Innokentij Annenskij: Die schwarze Silhouette

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Innokentij Annenskij: Die schwarze Silhouette

Annenskij-Die schwarze Silhouette

DIE SCHWARZE SILHOUETTE

Sonett

Noch leben wir, noch quält durch Schicksals Fügung
Die Angst uns, die sich ständig an uns krallt,
Doch unsre Herzen müssen sich betrügen,
Und lügen zu sich selbst, erstarrt und kalt.

Noch immer an vereiste Fenster schmiegt
Sich nachts der kranke Schatten, uns zu schützen,
Und von dem Qualenkreis sind nur die Spitzen
Noch nicht zum letzten Kettenglied gefügt.

Von Sehnsucht aufgezehrt will ich verstehen
Die Welt, den Augenblick, das ferne Wehen…
Schon ist es fort – nur toter, matter Glanz…

Der Park ist öde… und das Tor verriegelt…
Es schneit… die Silhouette schimmert schwarz,
Auf dem erkalteten Granit gespiegelt.

 

 

 

Nachwort 

„Es stört mich überhaupt nicht, dass ich ausschliesslich für die Zukunft arbeite“, bekennt Innokentij Annenskij (1855–1909) in einem Privatbrief aus dem Jahr 189911 – zu einem Zeitpunkt also, als sein Name dem russischen Lesepublikum noch gänzlich unbekannt ist. In der Tat gibt Annenskij sein literarisches Debut sehr spät; beim Erscheinen des ersten Gedichtbands Stille Lieder im Jahr 1904 steht der Dichter bereits im 49. Lebensjahr. Die Symbolisten, die zu Beginn des Jahrhunderts die russische Literaturszene dominieren, nehmen Annenskijs Werk mit herablassendem Wohlwollen wahr. Valerij Brjusov vermerkt in seiner Rezension zwar, dass Annenskij „manchmal in seinen Gedichten Musikalität erreiche, manchmal nicht banale, neue, wahre Bilder entwerfe“, beschliesst seine Ausführungen aber mit dem gönnerhaften Satz:

Wir erwarten seine Arbeit an sich selbst.2

Auch Aleksandr Bloks Urteil fällt ambivalent aus:

Der grösste Teil der Gedichte ist von filigraner Zartheit und wahrem poetischem Empfinden geprägt, obwohl einige Zeilen von naiver Geschmacklosigkeit zeugen und der Dichter sich manchmal einem dekadenten Übermass hingibt.3

Annenskijs zweiter Gedichtband Das Zypressenkästchen erscheint postum im Jahr 1910. Und erst jetzt, im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts findet Annenskij die ihm gebührende Wertschätzung.4 Anna Achmatova, Osip Mandel’stam und Boris Pasternak gehören zu den prominentesten Bewunderern von Annenskijs Lyrik. Anna Achmatova hat Annenskijs Bedeutung für ihr eigenes Schaffen besonders unterstrichen:

Ich sehe meinen ,Urgrund‘ in den Gedichten Annenskijs.5

Osip Mandel’stam anerkennt Annenskij als „organischen Dichter“, der die poetische Tradition in Eigenes verwandelt:

Das ganze Schiff ist aus fremden Bohlen gefertigt, aber es hat seine eigene, unverkennbare Gestalt.6

Und im Fall Pasternaks ist es schliesslich nicht auszuschliessen, dass er sich bei der Gestalt des Doktor Živago am Vorbild Annenskijs orientiert hat – darauf deuten neben der thematisch-stilistischen Ähnlichkeit von Živagos Gedichten mit Annenskijs Lyrik auch die Umstände von Živagos Tod hin: In Pasternaks Roman stirbt Živago beim Aussteigen aus der Moskauer Strassenbahn an Herzversagen, Annenskij erliegt auf dem Vitebsker Bahnhof in St. Petersburg einem Herzanfall.7
Worin liegt das Unzeitgemässe und zugleich Zeitlose von Annenskijs Lyrik? Der unverkennbare Kammerton seiner Gedichte lässt sich am ehesten als paradoxe Verschränkung von dinglichem Realismus und dekadenter Präsentation beschreiben.8 Als programmatisches Bekenntnis zu dieser Poetik darf das Prosagedicht „Gedankennadeln“ gelten, das ursprünglich den Gedichtband Das Zypressenkästchen als erster Text eröffnen sollte:9

