Peter Rühmkorf: Zu Peter Rühmkorfs Gedicht „Früher, als wir die großen Ströme noch“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Peter Rühmkorfs Gedicht „Peter Rühmkorf: Zu Gerhard Rühmkorfs Gedicht „Früher, als wir die großen Ströme noch“ aus Peter Rühmkorf: Gedichte. Werke Bd. 1. –

 

 

 

 

PETER RÜHMKORF

Früher, als wir die großen Ströme noch

Früher, als wir die großen Ströme noch mit eigenen Armen teilten,
O b,   L e n a,   J e n n i s s e i,   M i s s o u r i,
M i s s i s s i p p i,   E l b e,   O s t e,
und mit Gesang den Hang raufzogen
und mit Gesang auch wieder herab,
immer den Augen hinterher und Hyperions leuchtenden Töchtern,
des Tages Anbruchs Röte
und des Mondes Aufzugs Beginn –
H e u t e: drei Telefongespräche und der Tag ist gelaufen.

Ja, man steht noch in Korrespondenz, das wohl…
Paar Gedankenstriche zu einer Ästhetik des Flickworts,
eine Hoffnung.
Etwas Zuspruch aus zahnlosen Mäulern,
ein Gewinn.
Dies nervöse Verflackern der fleißigen alten Kerle
kurz vorm Abschiednehmen,
ohne daß nochmal jemand richtig Reisig nachwirft –
Aber es ist immerhin nicht das erste Mal, daß du seufzt
und hoffentlich nicht das letzte,
irgendsoeine blindgeborene Mickymaus wird sich schon noch finden,
die deine Anlagen würdigt.

Wenn man bedenkt, wie vielen trotzigen kleinen
Tante-Emma-Läden
du bis zum letzten Hirsekorn die Treue gehalten hast,
und sind ausnahmslos untergegangen…
Und dann kommt ja auch bald der Moment,
daß du selbst die Regale räumen mußt,
nur weil von hinten unentwegt die neue Ware nachdrückt:
Vom Dreck ergriffen steht die Menge da.
Nicht zur Hilfe eilen die Mitmenschen,
sondern zu niederen Schauzwecken.

Du aber sitzest angestrengt auf deinem Scherbenhügel,
einen abgerißnen Fluch im Hals –

Alles Quack, wer der Welt zu tief ins Auge gesehn hat,
um noch an ihr leiden zu wollen,
wird den Mangel an Service hier nicht so persönlich nehmen.
Lieber als daß ich einiger abgesoffener Salatblätter wegen
gleich nach dem Chef des Hauses verlang,
laß ich mir doch das restliche Abendlicht auf der Netzhaut zergehn.
Ein paar dampfende Dachpfannen nach dem Regen.
Eine nasse Hecke, hingestreckt über tausend Meter,
eine viertel Stunde lang.
Ja, und am Ende sehnst du dich dann nach den Tagen,
die du jetzt so lieblos verabschiedest.

 

 

Selbstinterpretation

Ja, damals, als wir die großen Ströme noch… das waren noch Zeiten. Mythische Zeiten. Heroisch-arkadische. Die frühen Heldenjahre, als das jugendliche Ich die Welt noch im ersten Ansturm glaubte erobern zu können und ihre Gipfel aus eigener Kraft zu erklimmen. Aber der unerbittliche Zeitanzeiger meldet sich bereits am Schluß der ersten Strophe zu Wort: das Telefon, das die nostalgisch erinnerten Zusammenhänge ziemlich plötzlich und erbarmungslos zerklingelt.
Damit verlassen wir augenblicklich ein utopisches Es-war-einmal und betreten mit dem Boden der Gegenwart ein weit weniger verlockendes Gelände, wo nur noch schattenhafte Geschäftigkeiten den Tagesablauf diktieren. Ob das nun bloß die bekannten altersbedingten Hadesanwehungen und die entsprechenden Verlustanzeigen sind, möchte ich einfach einmal dahingestellt sein lassen. Was zu beklagen ist, sagt das Gedicht ohnehin in seiner eigenen Sprache, und da wollen wir ihm im nachhinein auch gar nicht hereinreden. Zu bemerken und der poetologischen Betrachtung zu empfehlen wäre allenfalls noch folgendes. Erstens, daß ein Gedicht einen zunächst noch unbestimmten Längsschnittorganismus darstellt, der sich von einem vorgegebenen Anfang auf einen noch nicht absehbaren Schlußpunkt zubewegt. Und zweitens, daß sich seine Entwicklung meist in unterschiedlichen und insofern gesondert zu beschreibenden Wachstumsschüben vollzieht.
Solche organologischen Fragen sind meines Wissens immer reichlich stiefmütterlich behandelt worden und sie legen wie von selbst die Versuchung nahe, uns mit einem bedeutenden Vorgänger anzulegen, dem seinerseits Begriffe wie Vorgang, Fortbewegung, Werden und Entwicklung lebenslang fremd geblieben sind:

Doch dir bestimmt: kein Werden,
du bleibst gebannt und bist
der Himmel und der Erden
Formalist.

