Jan-Christoph Hauschild: Zu Volker Brauns Gedicht „Spiegelgasse“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Volker Brauns Gedicht „Spiegelgasse“ aus Volker Braun: Gedichte. 

 

 

 

 

VOLKER BRAUN

Spiegelgasse

Sieh hinein. Der krumme Weg ins Freie
Auf steilem Pflaster mit gradem Gang
Die Flüchtlinge. Büchner in heiler Haut
Im toten Winkel der Geschichte lebend
Lenin im Nebenhaus, logischer Zufall
Wann wird er blind. Unendliches
Abbild in allen Worten in allen Zeiten.
Dein Zimmer leer: wirst du es brauchen

 

Widerschein der Geschichte

Die Spiegelgasse gibt es wirklich, mitten in der Zürcher Altstadt, zwischen Neumarkt und Limmatquai, und sie ist tatsächlich krumm und steil, das Pflaster bucklig. Steingasse hieß sie bis 1880, dann erfolgte die Umbenennung nach der Liegenschaft Nr. 2, deren Hauszeichen ein Putto mit einem Hohlspiegel ist. Peter Weiss hat sie im Februar 1976 besichtigt:

Lenin wohnte Spiegelgasse 14… Spiegelgasse 12, zwei Häuser weiter oben, starb Georg Büchner… Ganz unten, an der Ecke der Münstergasse das Cabaret Voltaire.

Seine Notizen legte er im zweiten Band seiner Ästhetik des Widerstands dem kommunistischen Jugendfunktionär Willi Münzenberg in den Mund:

Steil, auf holprigem Pflaster, ging es den Zürichberg empor…

Zeitversetzte Nachbarn waren sie, Flüchtlinge, auf „krummem Weg ins Freie“ gelangt, ins schweizerische Exil. Büchner kam im Oktober 1836 von Straßburg, einem Ruf als Privatdozent an die Zürcher Hochschule folgend, als geduldeter Asylant der „Sonder-Classe“; in seiner Heimat, dem Großherzogtum Hessen, wurde der Mitverfasser des Hessischen Landboten wegen „Hochverrats“ steckbrieflich gesucht. Nach drei Nächten im vornehmen Hotel Zum Schwert bezog er im Haus Nr. 12 ein möbliertes Zimmer, das gerade Platz für die notwendigste Einrichtung bot: Am Fenster standen ein Arbeitstisch und Schränke, in denen er seine Präparate aufbewahrte, an der Wand gegenüber ein Bett. Hier hielt er sein Kolleg, hier starb er, dreiundzwanzigjährig, an einer Typhusinfektion. Als Politiker war er glücklos. Die deutsche Literatur hat er gründlich revolutioniert.
Nebenan, Nr. 14, wohnte achtzig Jahre später Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, der ewige Emigrant, mit seiner Frau auf zwölf Quadratmetern, die Kammer zugestellt mit Doppelbett, schmalem Sofa, Eßtisch, Waschtisch, Kommode; neben der Tür ein gußeiserner Ofen. Er war jetzt 46 Jahre alt. Tagsüber arbeitete er meist in der Zentralbibliothek, dort schrieb er seine Imperialismustheorie nieder, gequält von Kopfschmerz und Gürtelrose. Schon damals gab es in der Gasse Geschäfte mit ausladenden Schaufenstern, in Nr. 12 den Schuhmacher, in Nr. 14 das Restaurant Zum Jakobsbrunnen, bei schönem Wetter speiste man gegenüber unter Platanen.
Auf dieses Ensemble macht sich der Dichter seinen ungereimten Vers; die literarischen Aufrührer des Cabaret Voltaire im Obergeschoß von Nr. 1 läßt er rechts liegen. Für Peter Weiss hatte deren gleichzeitige Anwesenheit im Jahre 1916 die Spiegelgasse zum „Sinnbild der gewaltsamen, doppelten, der wachen und der geträumten Revolution“ gemacht. Für Volker Braun ist sie, um die phantastische Unvernunft der Dadaisten vermindert, Abbild eines überzeitlichen geschichtlichen Prozesses, in dessen Verlauf sich die Wege des russischen und des hessischen Revolutionärs nicht zufällig kreuzen (schicksallos allenfalls die Zusammenführung unter benachbarten Dächern). Was Büchner und Lenin Zuflucht in der Eidgenossenschaft suchen läßt, erscheint vielmehr als Konsequenz ihres Handelns. Der eine hatte den gescheiterten Versuch einer Revolution hinter, der andere den einer erfolgeichen vor sich, wissend freilich: Ohne den gleichzeitigen Umsturz in Deutschland und weiteren entwickelten Ländern würde es eine Totgeburt werden. Auf die Gunst des Augenblicks warteten beide. Aber während Lenin in Stunden rechnete, blieb Büchner nur die Hoffnung „auf die Zeit“.
Im Du des Gedichts maskiert sich das lyrische Ich. Der Dichter sieht hinein in die Altstadtgasse, erkennt, von der Zeichenhaftigkeit des Straßennamens inspiriert, den Widerschein der Geschichte, sieht sich selbst, unter Umständen, in die Reihe der Flüchtlinge gestellt:

Dein Zimmer leer: wirst du es brauchen?

So liest es sich in der Suhrkamp-Ausgabe der Gedichte des Jahres 1979, dem westdeutschen Erstdruck. Gleichzeitig erschien der Text in der Sammlung Training des aufrechten Gangs im Mitteldeutschen Verlag in Halle – mit einer winzigen, aber bemerkenswerten Abwandlung: „wer“, steht dort abschließend, „wird es brauchen“. Sieben banale Buchstaben, die gegenüber dem sozialistischen Kontrollkollektiv nicht durchsetzbar waren, die entpersonalisiert werden mußten; vermutlich, weil es ein falsches Signal gewesen wäre, jetzt, wo die Deutsche Demokratische Republik international ein solches Wachstum ihres Ansehens zu verzeichnen hatte; weil es dem werktätigen Volk nicht genutzt und die ideologische Diversion des Gegners unterstützt hätte. Sieben Buchstaben! Eines Gedichts! Welch zartes Pflänzchen bist du, DDR-Sozialismus, doch gewesen.

Jan-Christoph Hauschildaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreiunddreißigster Band, Insel Verlag, 2010

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