Ich bin eine verdorrte Tanne, ich bin eine traurige Tanne eines nördlichen Nadelwaldes. Ich stehe inmitten einer frischen Rodung und lebe noch, obwohl um mich herum die frischen Sprosse bereits das Morgenlicht von mir abschirmen.
Voll Schmerz und Qual reissen sich die Nadeln von meinen Ästen los. Diese Nadeln sind meine Gedanken. Und wenn der Sonnenuntergang still und rosenfarbig ist und der Wind nicht an meinen Ästen zerrt, – dann träumen meine Äste.
Und ich träume, dass irgendwann hier ein anderer Baum wachsen wird, gross und stolz. Er wird ein Dichter sein, und er wird den Menschen alles Glück geben, das sie nur in ihren Herzen aufnehmen können. Er wird ihnen die Schönheit der Farbtöne und das frische Rauschen des jungen Lebens geben, das noch keine Farbtöne, sondern nur Farben sieht.
O, stolzer Baum, o mein Bruder, du, der du noch nicht unter uns weilst. Was werden dich die toten Nadeln im Torf kümmern, der dich erschaffen hat!…
Und wirst du je erfahren, dass unter ihnen auch meine waren, eben diejenigen, mit denen nun das letzte Blut aus meinem Herz schwindet, damit sie dich erschaffen, Unbekannter…
Fallt also auf den alles empfangenden schwarzen Schoss, ihr, von den Menschen nicht benötigte Gedanken! Fallt, weil auch ihr manchmal schön wart, und sei es auch nur deshalb, weil ihr niemanden erfreut habt…

Annenskijs Gedichte sind auf die Zukunft hin geöffnet und entwerfen dabei eine Metaphysik des künstlerischen Textes. Immer wieder verwendet Annenskij das Vokabular des Todes, wenn er über Poesie spricht. Der Gedanke, dass jeder Text im Akt des Lesens wiedergeboren werden muss, ja überhaupt nur in einem fremden Bewusstsein existieren kann, bildet eine Grundkonstante in Annenskijs Schaffen.10 In dieser Poetik spiegelt sich eine prekäre Lebenserfahrung. Die Brüchigkeit des Daseins dominiert auch Annenskijs körperliche Existenz: Der Dichter wusste um seine angeborene Herzschwäche – sein ganzes Werk kann als metaphorischer Ausdruck des „kranken Herzens“ gedeutet werden.11 Immer wieder taucht diese Chiffre in Annenskijs Werk auf; das Herz verleiht dem „kollektiven, zufälligen Ich“12 die schmerzhafte Gewissheit, noch als Person zu leben. Im poetischen Schaffen, in der Umsetzung des körperlichen Schmerzes in literarischen Sinn kann sich das Ich von seiner Zufälligkeit befreien, letztlich löst sich der Dichter sogar in seinem Text auf. Der „Tod des Autors“ erscheint nachgerade als notwendige Bedingung für die Wirkungskraft eines künstlerischen Textes: 

Kein einziges grosses dichterisches Werk kann zu Lebzeiten des Dichters endgültig formuliert werden. In seinen Symbolen bleiben gleichsam Fragen bestehen, die das menschliche Denken anziehen. Nicht nur der Dichter, Schauspieler oder Kritiker, sondern sogar auch der Zuschauer und Leser erschaffen beständig die Figur des Hamlet.13

