Alfred Margul-Sperber: Verzaubertes Wort

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Alfred Margul-Sperber: Verzaubertes Wort

Margul-Sperber-Verzaubertes Wort

ETYMOLOGIE

Du Flüchtige, wie Ruhm und Rausch,
Treulose, wie der Träume Tausch:
Sieh, deines Wesens Wunder ward
In Wald der Worte aufbewahrt!

Die sich versagte, hat versagt:
Das Wort hat deinen Wert erfragt.
Und alle Dinge schwingen nun
Von deiner Unrast, deinem Ruhn.

Dein Mund ward Mond, die Stirne Stern,
Die Kehle Kühle, fremd und fern.
Dein Herz ist Herbst und Herd dem Gast,
Dein Haar ist Harfe seiner Rast.

Dein Auge Alge, Salz und See,
Die Wimper Winter, Wind und Schnee,
Und Braune Tau und Träne Traum
Und Schulter, Schatten, Scham und Schaum.

Und Hals ward Halde, Ohr zum Moor,
Die Achsel Acker, Ried und Rohr;
Der Rücken Rüster, Arm ihr Ast,
Der Knöchel Knospe, Knie der Knast.

Und Lende Linde, Schläfe Schlucht,
Die Hände Hinde auf der Flucht,
Der Leib ward Laub, der Schoß zum Moos,
Die Lippe Klippe, Fahrt und Los.

O Schenkel, der die Schaukel ist,
Du Nacken, der als Nachen schießt,
Du Wange: Wiege, Wolke, Welt –
Der Brüste Brise bläht das Zelt.

So trägt der Traum, so wiegt das Land
Dich gegenwärtig und gebannt.
Vergängliche, so gleite hin!
Dein Abschied gab den Dingen Sinn.

 

 

 

Zum Geleit

Mitunter trifft man einen Menschen wie vorübergehend – man sieht einander ein paarmal, hat Gespräche bei einer Flasche Wein, kann sich gemeinsam erzürnen, gemeinsam freuen. Beim Abschied spürt man plötzlich, daß diese Begegnung unvergeßlich bleiben wird; und obwohl man sich nie wiedersieht, ist die Freundschaft lebenslang. So ist es mir mit Alfred Margul-Sperber gegangen, dem ich im Oktober 1957 in Bukarest begegnet bin – zuerst auf dem Flugplatz. Ich hatte, noch ehe wir ein Wort wechselten, von ihm sofort den Eindruck einer herausragenden Persönlichkeit – in jeder Weise: Er stand in einer Gruppe von Schriftstellern und überragte alle um Haupteslänge. Ungewöhnlich war seine Herzlichkeit, die aus einem Übermaß an Liebe zu kommen schien. Er konnte seinem Besucher mit großer Gebärde das Land zeigen, als sei es seine eigene Schöpfung. Es war seine Schöpfung. Er empfand es so, im Stolz auf sein Menschsein, auf sein Schöpfertum als Dichter wie als Kommunist.
Dieser riesenhafte Mann mit dem schlohweißen, dicht gekräuselten Haar war ein hinreißender Gesprächspartner: klug, leidenschaftlich, liebevoll, schlagfertig, auch bissig – und weise. Dabei nie geschwätzig, im Gegenteil, er war ein Zuhörer von Format; sein aufmerksamer Blick gab unseren Worten Bedeutung, und wer ihm gegenübersaß, war ermutigt, sich ihm anzuvertrauen.
In größerer Runde, als Sperber eindringlich auf einen jungen Dichter einredete, flüsterte mir der Romancier Oscar Walter Cisek einmal zu:

Ist er nicht wie ein biblischer Patriarch?

