Walter Schmitz und Ludger Udolph: Zu Jan Skácels Gedicht „Der blaue Vogel“ in der Übersetzung von Reiner Kunze

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Jan Skácels Gedicht „Der blaue vogel“ in der Übersetzung von Reiner Kunze aus dem Lyrikband Jan Skácel: Fährgeld für Charon. −

 

 

 

 

JAN SKÁCEL

Der blaue vogel

Über den wassern, ach, über den wassern
erhob sich ein vogel ins blau.
Keiner weiß, wie, keiner weiß, wann
der vogel sich über die wasser erhob,
über den drahtverhau.

Alle aber sahen
seinen schnabel,
sahn des vogels festen schnabel.
Alle aber sahen
seine krallen,
sahn des vogels scharfe krallen.

Alle aber sahen
seine augen,
sahn des vogels klare augen.
Alle aber sahen
seine federn,
sahn des vogels blaue federn.

Mit einemmal erblickten sie
die blauen augen der mutter.

Mit einemmal gewahrten sie
schiffe, schiffe, schnelle schiffe,
die zur freiheit, fern der riffe,
still das blaue wasser teilen.

Mit einemmal gewahrten sie
segel, segel, weiße segel,
die wie brot im mund, wie vögel
sich verlieren, die wie vögel
still im blauen uns enteilen.

Mit einem male sahen sie
tücher, tücher, blau gestickt,
mit blumen blau, zu haus gepflückt
im feld, mit blumen, die so schmerzen,
die so schmerzen, so sehr schmerzen,
aber alle wunden heilen.

Riefen alle nach dem vogel,
in die höhe nach dem vogel,
mit gewaschnen hemden
winkten sie dem vogel.

Wohin gehst du, blauer vogel,
klares wasser trinken?
Sag, wo pickst du goldnes korn,
sag, wo schläfst du unterm dorn,
sag doch, sag doch, wo?

Sang der blaue vogel:

Wo die mutter euch gebar,
dorthin geh ich wasser trinken.
Dort, wo eure kindheit war,
pick ich goldnes korn,
schlaf ich unterm dorn,
dort zu haus, bei uns.

Riefen alle da von neuem,
riefen hoch hinauf von neuem,
winkten alle mit den hemden
lange da von neuem.

Fliege, blauer vogel, fort,
fliehe, fliehe diesen ort.
Unterm blau des himmels ziehe
hin am blau, die kugel fliehe,
flieh das blei.

Sang der blaue vogel:

Ich fürchte nicht die schnelle kugel,
nicht das blei.
Eure mütter sandten mich.
Ob euch nichts im schlafe schreckt,
ob euch brot und segen weckt,
hießen sie mich fragen.

Riefen alle da von neuem,
riefen hoch hinauf von neuem;
winkten mit den hemden
lange da von neuem.

Grüße, vogel, grüß zu haus,
richte viele grüße aus.
Wir schlafen ein mit näglein besteckt,
wachen auf, vom brot geweckt,
vom brot, von brot und segen.

Sang der blaue vogel:

Warum kommt ihr nicht nach haus,
bleibt so lange aus?
Frühling ist’s, der schnee zerrinnt,
auf dem weg zum meere sind
alle flüsse … Aber ihr?

Ließen sie die köpfe sinken,
ließen sie die arme sinken,
hielten ein, mit ihren hemden
hoch hinauf zu winken.

Kleiner vogel, flieg nicht fort,
komm herunter aus dem blau,
flieg herab, uns zu bedauern,
doch zu haus verschweig das trauern,
das du siehst im drahtverhau.

Hörte es der blaue vogel.

Wie ein stein fiel er zur erde,
wie ein schöner blauer stein,
wie ein blauer edelstein.
Wie ein stein fällt er zur erde,
wie ein blasser blauer stern,
lange, lange fällt er nieder,
federn schweben vom gefieder,
mit dem kopf, dem kleinen kopf,
schlägt er auf.

Mit dem schnabel auch,
dem festen schnabel,
schlägt er auf.
Mit den krallen auch,
den scharfen krallen,
schlägt er auf.

Mit den augen auch,
den klaren augen,
schlägt er auf.
Nur die federn,
nur des vogels blaue federn
schwebten lange.

Schwebten nieder aus dem blau,
blaue federn, blauer tau,
schweben in das gras und strahlen,
blauen auf dem stein, dem kahlen,
blauen aus dem sand, dem fahlen,
fädchen aus der wälder naht,
schweben hin am stacheldraht,
hin an türmen, am MG,
blaue federn, blauer schnee.

Lasen alle auf die federn,
nahmen sich die blauen federn,
banden in die hemden
sauber sich die federn.

Augen, ach, der mutter augen,
schiffe, schiffe, schnelle schiffe,
segel, segel, weiße segel,
wasser, wasser, still geteilte,
blumen, blau gestickte blumen,
und die herzen, die zerrissnen,
blutenden, die blutenden.

Lasen alles in die bündel,
alle federn in die bündel,
und vergruben sie mit worten
traurig wie die bündel.

Dir war’s nicht gegeben, vogel,
herzufliegen aus dem blau,
her in diesen drahtverhau,
kamst, barmherziger, ums leben,
wirst du jemals uns vergeben?

Schwieg der blaue vogel.

Übersetzung Reiner Kunze

 

,Im Drahtverhau‘

Über den wassern, ach, über den wassern
erhob sich ein vogel ins blau.
Keiner weiß, wie, keiner weiß, wann
der vogel sich über die wasser erhob,
über den drahtverhau.