Also ich spreche von Gottfried Benn, der sein eigenes Kompositionsprinzip gern als „Orangenstil“ bezeichnete und worunter wir uns kreis- oder ringförmig um eine imaginäre Mitte angeordnete Fruchtsegmente vorzustellen haben. Das ist ein sprechendes und zweifellos auch ansprechendes Bild. Es setzt nur leider ein bereits vorgefaßtes Ich voraus, dem ich von mir aus etwas reserviert gegenüberstehe, weil ihm Bewegung offensichtlich nur als wieder und wieder wiederholter Zirkelschlag um die eigene Mittelachse vorstellbar scheint.
Wer dazu neigt, Gedichte als entwicklungsfähige Lebewesen zu betrachten, die sich erst im Durchlauf verfertigen, wird sich mit Querschnittspräparaten der geschilderten Art kaum begnügen mögen. Und sie bewegen sich ja auch wirklich voran, Zeile für Zeile, Strophe um Strophe und Sequenz nach Sequenz, wobei allgemein verbreitete Vorstellungen von experimentellem Fortschreiten allerdings von Grund auf revidiert gehören. Wissen wir zu Beginn unserer ersten Strophe etwa schon, welche Wendung die zweite nehmen wird? Keineswegs. Läßt die zweite bereits erahnen, daß sich die dritte plötzlich in einen sozial verbindlichen Kontext einschreibt und unsere Pss- Privatperson ihre subjektiven Kopfbeschwerden als gesellschaftliche Fatalität zu erkennen beginnt? Doch wohl kaum. Also Überraschungen und dialektische Wendemanöver allerwege und aufs ganze gesehen schon eine ziemlich dramatische Zitterpartie mit ungewissem Ausgang.
Aber verweilen wir noch für einen Moment bei jener Wendemarke, wo unsere lyrische Ich-Person sich in Beziehung zu setzen sucht. Ich könnte auch sagen, sich sinnbildlich zu verallgemeinern, denn das tut sie ja offenbar, und der zum Vergleich heranzitierte Tante-Emma-Laden weist seinerseits beziehungsvoll auf unsere eigene Hausmacherwerkstatt zurück. Wo schon der gesamte Einzelhandel zur Liquidation ansteht und für den kleinen Privatunternehmer kaum noch ein Aufkommen ist, fühlt sich das ähnlich unsanft aus dem Wettbewerb gedrängte Verskunstwerk solchen Abstiegskandidaten fast schon empathisch verbunden. Von geistlosen Bestsellermärkten und einem kaum noch zu unterbietenden Event-Blödianismus in die Enge getrieben, scheint das Gedicht mittlerweile an den Rand einer roten Liste geraten, von dem aus gesehen selbst der Wachtelkönig und der Schierlings-Wasserfenchel noch über eine lautstarke Lobby verfügen.
Also die alte Gemütlichkeit/Traulichkeit ist mit Sicherheit schon mal raus aus der Welt, und was für die Muße im allgemeinen gilt, trifft in besonderem Maße auch auf die zuganfälligen Musen zu. Trotzdem habe ich Gedichte immer gern als Halslöserätsel betrachtet, bei denen uns nichts so wünschenswert scheint, als daß die dramatis persona ihren Kopf schließlich doch noch aus der verfänglichen Schlinge herauskriegt. Entsprechend hat sich unser Verfasser nie so recht mit dem Gedanken anfreunden können, seine Leser am Schluß des Gedichtes einfach nur zerschmettert oder zu Tode enttäuscht in einen bodenlosen Abgrund starren zu lassen. Eher hat sich ihm ein sowohl naturgesetzlich wie naturrechtlich begründetes Streben nach Glück immer deutlicher als dramatische Sendung seiner lyrischen Selbstexperimente nahegelegt, woraus man aufs ganze gesehen durchaus eine eigene poetische Kennungslinie herauslesen kann. Heißt, daß sich auch dieses Gedicht letzten Endes einer auktorial verfügten Aufhellungsdramaturgie anbequemt, denn irgendetwas muß doch sein, was einen bis zur Aussichtslosigkeit eingetrübten Horizont um ein paar erfreuliche Kelvingrade wieder lichtet. Weltbewegende Anfeuerungsparolen sind daraus nicht gerade zu entnehmen. Erinnerungsselig heraufbeschworene Hochglanzprospekte scheinen ebenfalls kaum noch angesagt – wir haben sie in der ersten Strophe bereits mit dem angemessenen Bedauern hinter uns gebracht. Aber – wer weiß – vielleicht ist so eine gewisse verschärfte Alteleuteoptik auch nicht ganz ohne, und da fühlen wir uns, um wieder mal in Bildern zu sprechen, mit dem ollen Monet und dem ollen Willembusch und dem späten John Constable eigentlich in der allerbesten Gesellschaft.

Peter Rühmkorf, aus Peter Rühmkorf: Schachtelhalme. Schriften zur Poetik und Literatur, Rowohlt Verlag, 2001
Die Selbstinterpretationen schrieb Rühmkorf für eine Sendereihe des Hessischen Rundfunks. Sie wurden gesendet vom 26.–29.10.1999 und für den Druck überarbeitet und erweitert.

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