Justinus Kerners Gedicht „Der Zopf im Kopf“

JUSTINUS KERNER

Der Zopf im Kopf

Einst hat man das Haar frisiert,
Hat’s gepudert und geschmiert,
Daß es stattlich glänze,
Steif die Stirn begrenze.

Nun läßt schlicht man wohl das Haar,
Doch dafür wird wunderbar
Das Gehirn frisieret,
Meisterlich dressieret.

Auf dem Kopfe die Frisur,
Ist sie gleich ganz Unnatur,
Schien mir noch passabel,
Nicht so miserabel,

Als jetzt im Gehirn der Zopf,
Als jetzt die Frisur im Kopf.
Puder und Pomade
Im Gehirn! – Gott gnade!

1838

 

Konnotation

Zu den zahlreichen Begabungen des schwäbischen Dichterarztes Justinus Kerner (1786–1862) kann man die politische Renitenz nicht zählen. Der Protagonist der Schwäbischen Romantik, nebenbei auch Parapsychologe mit okkultistischen Neigungen, blieb als Dichter dem volksliedhaften zugetan, wie er es in der romantischen Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn (1806/1808) und Balladendichtungen vorfand. Doch 1838 entwand sich Kerner einmal der Rolle des schwermütigen Romantikers und übergoss die politische Elite der Restaurationszeit mit bösem Spott.
Der männliche Haarzopf firmierte im 18. und frühen 19. Jahrhundert als Zeichen einer in ihren Privilegien erstarrten Feudalgesellschaft. In den Jahren der politischen Restauration nach 1815 wird der „Zopf“ zur Metapher für das politisch Reaktionäre. Kerner polemisiert in für ihn ungewöhnlicher Deutlichkeit gegen die intellektuell desaströsen Gralshüter der alten Ordnung.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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