Der Rückzug des Autors aus dem eigenen Text scheint bereits signalhaft im Pseudonym auf, das Annenskij für seinen ersten Gedichtband Stille Lieder gewählt hat: Nik. T-o. Dieser Name umfasst in gedrängter Form die ganze Komplexität eines eminent modernen Dichtungsverständnisses. Auf den ersten Blick präsentiert sich das Pseudonym als Abkürzung, wobei sich der Vorname ganz erschliessen lässt (Nikolaj). Annenskij imitiert hier einen Kunstgriff, der in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts vor allem bei Debuts oft praktiziert wurde. So liessen etwa Turgenev, Tolstoj und Tjutčev ihre ersten Werke nur unter ihren Initialen erscheinen. Vom Familiennamen werden nur der erste und der letzte Buchstabe gegeben (T-o), für ein russisches Auge genügt dies jedoch bereits, um eine ukrainische Herkunft anzunehmen. Damit erzielt Annenskij einen doppelten Effekt: Zum einen trägt der Gedichtband das Merkmal des literarischen Debuts, zum anderen verweist er auf das nahe Fremde (das Verhältnis Ukraine-Russland ist spätestens seit Gogol’ mit dieser Ambivalenz behaftet).
Neben dieser merkmalhaltigen Anonymisierung ist der Name „Nik. T-o“ aber sofort auch als Wortspiel durchschaubar: „nikto“ bedeutet „niemand“. Annenskij verweist damit auf eine bekannte Episode aus der Odyssee:14 In der Höhle des Polyphem gibt sich Odysseus als „Niemand“ aus und verunmöglicht dem blinden Riesen so die Benennung seiner Person. Gerade der Bezug zum antiken Mythos macht deutlich, dass Annenskij mit dem Pseudonym „niemand“ seine eigene Identität keineswegs vollständig aufhebt. Nur für den Unwissenden bleibt der Autor der Stillen Lieder ein Niemand. „Nikto“ lässt sich nämlich auch als Teil-Anagramm von Annenskijs Vornamen „Innokentij“ lesen. Annenskij unterzieht hier seinen eigenen Namen einem Verfahren, das er für seine Poetik als konstitutiv deklariert hat. Der Sinn eines Textes liegt nicht offen da, sondern bleibt rätselhaft – das Rätsel ist aber grundsätzlich auflösbar: 

Der Vers lockt nicht mit Tiefe dich,
Er ist nur wie ein Rebus dunkel.

Annenskij beansprucht keinerlei auktorialen Verfügungsrechte über seinen eigenen Text. Das Gedicht ist nicht herstellbar, es fehlt im jegliche Produktqualität. Das lyrische Schreiben trägt vielmehr den Charakter einer ephemeren Offenbarung: 

Auf dem Feld die Last der Ähren
Ungereift in stiller Nacht…
Lange schon, nicht jetzt erst waren
Diese Zeilen ausgedacht.

Nur erlebt und nicht verstanden
Will mein Vers vielleicht sogar
Augenschlummer überwinden,
Doch zu spät – er kann nicht mehr.

Wer er ist, kann ich nicht wissen,
Ich weiss nur: er ist nicht mein.
Nachts war er mir zugeflossen,
Morgensonne nimmt ihn heim.

Ein entsprechend respektvoller Umgang mit Lyrik ist für Annenskij nicht nur eine Frage seiner künstlerischen Überzeugungen, sondern auch des persönlichen Stils. Maksimilian Volosin schildert Annenskijs theatralische Inszenierung seiner Poesie mit kritisch-einfühlsamen Worten: 

Das Zypressenkästchen, wie es jetzt alle kennen, existiert tatsächlich – es ist eine Schatulle, in der Annenskij seine Manuskripte aufbewahrte. Innokentij Fedorovič nahm grosse Blätter heraus, auf denen seine Gedichte geschrieben waren. Darauf erhob er sich feierlich und sehr affektiert (seine Gedichte las er immer stehend). In dieser Pose musste er skandierend und gedehnt sprechen. Aber seine Art des Vortrags erwies sich als unerwartet lebendig und realistisch. Er las seine Gedichte sehr logisch, machte manchmal sogar in der Mitte einer Zeile eine logische Pause, betonte aber manchmal auch auf unerwartete Weise (so zog er beispielsweise die Konjunktion „und“ besonders lang). Innokentij Fedorovič verfügte über eine sonore und nicht besonders elastische Stimme, sprach aber laut und immer feierlich. Während des Lesens hielt er den Hals und seine gesamte Statur völlig unbeweglich. Innokentij Fedorovičs Vortrag war dem Typus des schauspielerischen Lesens nahe.15 Die Vortragsart war altertümlich und sehr subjektiv (es schien, als spreche Innokentij Fedorovič immer von sich selbst); gleichzeitig wirkte sein Vortrag wie ein Spiel, nicht wie rituelles Lesen im Stil Bloks. Wenn Innokentij Fedorovič ein Gedicht beendete, entliess er jedes Mal das Blatt aus der Hand in die Luft (er liess es nicht fallen, sondern entliess es wörtlich), und die Blätter fielen zu Boden und häuften sich zu seinen Füssen an.16