Und wirklich: Er sah aus wie der Moses von Michelangelo. Als ich wenige Jahre später den ersten Band von Ciseks Roman Reisigfeuer las, Das Buch Crišan, der von der Vorbereitung des siebenbürgischen Bauernaufstandes von 1784 berichtet, begegnete mir in der imposanten Gestalt des Kirchensängers Crišan unser Freund Alfred Margul-Sperber: dessen Herzensgüte, sein Rebellentum, auch die Art, auszuschreiten, mit großen Schritten, leicht vorgebeugt, die Hände auf dem Rücken, die große, behutsame Liebe zu seiner Frau, seine Redeweise, die der Gebärden nicht bedarf.
In den letzten Tagen meines Aufenthalts in Bukarest, in den Parkanlagen blühten noch leuchtend rote Blumen, besuchte ich ihn in seiner kleinen Wohnung in der Strada Maria Rosetti, hoch über den Kronen alter Kastanien. Sein altes Herzleiden quälte ihn, erfüllte ihn mit Todesahnungen, aber dem dröhnenden Gelächter aus einem mächtigen Brustkorb war das nicht anzumerken. Seine Frau, die kleine, zierliche Jessica Drimmer-Sperber, die Kindermärchen schrieb, kochte uns einen Kaffee, von dem man noch jahrelang träumen konnte. Wir sprachen über Poesie. Dann und wann griff er aus den Regalen an der Wand, wo die Bücher in Doppelreihen gestapelt lagen, einen Band, um Verse vorzulesen.
Gerate ich ins Schwärmen? Aber: So war er.
Er war der Nestor der deutschen Gruppe des rumänischen Schriftstellerverbandes, obwohl er nicht der älteste war. Er war der an Welterfahrung reichste, sein Bekenntnis zum Sozialismus war im Kampf gewachsen.
„Margul, der gute Riese“, so nannten ihn seine jungen Kollegen. Den biblischen Namen Margula (Margarethe) hatte seine Mutter getragen. Ihr widmete er eines seiner schönsten Gedichte. Den jungen deutschsprachigen Dichtern seiner rumänischen Heimat war er ein unermüdlicher Berater und Förderer, nicht erst in seinen letzten Lebensjahren. Sein engster Freund, der Dichter und Literaturwissenschaftler Alfred Kittner, berichtete, wie Sperber, als er Ende der zwanziger Jahre in Czernowitz das Feuilleton einer Zeitung leitete, sich immer auch um junge Dichter bemüht habe.

Wenn ich mein Gedächtnis um fünfunddreißig Jahre zurückgleiten lasse, sehe ich ihn, den guten, freundlichen Riesen, stets von einer Schar ihm kaum bis an die Achselhöhlen reichender Strubbelköpfe umringt, durch die Straßen stapfen. Er hatte es durchgesetzt, daß die Tageszeitung, in deren Sold er damals stand, ihm einmal wöchentlich Raum für seine Poesiesparte zur Verfügung stellte, die er ,Jugendstimmen‘ nannte und in der er jungen Talenten zur Veröffentlichung ihrer ersten poetischen Gehversuche verhalf…

Georg Maurer erzählte, daß er, gebürtiger Siebenbürger Sachse, der während des faschistischen Krieges als Soldat in Rumänien Dienst tun mußte, oft heimlich zu dem als Jude und Kommunist ständig bedroht in Bukarest lebenden Alfred Sperber gegangen ist, um ihm seine Gedichte zu zeigen. Und Sperber war es, der seinem Landsmann, dem jungen Dichter Paul Celan, zuerst den Weg in die Öffentlichkeit wies.
Jahre nach dieser unvergessenen Begegnung habe ich versucht, ihm, seinem Wesen, in einem Gedicht nahezukommen. Als eine Huldigung für ihn soll es hier stehen:

Strada Maria Rosetti,
Über dem Hof mit den alten Kastanien,
über den Wipfeln –
da verschenktest du Bücher, Gedanken und Gelächter.

Drei Völker waren in dir lebendig,
Moses, Rüdiger, Crišan.
Verkündiger warst du, Gastgeber
und Rebell.