Ein Vogel fliegt auf in einer Landschaft – ein einfacher Vorgang aus unserer Erfahrungswirklichkeit. Das Gedicht aber entwirft seine eigene Wirklichkeit. Es läßt seine Landschaft erst entstehen; und es evoziert, sorgsam und schrittweise, seine Welt; es verweigert die Assoziationen unserer Weltgewißheit und verwandelt so unsere Erfahrung.
Sogleich im ersten Vers meinen wir, einer kulturell vertrauten Szene beiwohnen zu dürfen. Die ,Landschaft‘ des Vogels besteht nur aus einem einzigen Element: ,über den Wassern‘ erhebt er sich. Wir erinnern uns an den Beginn des ,Buches der Bücher‘, an die biblische Schöpfungsgeschichte: ,der Geist Gottes schwebte über den Wassern‘.
Was hier geschieht, ist somit anscheinend alltäglich und dennoch, wenn wir es alltagssprachlich charakterisieren dürften, ,rätselhaft‘ – oder ,wunderbar‘. Jedenfalls weiß keiner den Zeitpunkt des Aufstiegs des Vogels zu nennen; keiner zudem weiß, wie es dem Vogel gelang, sich über die Wasser zu erheben, obschon uns für gewöhnlich der Flug von Wasservögeln über das Wasser nicht erstaunt.
So wird die Naturszenerie in der ersten Strophe von Jan Skácels großem Gedicht „Modrý pták / Der blaue vogel“ entworfen, das wir in der Übersetzung von Reiner Kunze zitiert haben. Einen „Internationalismus der Dichter“! setzt Reiner Kunze in seinem Werk den Grenzziehungen der Politik entgegen – wie allen Grenzen, in denen Menschen sich begnügen. Der Poesie sind Grenzen wesensfremd; soweit sie ihr durch die – notwendige – Begrenztheit nationaler Sprachen aufgezwungen werden, vermag die Übersetzung sie zu überwinden. Übersetzungen aus dem Tschechischen sind ein Bestandteil von Reiner Kunzes Werk; „unschwer wäre zu belegen, daß dem Lyriker Kunze nur gerecht werden kann, wer auch den Übersetzer (Skácels) zur Kenntnis nimmt.“
Gerade die Dichtung Jan Skácels wurde für Reiner Kunze „seit seinen ersten Aufenthalten in der Tschechoslowakei ein poetischer Maßstab und Inspirationsquell“, wie er denn auch Gedichte Skácels bereits 1961 in seinen ersten Band mit Übersetzungen tschechischer Lyrik Der Wind mit Namen Jaromir aufnahm, eine Sammlung, die zum ersten Mal dem deutschen Leser „die Begegnung mit tschechischen Dichtern, die bisher in Deutschland unbekannt waren“, ermöglichte; Kunze hat Skácels Gedichte wie dessen Prosa immer wieder übersetzt. „Jan Skácel“, so heißt es 1982 in der Vorabinformation zu Reiner Kunzes Gespräch mit Petra Herrmann anläßlich des Nachdichtungs-Bandes wundklee,

studierte an der Universität Brünn Slawistik und war Kulturredakteur bei einer Brünner Tageszeitung, ehe er 1952 aus politischen Gründen entlassen wurde. Zwei Jahre schlug er sich als Hilfsarbeiter in einer Traktorenfabrik durch. Zwischen 1954 und 1963 arbeitete er als Literaturredakteur im tschechoslowakischen Rundfunk. Bis 1968 veröffentlichte Skácel, dessen Lyrik mit der Dichtung Georg Trakls und Peter Huchels verglichen wurde, fünf Gedichtbände und einen Prosaband. Danach durfte er elf Jahre nicht publizieren. 1981 wurde in der Tschechoslowakei erstmals wieder eine Auswahl von ihm herausgegeben.

Milan Kundera schreibt 1992, drei Jahre nach Jan Skácels Tod:

Wenn ich über die Frage nachdenke, was mich am stärksten ans Tschechische bindet, was mir diese Sprache immer wieder teuer und unersetzbar macht, habe ich folgende Antwort: Jan Skácels Verse.

Doch jüngeren Lesern in der Tschechoslowakei waren Skácels lang unterdrückte Arbeiten kaum bekannt; im Ausland wurden sie erst spät – nicht zuletzt dank Reiner Kunzes Übersetzungen – beachtet. Skácel war mit Kunze befreundet, und Kunze hat den Dichter Skácel bewundert. Die deutschen Skácel-Bände stehen in der „Auswahl von Werken modernerer Literatur“, die Reiner Kunze zu seinen „Lieblingsbüchern“ zählt; „[d]er Tscheche Jan Skácel“, so schreibt er in der Nachbemerkung zu einer Auswahl von dessen Prosa, „ist ein Dichter, dessen Rang die Welt staunend zu begreifen beginnt. Skácels Sprache wird von nur wenigen Millionen Menschen gesprochen, und seine Gedichte liegen an der Grenze des Übersetzbaren.“ Doch gerade deshalb gewinnen Reiner Kunzes Übersetzungen einen eigenen Rang als Kunstwerke – wie es für jede angemessene Übersetzung gilt. Wir wollen deshalb in unserer Gedicht-Lektüre zunächst diesem Text von Reiner Kunze folgen, der zudem auch durch Jan Skácel autorisiert ist. Denn „[v]or der Publikation legt Reiner Kunze nach Möglichkeit seine Übersetzungen dem Autor des Originals vor. Die Freundschaft mit dem deutsch sprechenden Jan Skácel ermöglichte stets eine entscheidende Kontrolle und Korrektur, was bei den zahlreichen volkspoetischen Elementen und Märchenmotiven seiner Gedichte, für die es im Deutschen oft keine verbale Entsprechung gibt, von großer Bedeutung ist.“
Bei Skácel wie bei Kunze ist präzise an den Schluß der ersten Strophe ein Gegenwort zu der Naturszenerie gesetzt, das kraß den Menschen in dieses Landschaftsbild eingreifen läßt: „ostnaty drat“ / „Drahtverhau“. Die Interjektion „ach“ hatte bereits in der ersten Zeile die Perspektive des Beobachters (und vielleicht auch – dies wäre dann in diesem Gedicht nur hier der Fall – des ,Autors‘) angedeutet – ein Seufzer des Kummers oder auch ein Zeichen des Erstaunens. Doch wird jetzt, in der letzten Zeile der Strophe, auch der Leser, wie die im Text apostrophierten Menschen, vor ein Rätsel gestellt.
Die zweite Strophe verzichtet betont auf die Auflösung des Nicht-Wissens, des ,Rätsels‘ oder ,Wunders‘. Sie nennt, was ,alle sahen‘: den „festen Schnabel“ des Vogels, die „scharfe[n] Krallen“. Wiederum wird das Wahrgenommene nicht eingeordnet und nicht bewertet – ein markant geformter Vogel? oder ein Raubvogel? –, vielmehr wird es in der folgenden Strophe weiter benannt, wieder mit einer – fast unmerklichen – Verschiebung:

Alle aber sahen
seine augen,
sahn des vogels klare augen.
Alle aber sahen
seine federn,
sahn des vogels blaue federn.