Annenskij spielt das Grundthema seiner Poesie beim Rezitieren nach: Die fallenden Blätter werden zur gültigen Analogie einer Endzeitstimmung. Es ist auffällig, dass Annenskijs bevorzugte Jahreszeit der Herbst ist. Das Gedicht „Blätter“ verbindet die vergehende Schönheit der Landschaft mit dem drohenden Ichverlust im Tod. Die semantische Verschränkung von Kunstprodukt und Natur spiegelt sich hier zusätzlich in einem Wortspiel: Wie im Deutschen sind auch im Russischen „Papierblatt“ und „Baumblatt“ Homonyme, sie bilden aber unterschiedliche Pluralformen („listy“, „list’ja“). Annenskij stellt seinem Gedicht den Titel „Papierblätter“ voran, während das Gedicht selbst zumindest vordergründig von „Baumblättern“ handelt. Gleich Laub sinken auch die beschriebenen Gedichtblätter zu Boden, wo sie wieder auf ein vorläufiges Sein reduziert werden: Das menschliche Wort existiert nur in einem Schwebezustand, wenn es ausgesprochen und vernommen wird.
Das zyklische Sterben und Werden mündet in eine existentialistische Angstvision: Das „sehnsuchtsvolle Ich“ verharrt im Zweifel darüber, ob es sein Dasein dem Willen eines göttlichen Schöpfers zu verdanken hat oder ob es sich als Bewußtseinszustand eines höheren Wesens begreifen muss. Verschlimmert wird diese Ungewissheit noch durch die unentscheidbare Frage, welche Möglichkeit tröstlicher sei: 

Am weissen Himmel leuchtet trüber
Der goldne hohe Lampenstrahl, 

Und in Alleen, die verblühen,
Ein Zickzackzittern: Blätterfall.

[…]
Ist’s möglich, dass kein Schöpferwille
Ertönte? Hast du kein Beginnen,
Kein Ende, sehnsuchtsvolles Ich?

Noch deutlicher tritt die Herbstbildlichkeit im Gedicht „Nicht tot – bewusstlos will ich sein“ auf. Hier erhebt Annenskij das Verwelken und Absterben sogar zur Daseinsmetapher: 

Vergeh ich nicht wie Tageslicht?
Werd ich nicht wie die Blätter welken?
Und sterben meine Feuer nicht
In Tränen, wenn Kristalle schmelzen?