Du strenger Patriarch, gütiger Richter,
du zärtlich Liebender,
leise dein Wort
kommt auf die Spätern,
warte…

Günther Deicke, Vorwort

 

Nachwort

Ich heiße Alfred Sperber, bin 23 Jahre alt, verkrachter Jurist, in Storozynetz geboren, kleiner Stadt der Bukowina inmitten roter Buchenwälder und wilder Bauern, von denen Europa nichts weiß…

Der da zu uns spricht in einem trunkenen Poem, schreibt aus den schäumenden großen Städten Europas seine Verzweiflung und seine Sehnsucht, sein irrlichterndes, gärendes und himmelstürmendes Dichterwort an das Firmament seiner Jugend. Es ist das Jahr 1921, Alfred Sperber, als Sohn jüdischer Kleinbürger am 23. September 1898 in einem Marktflecken des südlichen „Buchenlandes“ geboren, war vor Zeiten aus den roten Wäldern in die Asphaltstädte aufgebrochen. Früh hatte er das Land seiner Kindheit und Jugend verlassen in unendlichem „Heimweh nach der Stadt, die nirgends ist“.
Seine erste Station, Czernowitz, Hauptstadt des österreichischen Kronlandes Bukowina, hält ihn nicht lange, es zieht ihn nach Wien, wo er das Gymnasium absolviert. Nach Notabitur und Einberufung zum Kriegsdienst verfliegt schnell sein Traum von Studium und Weltfahrt. An der Ostfront geht er in die Lehre des Grauens, als k.u.k. Leutnant schreibt er Gedichte gegen den Krieg.
Nach Kriegsende kehrt Sperber in die Heimat zurück, die nun zum Staatsgebiet des Königreichs Rumänien gehört, verläßt sie aber schon 1920 und kommt über Budapest nach Paris. Er beginnt mit dem Studium der Rechtswissenschaften, lernt den Dichter Iwan Goll kennen und überträgt französische Poesie. 1921 reist Sperber nach New York und ist dort als Tellerwäscher, als Straßenhändler, als Bankangestellter tätig. Er arbeitet ständig an der New-Yorker Volkszeitung mit, die von der Kommunistischen Partei der USA herausgegeben wird.
Auch wenn er die großen Städte durchstreifte, verließen den Dichter niemals die Wälder seiner Heimat. Seine innige Verbundenheit mit Heimat und Natur wächst inmitten des hektischen Nachkriegstaumels in Paris und der feindlich-kalten Betongehäuse Manhattans nur mehr an und steht unausgesprochen hinter jeder Zeile, die in dieser Zeit geschrieben wird. Aber diese laute Verzweiflung, dieser Ruf nach Menschenliebe, schöpft nicht mehr „aus den traurigen Tiefen der Kindheit“. Die hellen, freundlichen Farben sind verblaßt, das nachtblaue Dorf mit der stillen Furcht und der Geborgenheit des Kindes im elterlichen Haus sind weit weggerückt. „Letzten Vogels Lied, Herbstfäden, mit denen der Wind spielt“; die leisen Töne eines in sich ruhenden bukolischen Liedes sind von dröhnenden Granaten jäh zerrissen worden. Aus den Schützengräben Galiziens kommt nun ein anderer Laut: die sprachgewordene Verzweiflung über die geborstene Welt von gestern.
Schmerz und Wut über zerstörte Liebe, Ruf nach Hilfe und Rettung angesichts zerstörender Gewalt suchen eigenen Ausdruck. Margul-Sperbers „Nie wieder Krieg!“, sein abgrundtiefer Haß auf die Offiziersclique, sein Grauen vor der Zerstörung alles Menschlichen finden ihren Gegenpol in der Liebe des Dichters zur gequälten Kreatur, zum Menschen. Die expressionistische O-Menschheits-Dichtung, ihre ehrliche, aber hilflose Kriegsgegnerschaft hat tiefe Spuren im Schaffen Margul-Sperbers hinterlassen. Gebannt von dieser Dichtung, versucht er der großen Gegenstände Herr zu werden. Er appelliert an „das Gute“ im Menschen, er sucht nach einem gangbaren Weg für Menschlichkeit. Es bleibt aber beim gequälten Schrei, beim flammenden Appell.
Des Dichters Verlangen nach erfülltem Menschsein und nach menschlicher Solidarität ertönt schon mitten im Krieg:

O Brüder Menschen, leidend durch die Zeit,
Was soll mir Licht, wenn ihr im Dunkel seid?

Die dantesken Berichte aus der Zeit, in der „Gott eingeschlafen“ war, zeigen eine zunehmend bewußtere Kriegsgegnerschaft. Die Verzweiflung des Dichters wächst aber auch nach dem Ende des Krieges. Seine Distanzierung von der Welt der Verdinglichung und Kälte geht weiter. Viele Gedichte der Jahre 1918 bis 1924 deuten diesen Prozeß an. Dem Kriegsgrauen entronnen, beginnt seine große Wanderung. Er hofft studieren, sich neue Dimensionen erschließen zu können. Das geistige und materielle Elend, das er antrifft, deprimiert ihn jedoch tief. Vieles bleibt ihm fremd, muß ihm fremd bleiben. Auch wenn er sich fast vehement in die Stadtwelt hineinwirft, mit dem wütenden Anspruch, sie erobern zu müssen, so bleibt sie ihm doch stets wesensfern. Von den „Dingen“ umstellt, ständig auf der Flucht vor sich selbst, immer in kreisender Bewegung und „rasendes Leben“ suchend, verharrt der Dichter nur in dem poetisch ständig reproduzierten Bewußtsein, ein Ausgesetzter zu sein. Es bleibt in den expressionistisch bestimmten Gedichten trotz großen poetischen Anlaufs bei der Ablehnung des Geschauten. Die Stadt ist für Margul-Sperber letztlich eine Welt der Perversion des „Echten“, „Einfachen“ und „Natürlichen“. Er fühlt sich in ihr „gekreuzigt und erstickt“. Paris ist ihm ein Mikrokosmos des Chaos, des phosphoreszierenden Verfalls, ein Zoo exotischer Existenzen.
Der Dichter Margul-Sperber ist nicht nur fremd und verloren in dieser Steinlandschaft, er ist auch bei den literarischen Strömungen der Zeit nur zu Gast. Er hilft sie weniger tragen, sie reißen ihn mit. So bleibt vieles in seinem Schaffen aus dieser Zeit Attitüde: die Wortkaskaden, die Farbenspiele seiner großen Poeme, auch das Dirnenthema, dem er allzu naiv und mit heiligem Ernst nachgeht. Margul-Sperber lehnt diese Welt so sehr ab, daß er sogar die Stadt „zurücknehmen“ will, sie von der Natur berennen und zerstören läßt.
Damit soll die Dichtung des Suchens und Experimentierens nicht als epigonal abgewertet werden. Margul-Sperbers dichterischer Beginn ist von einem großen poetischen Kontext bedrängt, von literarischen Beispielen, die zweifellos einen starken Partner verlangen. Der Expressionismus vor allem der Nachkriegsgedichte ist in der Substanz jedoch nicht immer kräftig genug, um eine eigene Position zu begründen. Dennoch, indem er in sie eintaucht, klärt er sich, gewinnt er eigene Stimme. Diese Wanderjahre sind es schließlich, die ihn aus Isolierung, Not und Verzweiflung zur Selbstbesinnung und Selbstbestimmung finden lassen. Im Poem „Sinnloser Sang“ fragt der Dichter einen imaginären Partner:

Wo ist das Land, wo wir beide zu Hause sind?

Und er antwortet selbst:

Ich brenne nach deinen Prärien…
Aber in meinen Träumen rauschen die Buchen meiner Heimat.