,Klarsichtig‘ ist der Vogel, so wie seine Krallen deutlich ausgeformt sind, sein Schnabel markant ist; seine Federn aber, so wird jetzt durch variierende Wiederholung betont, sind ,blau‘, so wie er sich ,ins blau‘ erhebt; und dann – in zwei gesondert stehenden Versen – wird dies alles verschränkt, und die Betrachter kommen ins Bild:

Mit einemmal erblickten sie
die blauen augen der mutter.

Fast unmerklich erschließt das Farbwort ,blau‘ die Welt des Gedichts; sie ist eigenständig gegenüber der alltäglichen Erfahrungswelt, aber sie entwickelt sich aus dieser. Dies ist Jan Skácels poetisches Verfahren: Nicht der ,Schock‘, sondern die Entfaltung der scheinbar ,einfachen‘ Worte zu poetischen Zeichen.
Das Gedicht mag vieles bedeuten. Deshalb muß unser Verständnis „sich an die Sachen, die Wörtlichkeiten […] halten“, denn „wir bringen die Voraussetzungen des Verständnisses nicht mit, weil wir vermeintlich die gleiche Sprache sprechen, sondern wir merken“, wie Walter Killy bei der Lektüre von Trakls Gedichten – aber nicht nur für diese gültig – notiert, „daß wir verschiedene Sprachen haben. […] Das Dichtwerk ist eine Welt in sich selbst, eine Welt in der Welt; die Zeichen dieser besonderen Welt müssen wir uns erschließen wie einstmals die Forscher die Hieroglyphen.“ Dieses Gedicht Jan Skácels schreibt dem Leser die Lesart nicht vor. Es gibt allerlei ,Drahtverhaue‘; die Metapher wird nicht aufgelöst. Aber der Ort, an dem ,alle‘, die den Vogel sehen, sich befinden, ist kein Ort der Freiheit. Doch als sie die ,blauen Augen der Mutter‘ wieder erblickten, da ,gewahren‘ sie ,mit einemmal‘ auch „schiffe“, die sich „schnell“ – und ,frei wie der Vogel‘ – auf dem, jetzt ebenfalls ,blauen‘ Wasser bewegen. Jetzt entfaltet das Gedicht eine Szenerie der Freiheit und – vielleicht sogar – Erlösung; bewegt sich die nächste Strophe noch im bislang entworfenen Natur-Raum, so werden dann als Mittler zu Heimat und Natur kunstvolle Arbeiten der Menschen, ,blau gestickte Tücher‘ gezeigt, deren ,blaue Blumen‘-Zier von Schmerzen kündet, aber auch von der ,Heilung aller Wunden‘. Es bleibt auch weiter bei solchen Reminiszenzen an Bibel und Volksreligion, ohne geglaubte Verheißung.
Aus der Vision entbindet sich nun die sprachliche Kommunikation; die Menschen ,rufen‘ nach dem Vogel, befragen ihn nach seinem Ziel; der Vogel aber antwortet mit Gesang:

Wo die mutter euch gebar,
dorthin geh ich wasser trinken.
Dort, wo eure kindheit war,
pick ich goldnes korn,

[…]

Zeit und Raum verschränken sich in der Gedicht-Welt; der Vogel ist ein Bote aus dem Kindheitsland:

Eure mütter sandten mich.
Ob euch nichts im schlafe schreckt,
ob euch brot und segen weckt,
hießen sie mich fragen.

Mit einer Volksliedformel der Beruhigung antworten alle: „Wir schlafen ein mit näglein besteckt […]“; freilich vermögen sie den Subtext der Bedrohung damit nicht zu verdrängen; zuvor hatten sie den ,blauen Vogel‘ schon vor der ,schnellen Kugel‘ warnen müssen, ohne die Jäger zu nennen. Jetzt aber, auf die Frage des Vogels nach ihrer Heimkehr, am Wendepunkt des Gedichts, gestehen sie ihre eigene bekümmerte Lage ein, die Lage derer, die nicht mehr ,zu Haus‘ sind:

Ließen sie die köpfe sinken,
ließen sie die arme sinken,
hielten ein, mit ihren hemden
hoch hinauf zu winken.

Kleiner vogel, flieg nicht fort,
komm herunter aus dem blau,
flieg herab, uns zu bedauern,
doch zu haus verschweig das trauern,
das du siehst im drahtverhau.

Hörte es der blaue vogel.

Auf die Verheißung des ,Blau‘ wollen ,die im Drahtverhau‘ jetzt verzichten; vielmehr wünschen sie sich, der Vogel möge, um sie zu bedauern, seine eigene Freiheit preisgeben; die Geste der emphatischen und offenen Kommunikation schlägt um in die Forderung des ,Verschweigens‘, ins Verheimlichen, letztlich die Lüge aus Schonung – und damit in Annahme und Billigung der Verhältnisse ,im Drahtverhau‘. Dieser Appell entfaltet eine gleichsam magische Wirkung auf den ,blauen Vogel‘; sobald er dies ,hörte‘, fiel er „wie ein stein […] zur erde“:

wie ein schöner blauer stein,
wie ein blauer edelstein.

Drei Strophen beschreiben den Sturz des ,blauen Vogels‘; sie evozieren seine Attribute, den ,festen Schnabel‘, die ,scharfen Krallen‘, die ,klaren Augen‘; wie sonst im Volkslied wird die Reihung wiederholt, nun aber als eine Sequenz der Auflösung des Vogels, bis zu den ,blauen Federn‘, die freilich nicht aufschlagen, sondern ,schweben‘:

Schwebten nieder aus dem blau,
blaue federn, blauer tau,
schwebten in das gras und strahlen,
blauen auf dem stein, dem kahlen,
blauen auf dem sand, dem fahlen,
fädchen aus der wälder naht
schweben hin am stacheldraht,
hin an türmen, am MG,
blaue federn, blauer schnee.

,Stern‘ und ,Stein‘ ist der Körper des Vogels; seine Federn aber gemahnen nochmals an die maritime Welt der Freiheit, sind Tau und Schnee, der sich über die Lagerlandschaft, die jetzt erstmals in den Blick kommt, ausbreitet und sie verändert, wenn auch nicht verwandelt. Den Menschen im Lager gewähren sie eine letzte Erinnerung an die Visionen der Kindheit und der Freiheit, wie sie aus den Eingangsstrophen hier, in einer neuerlichen Apostrophe: „Augen, ach, der mutter augen, / schiffe, schiffe, schnelle schiffe, / segel, segel, weiße segel, wasser, wasser, still geteilte“ – nochmals evoziert, freilich in der Umkehr der Reihenfolge auch zurückgenommen und aufgelöst werden, und an jene ,blau gestickten Blumen‘, die jetzt keine Heilung mehr verheißen: Es bleiben nur „die herzen, die zerrissnen, / blutenden, die blutenden.“ Die Menschen vergraben mit ,traurigen Worten‘ die letzten Zeichen vom Dasein des ,blauen Vogels‘:

Dir war’s nicht gegeben, vogel,
herzufliegen aus dem blau,
her in diesen drahtverhau,
kamst, barmherziger, ums leben,
wirst du jemals uns vergeben?