Immer wieder bezeichnet Annenskij diesen Bewusstseinszustand mit dem schwer übersetzbaren Wort „toská“, dessen Bedeutung zwischen den deutschen Entsprechungen „Verlangen“, „Schwermut“, „Sehnsucht“ oszilliert.17 Im Vordergrund steht allerdings nicht so sehr der Versuch einer psychologischen Analyse des melancholischen Bewusstseins, sondern die Skizzierung einer Welt, die im Zeichen des Untergangs steht.
Annenskij ist ein Dichter des sorgfältig ausgewählten Details. Eine bestimmte Stimmungslage wird nicht durch abstrakte Begriffe, sondern durch eine konkrete Einzelheit evoziert, die sich oft durch höchste Sinnlichkeit auszeichnet. Bemerkenswert ist vor allem Annenskijs ausgesuchte Farbregie, die jede Schattierung einem genau kalkülierten Effekt dienstbar zu machen weiss. „Gelb“ dominiert das winterliche Petersburg, in dem das fahle Tageslicht kaum den Nebel durchbrechen kann, „blau“ taucht immer wieder als Attribut des Sommerhimmels auf, vor dem sich die Dinge in schärfster Kontur und maximaler Realitätsqualität abzeichnen, „lila“ leuchten die Amethyste, deren kalte Struktur die Schönheit der reinen Todespräsenz begründet. Es ist interessant, dass sich Annenskijs ambivalentes Todesverhältnis auch in seiner Farbsymbolik spiegelt. „Schwarz“ schluckt als absolute Dunkelheit alle Farben und bringt so die Erscheinungen des Lebens zum Verschwinden. Eine ähnliche Funktion kann aber auch „weiss“ übernehmen, bei Annenskij oft in der Gestalt der Schneedecke, die sich über die Landschaft legt („Schwermut der Luftspiegelung“). Die enge Verbindung von „schwarz“ und „weiss“ zeigt sich deutlich in Annenskijs grauser Jenseitsvision „Dort“ oder auch im Gedicht „Die schwarze Silhouette“, in dem eine schwarze Statue als Symbol des erstarrten Lebens eingeschneit wird.
Annenskij verfügt jedoch nicht nur über ein scharfes Auge, sondern auch über ein feines Ohr. Als sprachmusikalisches Meisterwerk darf das unübersetzbare Gedicht „Die Glöckchen“ („Kolokol’čiki“) gelten, in dem sich der zunächst unartikulierte Glockenklang allmählich in zusammenhängende Bedeutungseinheiten verwandelt. Man stösst in Annenskijs Lyrik sehr oft auf eine genau abgestimmte Lautstruktur, die jedem Gedicht eine unverkennbare akustische Qualität verleiht. Die Musik kann bei Annenskij aber auch zum auslösenden Moment des Dichtens werden. Berühmt geworden sind Annenskijs „Klaviersonette“, in denen das sinnliche Klangerlebnis eine deutlich erotische Note trägt.
In seiner minuziösen Erforschung filigraner Bewusstseinslagen bewegt sich Annenskij in der Nachfolge der französischen Parnassdichter. Das lyrische Werk von Leconte de Lisle, Rimbaud und Verlaine, das gleichzeitig ein Zentrum in Annenskijs literarischer Übersetzungstätigkeit darstellt, bildet für den russischen Dichter das Ferment der modernen Poesie. Es ist wohl gerade die Verbindung einer ausgesucht psychologischen Thematik mit höchster Formstrenge, die den „poètes maudits“ in Annenskijs Schaffen zu einem kongenialen Nachhall verhilft. Trotz aller Gemeinsamkeiten lassen sich aber zwei wichtige Unterschiede zu den Parnassdichtern nicht übersehen: Zum einen wendet sich Annenskij dezidiert gegen eine selbstgenügsame Kunst, die noch im allgemeinen Absterben der Kultur nichts als ihre eigene Sinnlichkeit zelebriert:

Die Theorie des l’art pour l’art ist eine Dummheit, die längst von allen auf gegeben wurde.18

Zum anderen integriert Annenskij immer wieder das Alltägliche, Prosaische, ja sogar das Vulgäre in seine Lyrik – ein Verfahren, das bereits von der zeitgenössischen Kritik bemerkt und auch moniert wurde.19
In diesen beiden Punkten berührt sich Annenskij jedoch mit einem weiteren Franzosen, der von den russischen Symbolisten intensiv rezipiert wurde:20 Auch Baudelaire betrachtet die Theorie einer selbstgenügsamen Kunst als „puerile Utopie“21 und lässt das Prosaische in sein poetisches Werk einfliessen.
Exemplarische Geltung für die gegenständliche Darstellung des Niedrigen, Alltäglichen darf das Gedicht „Die Schenke des Lebens“ beanspruchen. Annenskijs künstlerischer Blick beschränkt sich hier auf wenige Einzelheiten, die aber mit sinnlicher Detailtreue wiedergegeben werden und so eine genau kalkülierte Wirkung hervorrufen: 

Asche von Zigarrenkippen,
Weinsatz, nackte Knochenteile,
Gift der Bosheit auf den Lippen,
Mundgeruch der Langeweile…

Es gelingt Annenskij in diesem Gedicht, die ganze Tragik der condition humaine in einer scheinbar trivialen Szene aufzudecken. Am 6. März 1909 erklärt Annenskij in einem Brief an Volosin:

Das schrecklichste und mächtigste, also auch das rätselhafteste Wort kann eben das Wort ,alltäglich‘ sein.22

Gerade das Unspektakuläre und Ereignislose bildet für Annenskij den Urgrund der poetischen Sinnstiftung – Klärungsbedarf besteht nicht für das aussergewöhnliche, sondern für das immer gleich dahinfliessende Leben. In diesem Sinn darf Annenskij für sich beanspruchen, im Bereich der Poesie dasselbe geleistet zu haben wie sein Zeitgenosse Anton Čechov (1860–1904) im Bereich der Prosa. 

Ulrich Schmid, Nachwort

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer
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Kalliope

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