Dieses Bekenntnis, keimhaft entstanden in den großen Städten, wird von nun an seine Ars poetica, und sie heißt: Heimat, Natur, Mensch. Das bedeutet nicht, daß sich Margul-Sperber in jenen Jahren zum verinnerlichten Dichter entwickelt. Die äußeren Ereignisse in Rumänien haben auf einen so fein registrierenden Dichter wie Alfred Margul-Sperber ihre Wirkung. Die seit 1920, mit der Niederschlagung des Generalstreiks immer stärker einsetzende reaktionäre Entwicklung in Rumänien, die 1924 im Verbot der jungen Kommunistischen Partei einen vorläufigen Höhepunkt erreicht, wirkt sich auf das politische und geistige Leben des Landes lähmend aus. Sperber, der 1923 krank aus Amerika zurückkehrt, findet ein Heimatland vor, in dem die ohnehin schwach entwickelten bürgerlichen Freiheiten nach und nach weiter zurückgedrängt werden.
Alfred Margul-Sperber ist aus den USA mit neuen sozialistischen Ideen zurückgekommen. 1924 gründet er in seinem Heimatort den Bukowiner Provinzboten. Dann ist er von 1926 bis 1934 als Redakteur am Czernowitzer Morgenblatt tätig; ab 1934 arbeitet er als Fremdsprachenkorrespondent in Burdujeni. Während des zweiten Weltkrieges, der Zeit der politischen und rassischen Verfolgung unter der Antonescu-Diktatur, fristet er als Fremdsprachenlehrer in Bukarest sein Leben.
Sperbers Dichtung der „Heimkehr“ bedeutet in den Zeiten wachsender innerer Reaktion und des aufkommenden Faschismus in Rumänien vor allem Trost in der Natur; diese Dichtung ist die Erfüllung seiner in den Jahren der Emigration gehegten Sehnsucht. Aber die Entwicklung Margul-Sperbers ist nicht ohne Problematik. Deutlich zeigt sich eine Flucht- und Verteidigungsposition vor andrängender Gewalt und Geistfeindlichkeit. Zeitweise führt sie zu künstlerischer Stagnation. Traditionelle Formensprache und Sujets werden von nun an gesucht – und bewußt appliziert. Konventionelle Metaphern und Bilder dominieren; man glaubt zuweilen kaum mehr den welterfahrenen, mit der deutschsprachigen und internationalen Poesie vertrauten Dichter zu hören, der von Baudelaire und Valéry bis zu T.S. Eliot, Dylan Thomas und Carl Sandburg, von César Vallejo und Jessenin bis zu Attila József tief in die Weltsprache der modernen Dichtung eingedrungen war.
Im Vorwort zu seiner ersten im Selbstverlag erschienenen Sammlung Gleichnisse der Landschaft schreibt Margul-Sperber:

Mit seinem Werke bekennt sich daher der Verfasser ausschließlich zur Bukowina, deren Landschaft – von wenigen Ausnahmen abgesehen – den unablässig variierten Gegenstand seiner Dichtkunst bildet und für die im eigentlichen Sinne diese Gedichte geschrieben und bestimmt sind. Der Verfasser bekennt sich weiters freimütig zu allem Veralteten und Herkömmlichen in Form, Wahl und Behandlung seiner dichterischen Gegenstände und erklärt vorweg, daß er gerne darauf Verzicht leistet, den modernen Dichtern zugezählt zu werden. Er hat in bewußter Absicht seinen Stoffkreis abgegrenzt und zuweilen die Wahl des Themas bis zur ermüdenden Einförmigkeit getrieben.