Schwieg der blaue vogel.

Reiner Kunze hat die Übersetzung dieses Gedichtes 1967 in dem Band Fährgeld für Charon veröffentlicht; er hat sie für die folgende Auflage der Sammlung von 1989 an einigen Stellen verändert und die ,gemäßigte Kleinschreibung‘ eingeführt. Er hat sie dann vollständig in einem Vortrag „Der Dichter Jan Skácel. Versuch eines Portraits in Gedichten, Feuilletons und Briefen Jan Skácels und in Zeugnissen seiner Freunde“ zitiert, der im Jahr 1996 als Heft Nr. 54 in der Edition Toni Pongratz (Hauzenberg) erschien; und es liegt ein früherer bibliophiler Druck dieser Übersetzung, wiederum in der Edition Toni Pongratz, mit Radierungen von Mario Schosser vor.
In der Weiterarbeit an der Übersetzung, so läßt sich eine Sichtung der Details zusammenfassen, gewinnt die Sprache an Genauigkeit, nähert sich weiter dem tschechischen Wortlaut an; die ,Erzählung‘ wird einmal, in dem Beiheft zur bibliophilen Edition auch in jene – scheinbar zeitlose – Vergangenheit gesetzt, wie sie Märchen eignet. Dieser Märchen- und Volkston stellte den Übersetzer vor schwierige Aufgaben. Denn, wie Reiner Kunze gelegentlich erläuterte:

Skácels Poesie korrespondiert ganz intensiv mit der tschechischen Volkspoesie, mit dem Volkslied, mit dem Volksleben, und man müßte, damit die Nuancen, Anspielungen und Assoziationen im Deutschen aufgehen, diesen Hintergrund mit übersetzen. Das geht aber nicht. Man kann sich aber auch nur in Ausnahmefällen auf deutsche Volkslieder beziehen. Erstens sind sie kaum noch lebendig, und zweitens haben sie einen anderen Charakter, sind sie von einer anderen Mentalität geprägt.

Wenn Kunzes Übersetzung vom tschechischen Wortlaut abweicht, so nur, um diesen Sinn dem Deutschen angemessen wiederzugeben. Einige Beispiele mögen dies, zunächst unkommentiert, zeigen:

(1)

Wo die mutter euch gebar,                               Dahin, wo ihr geboren seid,
dorthin geh ich wasser trinken.                     gehe ich Wasser trinken.
Dort, wo eure kindheit war,                           Wo euch die Mutter geboren hat,
pick ich goldnes korn,                                       gehe ich goldenes Korn picken
schlaf ich unterm dorn,                                    dahin fliege ich mich zur Nacht zu verbergen,
dort zu haus, bei uns.                                        nach Hause, nach Hause, zu uns.

(2)

Ob euch nichts im schlafe schreckt,              Ob ihr in der Nacht ruhig schlafft,
ob euch brot und segen weckt                        lebendig seid und Brot eßt

(3)

Wir schlafen ein mit näglein besteckt          In der Nacht schlafen wir mit Rosen bedacht

(4)

doch zu haus verschweig das trauern,         verschweig aber, verschweig bei uns,
das du siehst im drahtverhau.                        was du siehst.

(5)

Schwebten nieder aus dem blau,                   Das blaue Gefieder fällt zur Erde,
blaue federn, blauer tau,                                  fällt, fällt, es schmilzt nicht,
schwebten in das gras und strahlen,          fällt dahin, wo das Gras wächst,
blauen auf dem stein, dem kahlen                fällt dahin, wo der Stein liegt,
blauen auf dem sand, dem fahlen,               dahin, wo die Welle im Sand rinnt,
fädchen aus der wälder naht                         dahin, wo Wälder den Horizont kürzen,
schweben hin am stacheldraht,                    fällt, fällt zwischen Drähte
hin an türmen, am MG,                                  um die Maschinengewehrtürme
blaue federn, blauer schnee.                         schneit es blaues, blaues Gefieder.

Der Übersetzer Reiner Kunze nutzt volkstümliche Formeln wie ,Brot und Segen‘; im ersten Beispiel klingt die, dann in (3) gewählte deutsche Volksliedformel des Einschlafens ,mit Näglein besteckt‘ bereits an, wenn der Vogel, „dort zu haus, bei uns“, „unterm dorn“ einschläft; aber mit dem ,Dorn‘ deutet die Natur doch auch, mitten in der Kindheitsidylle behüteten Schlafs, auf mögliche Verletzungen: ,Stacheldraht‘ hat Dornen; anders als der ,Dorn‘ in der Natur sollen diese menschengeschaffenen Dornen des ,Drahtverhaus‘ nicht behüten, sondern sind geschaffen, Freiheitssuchende zu verletzen. Im vierten Beispiel nimmt die Übersetzung auffällig jenes Merkwort ,Drahtverhau‘ aus der ersten Strophe auf.
Wie ein Signal zerstört es die Wunschwelt, die sich die Menschen im Wechselgespräch mit dem ,blauen Vogel‘ entwerfen durften – und die auch in der Übersetzung mit sorgfältig aufgebauten Assoziationen heraufbeschworen ist. Die deutsche Nachdichtung nimmt jedoch im Entwurf dieser Gedichtwelt nicht die weitere Herausforderung an, die „für jeden Skácel-Übersetzer“ dessen ,Wortspiele, Lautmalereien, Assonanzen‘ darstellen; an einem von Skácels Vierzeilern hat Reiner Kunze gelegentlich – etwa in seiner Rede zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Technischen Universität Dresden – diese ,Herausforderung‘ aus den je verschiedenen Sinnprägungen der beiden Sprachen, des Tschechischen und des Deutschen, entwickelt. Aber in dem frühen Gedicht „Der blaue vogel“ erscheint die Semantik des Klangs, wie sie spätere Gedichte Skácels bis zur Perfektion entwickelt haben, noch nicht allzu ausgeprägt. Indessen finden sich Materialität und Semantik der Sprache in der Rekurrenz des m hier doch so verschränkt, wie es die tschechischen Strukturalisten in ihrem Modell der poetischen Funktion beschrieben haben; im Deutschen nachzubilden läßt sich dies wohl nicht: Eine Assonanz zwischen ,matka‘ / ,maminciny‘ (Mutter / mütterlich) und ,modry‘ (blau) assoziiert diese Leitfarbe auch im lautlichen mit der mütterlichen Sphäre, mit dem – verlorenen – ,Zuhaus‘ / ,domu‘. Aber in der letzten Strophe des deutschen Gedichtes wird jedenfalls diese Farbe ,blau‘ noch einmal besonders betont, wird damit gleichsam zur letzten, stummen Botschaft des Vogels. So ist dies in beiden Versionen des Gedichtes eine zentrale Chiffre – und vielleicht auch das Gegenwort zum ,Drahtverhau‘.
Sie weist zurück in die Kindheit. Ihr hat Skácel einmal einen Vierzeiler gewidmet, wiederum von Reiner Kunze übersetzt:

