrecht vor ihm, tief berührt.
Zwar ist er wohl ein Dutzend Jahre jünger,
und eine Wunde längs der Schläfe führt.

Zur Schläfe fassen zögernd meine Hände,
ich seh mich wieder als Soldat im Feld,
als ob ich aus dem Leichenberg erstände
und schaute unerbittlich in die Welt.

Durch unsern großen Sieg den Fluch wir bannten,
die Schreckensherrschaft Buchenwalds zerbrach,
doch hat das Lager Kotschedo bestanden
in Südkorea, jahrelang danach.

In fernen Ländern ist bis heut zu spüren
der Todesschrei Gequälter elendsgrau;
indes geht frei in München promenieren
der Höllenauswurf – eine Henkersfrau.

… Ich stehe, von der Ähnlichkeit geblendet.
Die ganze weite Welt, das Sonnenlicht,
die Botschaft neuerwachten Frühlings sendet
der Jüngling, der mir ähnlich im Gesicht.

Er will mich nicht der Trauer überlassen,
sein halbgebrochner Blick auf allem schwebt,
und gleichsam ohne meinen Schmerz zu fassen
diktiert er: Kämpfer sein, solang man lebt!

1956

Jewgeni Dolmatowski
Deutsch von Werner Günzerodt

 

 

 

Das Ziel unserer Anthologie ist es,

ein Bild der russischen Lyrik von Puschkin bis zu den Dichtern unserer Zeit zu geben. Die vorliegende zweite Auflage dieser Anthologie bietet in der Auswahl sowohl der Dichter als auch der Gedichte im einzelnen Veränderungen, Verbesserungen und viele Erweiterungen. Gedichte wurden durch andere ersetzt, die besser als jene das Anliegen und die Eigenart des Dichters vermitteln, neue Gedichte wurden hinzugefügt; Namen wie Shukowski und Baratynski, Zeitgenossen Puschkins, und Bunin, als Lyriker bei uns bisher leider kaum gepflegt, erscheinen hier erstmalig; Werke im Vergangenen zu Unrecht wenig oder nicht beachteter Dichter wurden aufgenommen, wie die Ossip Mandelstams und Boris Pasternaks und der großen Dichterinnen Marina Zwetajewa und Anna Achmatowa; und junge Autoren sind hinzugekommen – Bella Achmadulina, Robert Roshdestwenski, Andrej Wosnessenski.
Es versteht sich, daß ein solches Unternehmen, Lyrik fremder Völker zugänglich zu machen, in seiner Wirkung weitgehend von Qualität und Aktualität bei der Interpretation der Originale abhängt. Bei aller Achtung vor dem Werk der Dichter und Übersetzer vergangener Zeiten mußte doch manche Übertragung als veraltet oder auch als in ihrer Qualität unzureichend vermieden werden, da gerade das Gedicht mit seiner unmittelbaren, persönlichen Aussage in jeder neuen Zeit neuer Interpretation, neuen Verstehens bedarf; zum anderen gebührt den Dichtern und Übersetzern Dank, die in diesem Sinne schon wirkten, und es ist zu hoffen, sie haben weiterhin daran teil, der russischen Poesie, alter und neuer, Eingang in unser Bewußtsein zu verschaffen.
Erhalten geblieben ist natürlich das Anliegen der Anthologie, wesentliche Kriterien der progressiven russischen Literatur zu verdeutlichen – ihre Forderung nach sozialer und politischer Gerechtigkeit, ihre Parteilichkeit für den arbeitenden Menschen, ihre nationale Gebundenheit – als Voraussetzung allgemeiner Geltung, ihr Patriotismus und ihr kämpferischer Geist.

H. L.

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope

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