Diese Begründung einer Selbstbeschränkung deutet bereits alle Gefahren an, die auf den Dichter warten. Zeit seines Lebens hat sich Sperber dann auch kritisch mit dieser Positionsbestimmung auseinandergesetzt, Aufgabe und Verantwortung des Dichters immer wieder neu zu bestimmen versucht und seinen früheren Grundsatz kritisch-schöpferisch ergänzt, gesprengt, aufgehoben.
Schon der schmale Band aus dem Jahre 1934 bietet bereits eine Anzahl reifer Gedichte inniger Naturverbundenheit. Immer wieder taucht die Vision vom Goldenen Zeitalter auf: Stille, Friede, Harmonie, Einheit von Mensch und Natur. Die bukolischen Züge bedeuten jedoch nicht Idylle; die Dichtung erhebt sich kraftvoll, farbig, dem Leben des Bauern verbunden; sie feiert die Stille der Sommerlandschaft, die Traumverlorenheit der Jugend und die erste Liebessehnsucht mit ebensolcher poetischen Beredtheit wie Windzeit, Sturm und Kälte, die den Menschen bedrohenden Mächte. Diese Verse, als Elegie, Ode, Ballade oder Lied, feiern selbst die feindliche Natur – als Gegenpart zur Menschenwelt. Bei Margul-Sperber ist die Landschaft immer die von Menschen belebte Szenerie, der von Menschen bezwungene oder zu bezwingende Gegenstand.
Das tiefe Verhältnis des Dichters zum Wald, zu den Feldern, zum Sturm, zum Regen verkörpert sich poetisch in der Schaffung oder Wiederaufnahme mythischer Wesen, wie dem Einhorn und der zottigen schwarzen Nacht, die seine starke Beziehung zu atavistischen und archaischen Vorstellungen von der Welt andeuten. So wird selbst die „Wüste“ und die elementar bewegte Landschaft symbolträchtig. Die Natur ist keine Dekoration, sondern – wie der rumänische Schriftsteller Demostene Botez einmal schrieb – ein „Wald von Symbolen“. Dieser Gleichnischarakter spricht von tiefer Verbundenheit zu den ursprünglichen Dingen um uns her. Die Symbolik ist nicht modischer Art, sondern von Liebe zum Lebendigen, zum Kreatürlichen bestimmt. Die Natur erscheint letztlich als Sinnbild menschlicher Bestimmung. Immer sind es der Baum, der Wald, die als Metaphern menschlichen Kampfes und menschlicher Größe agieren, als „Brücke zwischen Licht und Nacht“. Getrost darf man diese Gedichte zum Besten zählen, was in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, in der Zeit innerer wie äußerer Bedrohung des Humanitas, in deutscher Sprache geschrieben worden ist.
Diese Charakteristik gilt auch für die zweite Sammlung der dreißiger Jahre, Geheimnis und Verzicht, deren Erscheinungsjahr 1939 auf vieles hinweist, was ungesagt bleibt. Hier findet sich ein Höhepunkt starker Naturlyrik: „Der Tag der Landschaft“, „Die Brücke“, „Der Baum“, „Die Straße“.
Das durch alle schweren Erfahrungen ungebrochen bewahrte Naturgefühl bildet die Konstante dieses Dichterlebens und dieser lyrischen Produktion. Noch in den letzten Lebensjahren entstehen Gedichte von großer poetischer Kraft. Diese Gedichte sind „zeitlos“ im besten Sinne, fern von aufgesetzter Modernität; sie sind abgeklärt, ruhig im Ton, weise und vornehmlich leise. Kräftig sind sie zugleich in den Farben, sie sind voll verhaltener und gebändigter Leidenschaft. Wenn „zeitlos“ hier eine Einschränkung bedeutet, dann nur für das erklärte dichterische Prinzip der Abgeschlossenheit von echter Modernität, von Erweiterung und Erneuerung der Sujets und der Formensprache, zweifellos ein Problem für die deutschsprachige Literatur Rumäniens vor der sozialistischen Augustrevolution von 1944.