kindheit ist das was irgendwann
gewesen ist und aus dem traum nun hängt
ein faden fesselrest den man
zersprengen kann und nie zersprengt

Diesen ,Fesselrest‘ verspüren die Menschen in ihrem Dialog mit dem ,blauen Vogel‘. In einem Prosatext, „Das blaueste Feuilleton“, verbindet Skácel die Erinnerung an die Kindheit unter der Obhut der Mutter mit der Farbe ,blau‘.
Als Skácel im Lauf der fünfziger Jahre allmählich zu einem eigenen lyrischen Ton fand, begegnete ihm in Georg Trakls Gedichten eine Tradition der deutschsprachigen ,Moderne‘, die auch für Reiner Kunze „bedeutsam“ genug ist. So ist denn Skácel auch in „unseren deutschsprachigen Breiten […] vor allem mit zwei Dichtern verglichen worden: mit Georg Trakl und Peter Huchel“, ein Vergleich, der freilich nicht auf Gleichsetzungen ausgehen darf, sondern vor allem „auf das Unterscheiden“; während bei Trakl – laut Peter Handke – etwa „die Farbenzeichen für die Dinge […] aus der Empfindung, dem Traum, der Vision des Dichters kommen, läßt Skácel […] an seinen Dingen in der Regel deren reale Farben erscheinen, auch wenn es die besonderen eines besonderen Augenblicks sind: Seine ,blauen vögel‘ sind in dem dichtenden Moment wirklich blau“. In der lyrischen Sprache Trakls ist ,blau‘ das häufigste Farbwort, oder vielmehr – wie bei Skácel – eine Chiffre, die sich auf eine einfache Aussage nicht festlegen läßt, sondern gleichsam ein weitgespanntes Netz von Sinnzusammenhängen bündelt. Trakl selbst hat sich ja, in dem Gedicht „An einen Frühverstorbenen“ und in den Gedicht-Fassungen „An Novalis“ in die Nachfolge des Romantikers gestellt, der die ,blaue Blume‘ zu einem ebenso berühmten wie unverstandenen, fern gerückten Zeichen der ,Poesie‘ gemacht hatte; doch in Skácels Gedicht begegnen uns die ,blauen Blumen‘ nur als Muster auf den gestickten Tüchern. Vielleicht aber begegnet uns das ,Blau‘ wiederum in Trakls Gedicht Kindheit als Versprechen eines ,anderen‘ Daseins: „ruhig wohnte die Kindheit / In blauer Höhle.“ Die Variationen des ,Blau‘ durchziehen dieses Gedicht; sie verbinden die Anamnese mit der Spiritualität des Künftigen: „Und in heiliger Bläue läuten leuchtende Schritte fort.“
Freilich läßt sich hier kein Lexikon für eine Übersetzung von Skácels Gedicht in praktikable Prosa finden; doch weil wir nicht wissen können und deshalb auch – laut Reiner Kunze – niemals fragen sollen: „Was wollte uns der Dichter damit sagen?“, so müssen wir uns darauf beschränken, die Worte in verschiedenen Texten miteinander zu verbinden; denn so, aus der Erfahrung des Sprechens, entsteht Sinn – und deshalb ist er nie endgültig festgelegt, verändert sich, wird immer reicher. „Eine Unzahl von Assoziationen drängt sich auf“; so beschreibt Reiner Kunze seine Lektüreerfahrung eines Skácel-Gedichtes: Wenn wir also, in unserer Lektüre, das Gedicht ,wörtlich‘ nehmen, so müssen wir auch den Spuren der Worte folgen. Sinnvoll aber müssen diese assoziativen Verbindungen sein; und was sinnvoll ist, entscheidet wiederum die Wortfügung des Gedichtes. Doch vorerst wollen wir – mit Jacob Steiner – daran erinnern, wie die „Emanzipation der Farbe“ in der Avantgarde um 1900 die Künste verbindet; es kommt zu einem „Aufbruch in eine bisher nicht gekannte Farbigkeit“, ohne daß die Farbgebung noch „von der äußeren Anschauung der Welt“ bestimmt wäre. Die Programmatiker des tschechischen Poetismus wollen das ,Bild‘ als ein „Farbengedicht“ begreifen, die Avantgarde der Maler, ob in München oder Wien – die Maler des ,Blauen Reiter‘, Wassily Kandinsky oder auch Oskar Kokoschka – befreit den Sinn der Farben von der realistischen Konvention, und sie steht damit in Wechselwirkung mit der literarischen Moderne; auch persönliche Beziehungen sind – etwa in Trakls Biographie – belegt. In seiner Abhandlung über das Geistige in der Kunst (1910) versucht Kandinsky eine Übersetzung der Farbchiffren und beschreibt, wie das ,blau‘ in einer Kreisform eine „konzentrische Bewegung entwickelt […] und vom Menschen sich entfernt“:

Je tiefer das Blau wird, desto mehr ruft es den Menschen in das Unendliche, weckt in ihm die Sehnsucht nach Reinem und schließlich Übersinnlichem. Es ist die Farbe des Himmels, so wie wir ihn uns vorstellen bei dem Klange des Wortes Himmel. Blau ist die typisch himmlische Farbe. Sehr tiefgehend entwickelt das Blau das Element der Ruhe. Zum Schwarzen sinkend, bekommt es den Beiklang einer nicht menschlichen Trauer.

Wir wollen die Beispiele nicht häufen; doch sie sollten angeführt sein, weil sie uns eine Sprach- und Bildwelt erschließen, die erst den lebens- und werkbestimmenden Eindruck erklären kann, den die tschechische Lyrik für Reiner Kunze gewann. „So konnte,“ resümiert Heiner Feldkamp einen vielschichtigen, in sich gegliederten Prozeß der Annäherung, Aneignung und Anteilnahme, „Reiner Kunze Anfang der sechziger Jahre auf dem ,Umweg‘ über die Tschechoslowakei ästhetische Phänomene der westeuropäischen Moderne rezipieren und für sich entdecken. Schnell lernte er tschechische Autoren seiner Generation, zumeist Lyriker, kennen, die sich kaum für die proletarische Literatur eines Majakowski oder für die Funktionsästhetik Shdanows oder Lukacs’ interessierten, sondern den literarischen, ästhetischen und philosophischen Strömungen Frankreichs folgten“ – aber auch, wie wir ergänzen dürfen, die deutschsprachige ,Moderne‘ in diesem Dialog der Dichter zu Wort kommen ließen.
Sie seien, so hat Reiner Kunze einmal die Generation Jan Skácels charakterisiert, „dichter auf dem wege“; dann nennt er die Namen älterer Autoren, „wegschilder, inschriften in den almanachen der weltliteratur, der lyrik der moderne“. Ihm ist die Tradition der tschechischen literarischen ,Moderne‘ bewußt – dank seinen tschechischen Freunden wie Ludvik Kundera, wie Milan Kundera, wie Jan Skácel, der seit 1963 auch als Chefredakteur der literarischen Monatsschrift Host do domu eben diese Tradition lebendig halten konnte, bis zum Verbot der Zeitschrift im Jahr 1969. Schon 1955, zwei Jahre vor der Publikation von Skácels erstem Gedichtband, hatte Milan Kundera, selbst bereits heftig als ,bürgerlicher‘ ,Formalist‘ verdächtig, „unter Anwendung aller [ideologisch] üblichen Floskeln den Begriff ,progressives Kulturerbe‘“ so erweitert, daß auch der tschechische Poetismus und dessen Vorbilder in der französischen Avantgarde dazu gehören sollten. ,Fragwürdig‘ – im Sinne der damaligen Machthaber – konnte die Poesie ja nur erscheinen, weil man plane Antworten von ihr erwartete. Dazu kontrastierend hatte sich die tschechische Avantgarde-Bewegung des Poetismus seit ihren ersten Proklamationen als „eine Reaktion auf die bei uns vorherrschende ideologische Poesie“ vorgestellt, und Vítězslav Nezval hatte in einem der Manifeste die Poesie an eine andere Möglichkeit erinnert:

Es ging darum, die Wirklichkeit aufzudecken, ihr die leuchtende Form zu geben wie am ersten Tag.

Damit ist auch die Wirklichkeit der Zeichen – der Farben, der Sprache – gemeint. Die „strikte Differenzierung zwischen der kommunikativen und der ästhetischen Funktion der Sprache“, wie sie die tschechischen Strukturalisten aus ihrer Mitwirkung an der Avantgarde-Bewegung in ihrem Land vorzunehmen wußten, lenkt die Aufmerksamkeit weg von Ansprüchen eines ,Realismus‘, dem inzwischen auch noch das Ideologie-Attribut ,sozialistisch‘ verliehen worden war. Im ,Poetismus‘ gilt das Eigenrecht der Sprache; seine Autoren stehen im Dialog mit jenen Literaturströmungen der ,Moderne‘, in denen die „metaphorischen Bezeichnungen nicht die ,uneigentlichen‘ sind“, sondern – wie bereits Hugo Friedrich zur ,Struktur der modernen Lyrik‘ formulierte – „sie sind im Gegenteil die unersetzlichen, die spezifischen, spezifisch nämlich für eine Lyrik, die primär der Sprache, nicht einem Weltbezug dient.“ Ihre ,absoluten Metaphern‘ schaffen eine „Lyrik der Bilder“, nicht der Abbilder. So hat Reiner Kunze noch in einer Würdigung Jan Skácels hervorgehoben, wie dessen „Dichten […] den Grundfragen der menschlichen Existenz“ gelte – „und es ist von einer Bildkraft und Bildfülle, die man bei nur wenigen Dichtern heute finden wird“, eine „Bildhaftigkeit“, die der Rezensent Milan Kundera wiederum in Reiner Kunzes Gedichtband Widmungen der „Inspiration“ im geistigen Raum ,Böhmen‘ zuschreiben wird.
Daß Kunze – laut Luboš Příhodas Nachwort zu dem Gedichtband Widmungen, der von dem erweiterten Horizont zeugt – „neben Franz Fühmann der beste zeitgenössische Übersetzer der tschechischen Poesie und ihr agilster Propagandist wurde“, läßt uns die Intensität dieser „Entdeckung einer nicht-mimetischen Literaturtradition“ ermessen; das Übersetzen dieser Gedichte bedeutete in dem normierten Raum der DDR-Literatur für den jungen Autor Kunze ein „Bekenntnis zum ästhetischen Spielraum der modernen Poesie.“ Daß er, wie man im deutsch-deutschen Literaturvergleich formulieren konnte, die „absolute Metapher […] zu einem Zeitpunkt adaptierte, als sie in der Bundesrepublik fragwürdig zu werden begann, war“ als Wagnis des Schreibens wohl auch „ein politischer und existenzieller Befreiungsakt“; aber vor allem schuf es eine Mitteilung, die so nur im Gedicht möglich war und nicht mit den Verlautbarungen der politisierten öffentlichen Sprache und ebensowenig mit der Prosa des Alltags zu konkurrieren hatte.
Jener kurze, bereits zitierte Text, mit dem Reiner Kunze seinen Band mit Nachdichtungen aus dem Tschechischen die tür einleitet, wird von dem leitmotivischen Satz gegliedert: „Sie sind dichter auf dem wege“; er mündet in ein Gedicht von Jan Skácel, dessen letzter Vers lautet: „Es ist so leicht, den weg zu uns zu finden.“ Hier geht der Text den ,Weg‘ voran, den er den Leser führen will – von der Sprachwelt Kunzes in die der tschechischen Poesie. Eine Gemeinschaft der ,Bilder‘ entsteht in diesem Dialog. Dies ist die Bedeutung des ,Übersetzens‘ für Reiner Kunze, das eine dienende, aber keine mindere Form der Dichtung ist; der „nachschöpferische Prozeß“ unterscheide sich, so legt die Münchner Vorlesung Reiner Kunzes Die poetische Vorstellung. Zur Struktur des dichterischen Bildes und des Poesieerlebnisses dar, „in der Struktur […] nicht vom schöpferischen“:

Ein Gedicht so aus einer fremden Sprache in die eigene zu Übersetzen, daß es in der eigenen Sprache wieder ein Gedicht wird und man ihm nicht anmerkt, daß es nicht in dieser Sprache geschrieben worden ist, und es so zu übersetzen, daß die Übersetzung dem Original so nahe wie möglich kommt und ein Gleiches und zugleich Gleichwertiges entsteht, setzt als Übersetzer einen Lyriker voraus.

Die ,Übersetzung‘ überträgt also ein ,Original‘ in einen anderen Lebenszusammenhang, es entsteht ein neues ,Original‘, „dasselbe, das ein anderes ist“. Und so entsteht jener Dialog, der den ,Internationalismus der Dichter‘ begründet. Die ,Übersetzung‘ steht nicht fremd im Werk des übersetzenden Dichters, sondern ist ein Medium der Kommunikation seines Werkes mit dem anderer Dichter. Deshalb begegnen ,Bilder‘ aus Gedichten Jan Skácels uns auch in den Gedichten Reiner Kunzes, ,anders‘, aber vergleichbar. ,Leitmotive des Transzendierens‘, der Grenzüberschreitung und Entgrenzung, sind in dem Band Widmungen, der diesen Dialog mit den tschechischen Dichtern aufnimmt, „Rose, Vogel, Himmel und Fluß. […] Der Vogel, Sinnbild der Freiheit und Grenzüberwindung, findet sich als volkspoetisches Motiv schon in der frühen Lyrik Kunzes und wird im Band Widmungen ganz im Sinne der deutschen Romantik zur Figuration der Poesie“, einer Poesie, die „zweckfrei und doch, in Heiterkeit und Schmerz, zutiefst dem tödlichen Grundgesetz des Lebens verbunden“ ist. Auch Georg Trakls Gedichte variieren diese Sinnfigur: Die ,Vögel‘ sind in ihnen „ein Zeichen in der Natur, ein Zeichen, daß sie nicht ganz der Endlichkeit anheimgegeben ist. In reiner Höhe ziehen sie ins Unendliche, die Sehnsucht des Irdischen folgt ihnen in die Weite“; damit erinnern sie an die Poesie: „Der Flug der Vögel tönt von alten Sagen“. Hier ist, halb verrätselt, die Volks- und ,Natur‘-Poesie im ,modernen‘ Gedicht bewahrt. Vielleicht hatte ja, wie Reiner Kunze vermutet, Skácel Vogelmotive aus der Volkskunst „vor Augen […], als er das Gedicht schrieb“:

In manchen Gegenden [von Skácels Heimat Mähren] sind auf den Tischdecken und Schürzen der Frauen in Blaudruck Vögel abgebildet, die mit den Schnäbeln zueinanderstehen; auch über Hauseingängen finden sich solche blauen Vogelpaare.

Doch taucht der ,blaue Vogel‘ auch im slawischen populären Erzählgut auf, etwa im Titel eines russischen Märchens, das wiederum – dank der Suche der Avantgarde nach dem ,Volk‘ – einem unter den ,Modernen‘ geschätzten russischen Künstlertheater den Namen gab (Peter Huchel etwa wohnte dessen Aufführungen im Wien der zwanziger Jahre bei). „Mit der Frage, wo der Vogel ,goldnes korn‘ pickt,“ werden wir ja auch im Bereich des Volkstümlichen schon auf den Gesang des Vogels verwiesen; denn hier spielt Skácel – nach einer Vermutung Reiner Kunzes – „auf das Märchen Der Feuervogel und das rothaarige Füchslein von Karl Jaromír Erben an, in dem ein Junge einem Vogel, weil er ihn fangen möchte, kein gewöhnliches, sondern goldenes Korn streut, obwohl er weiß, daß der Vogel dann zu singen beginnt“. Der Vogel und der Gesang – des Dichters – sind metaphorisch verbunden. Für Vítězslav Nezval, einen jener Autoren des Poetismus, dessen Name für Reiner Kunze ein ,Wegschild‘ ,der Moderne‘ bedeutete, ist das Gedicht „ein wunderbarer Vogel“. „Flieg, mein gedicht!“, fordert das Prolog-Gedicht der Widmungen Kunzes und erweitert damit das ,Bild‘ um eine Bewegung, eine – scheinbare – Befreiung von der Erdgebundenheit: „[…] wenn du nur in den zweigen / sitzt und singst.“ Und in dem Gedicht „der vogel Schmerz“ wird die Metapher des Fliegens variiert; das ,Fliegen‘ befreit, entrückt den ,Schmerz‘, ohne ihn aufzulösen:

Gedicht, steig auf, flieg himmelwärts!
Steig auf, gedicht, und sei
der vogel Schmerz

Zu den Gedichten, mit denen Jan Skácels Gedicht im Dialog steht, gehört auch eines dieses Autors selbst; in „Porträt längst ausgestorbener Vögel und der Wal“ lauten die ersten Verse:

In die hand nimmt der dichter das wort wie ein ei
und die gattung vogel
längst ausgerottet vom menschen
zerbricht die schale und steigt auf

So weckt das poetische ,Bild‘ vom ,blauen Vogel‘ Assoziationen an die Schönheit, die Schöpfungsgeste, das Wunderbare, das plötzlich, nicht zu reglementierende Erscheinen der Poesie. Der ,Vogel‘ selbst entsteht im Gedicht wie ein ,Bild‘, in einem Prozeß fortgesetzter Wahrnehmung durch den Betrachter, und so konzentriert sich denn in dieser ,absoluten Metapher‘ das poetische Verfahren dieses bildschöpfenden Gedichtes, jene Verbindung von Kindheitswelt, Volkskunst und Avantgarde, wie sie für die Modernität der Lyrik Skácels eigentümlich ist. Freilich hatte Reiner Kunze nicht nur die „Bildkraft und Bildfülle“ von Skácels Dichten hervorgehoben, sondern auch dessen, dem Anspruch der geschichtlichen Lage angemessenen, existenziellen Ernst. Denn das poetisch freie Spiel vermag sich aus sich heraus nicht gegen den Druck der Ideologie zu behaupten.
Reiner Kunzes Gedicht „wiederbegegnung bei euch“ bringt diese Verschränkung von Poesie und existenzieller Selbstbehauptung in eine zeitaktuelle Konstellation; es ist unter ein Motto von Peter Huchel gestellt, der ja mit Jan Skácel wie mit Kunze im Dialog stand. Sein Titel klingt wie eine Reminiszenz an Skácels Gedicht an. Die ,Wiederbegegnung‘ als Heimkehr, die Wiederbegegnung ,bei uns‘, erweist sich, obschon der Gesang des ,blauen Vogels‘ dazu auffordert, als unmöglich; der Vogel vermag die beiden Welten – der Gegenwart und der Kindheit – nicht zu verbinden. Das Gedicht „wiederbegegnung bei euch“ bestimmt die poetische Sprache als den „treffpunkt“ künftigen Begegnens, den ,Gesang‘ in die Spur der Schrift verwandelnd:

Beim blauen schriftzug des eisvogels,
der nur dann seinen ort verläßt,
wenn den bächen das eis
bis zum quell steht

– wenn der ,Quell‘ der Poesie in der ,Eiszeit‘ staatlichen Drucks erstarrt, so daß nur noch die zensierte Sprache der ,Zeitungen‘ gilt. Hier ist die ,Poesie‘, auf die wiederum die Bildvokabeln ,blau‘ und ,Vogel‘ deuten, in die Herrschaftspraxis des totalitären Kommunismus gestellt, der – so wie Peter Huchel es tat – Widerstand zu leisten ist.
Dem entspricht eine der wenigen Änderungen, die der Übersetzer an Skácels Text vornimmt, eben jene Wiederholung des Wortes ,Drahtverhau‘. Es markiert den Einbruch der Politik in die Welt der Poesie. Damit läßt bereits Skácel das freie Sprachspiel einer surrealistischen Avantgarde hinter sich; er hatte freilich auch andere historische Erfahrungen, die in der uns zitierten Medieninformation allerdings unerwähnt bleiben, existenziell zu bewältigen: In den vierziger Jahren war der junge Skácel – laut einer autobiographischen Notiz, die Reiner Kunze auf deutsch mitteilt – „Hilfsarbeiter auf dem Bau und wurde zur Zwangsarbeit im Reich eingezogen“ und interniert: „Aus dem Trauma, das der ,Totaleinsatz‘ als Zwangsarbeiter für den erst Neunzehnjährigen bedeutete, ging das große frühe Gedicht ,der blaue vogel‘ hervor.“ So ist im Gedicht „Der blaue vogel“ die Poesie in das Jahrhundert des Lagers gestellt.
Ein zweites, weniger auffälliges Zeichen verstärkt die Wahrnehmung der Gefahr; in der ,gemäßigten Kleinschreibung‘, die Reiner Kunze für die späteren Drucke seiner Übersetzung wählt, stechen die Großbuchstaben MG besonders hervor: „Zwingt uns um Gottes willen nicht, die unlogische Verbindung von Stahl und Holz zu lieben, die Gewehr, Maschinenpistole oder MG genannt wird“, hatte Skácel bereits „um die Jahreswende 1954/55 [in] einer Polemik gegen einen offiziell hoch angesehenen Lyriker“ geschrieben und auch damit die Monstrosität der Zeichen mörderischer Staatsgewalt gegen die Freiheit der Poesie gesetzt. Doch auch Reiner Kunze benennt die historische Lage für den „vogel Schmerz“ seines Gedichtes präzise:

Nun bin ich dreißig jahre alt
und kenne Deutschland nicht:
Die grenzaxt fällt in Deutschland wald
O land, das auseinanderbricht
im menschen

Und alle brücken treiben pfeilerlos

,Deutschland‘ ist großgeschrieben in diesen Versen. Den ,Schmerz‘ über die Teilung Deutschlands – durch Mauer, Stacheldraht und MG – nimmt das Gedicht als „vogel Schmerz“ auf sich; im Aufflug bestätigt es, nachdem alle Verbindungen – die Brücken – abgebrochen sind, die Möglichkeit zum Überfliegen der Grenze, die Möglichkeit der Freiheit, die gerade aus dem ,Schmerz‘ heraus als Notwendigkeit erfahren wird. „Ich litt an der Grenze, die Deutschland teilte, seit es sie gab“, bekannte Reiner Kunze einmal. Das Gedicht aber kann, wenn die „brücken […] pfeilerlos“ wurden, noch jene Verbindung zwischen den Menschen stiften, die von der Gewalttätigkeit der Macht und der Lüge der Ideologie zerstört wird; denn das Gedicht teilt, auffliegend, den ,Schmerz‘ des Dichters über die Grenze hinweg mit. Damit bewahrt es – in Reiner Kunzes Poetik des Dialogs – die Wahrheit; denn, wie er im Dialog mit dem Fundamentaltheologen Max Seckler feststellte, der „Dialog selbst ist das Leben der Wahrheit“.
Einen Dialog über diese Hoffnung bietet Jan Skácels Gedicht „Der blaue vogel“ an. Hier endet das Wechselgespräch des ,blauen Vogels‘ mit den Menschen tödlich; aber dieses Wechselgespräch – mit seiner Erinnerung an die ,Kindheit‘ – macht den Menschen auch ihre Situation ,im Drahtverhau‘ bewußt; sie verzichten auf Selbsttäuschungen; sie trauern dem Vogel nach. Der Vogel, in all seiner Schönheit, überlebt nicht; ,Mitleid‘ und ,Barmherzigkeit‘ aber beweist er im Tod; seine ,Federn‘ bleiben als stumme Zeichen; der ,Vogel‘ schweigt. In der Welt des Lagers ist für die Schönheit des ,Bildes‘, das Ideal moderner Poesie, kein Raum. Das Aufsteigen des ,blauen Vogels‘ hat die Welt nicht verändert, aber es hat ihre Wahrheit kenntlich gemacht.
In der Wahrnehmung dieser Wahrheit entsprechen das ,Trauma‘ des Zwangsarbeiters Skácel und der ,Schmerz‘ des in sein Land eingesperrten DDR-Bürgers Kunze einander. Die Übersetzung verbindet diese Erfahrungen; sie bahnt Wege, wo historische und politische Grenzen den Dialog verhindern wollen.

Walter Schmitz und Ludger Udolph, aus: Marek Zybura (Hrsg.): Mit dem wort am leben hängen… Reiner Kunze zum 65. Geburtstag, Universitätsverlag C. Winter, 1998

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