Man würde dem Dichter Margul-Sperber allerdings Unrecht tun, wenn man ihn in einer starren Periodeneinteilung ausschließlich auf Naturlyrik festlegen würde. Schon die Gedichte „Ein Neger erringt den Olympiarekord für die USA“ oder „Der Fackelläufen“ von 1936 dürfen nicht isoliert werden. Bereits zehn Jahre zuvor entsteht das Poem vom „Brot“, das einen politisch engagierten Autor zeigt, dessen Erkenntnis und Bekenntnis die Perspektive des entschlossen sozial denkenden Dichters ist. Wie sonst wären Balladen von der erschütternden Kraft des „Lokalberichts“ aus dem Jahre 1929 zu verstehen, wie sonst wäre das große Gedicht von der Amme Frosina, „Das andere Leben“, zu werten, wenn es im Schaffen des Dichters nicht den unterirdischen Strom sozialkritischer und politischer Dichtung gegeben hätte, der sich allerdings erst nach 1944 offenbaren konnte. Die ersten Sammlungen Ende der vierziger und Anfang der Fünfziger Jahre, die viele bis dahin unveröffentlichte Gedichte bringen, bezeugen, daß Margul-Sperber auch seinem politischen Bekenntnis poetische Form zu geben versuchte. Wenn diese und die der Tagesagitation verpflichteten späteren Arbeiten auch nicht immer die Qualität seiner reifen Naturdichtung erreichen, so sind sie doch Ausdruck eines starken inneren Beteiligtseins an der internationalen revolutionären Bewegung, an der rumänischen Augustrevolution, an der Hoffnung, die die Partei der Arbeiterklasse für das rumänische Proletariat und die abhängigen Bauern darstellte. Davon zeugen sowohl seine Balladen als auch die Gedichte auf Heldengestalten des rumänischen Volkes.
Angesichts einer – aus unserer Sicht – scheinbar peripheren Entwicklung, wie sie Alfred Margul-Sperbers Weg im Rahmen einer kleinen und relativ abgeschlossenen Literatur darstellt, könnte leicht Überheblichkeit aufkommen, wenn man an die Leistung des Dichters Maßstäbe anlegen würde, die allein aus der Geschichte der deutschen Literatur gewonnen wurden. Es ist sinnvoll, sie auf Grund ihrer Sonderentwicklung und ihres Kontextes – Überwindung von provinzieller Enge und spezifische Traditionswahl – sorgfältig und differenziert zu werten. Denken wir daran, welche Faszination allein die österreichische Literatur auf den Dichter ausübte, der in Czernowitz und Wien zu schreiben begann: Rilke, Karl Kraus, auch Weinheber hießen da für ihn die Sterne. Deutlich stehen seine ersten seit 1913 entstandenen Gedichte unter ihrem Einfluß. Sein Weg über das expressionistische Aufbegehren zur Meisterschaft seines Realismus ist auch in der zeitweiligen Eingrenzung seiner Sujets nie unecht geworden. So zeigt sich ein klares, politisch-sozial engagiertes Werk, dessen Basis eine echte, nicht aufgesetzte, eine „natürliche“ und auch naturhafte feste Verbundenheit mit dem Volk ist. Diese Beziehung bildet die Grundlage seines Realismus, der verständlich, klar und humanistisch aktiv ist. Wenn ihm auch elegische Töne niemals fremd sind, so bleibt er in seiner Substanz doch stets irdisch heiter.
Alfred Margul-Sperber ist am 3. Januar 1967 in Bukarest gestorben. Der rumänische Staat hatte seine Verdienste um die brüderlichen Beziehungen zwischen den Menschen beider Sprachen 1953 mit dem Staatspreis geehrt. Übertragungen aus dem Werk Eminescus und Arghezis und besonders zahlreiche aus der rumänischen Volkspoesie machten ihn zu einem wichtigen Mittler. Diese Tätigkeit setzte sich in der unermüdlichen Förderung junger Schriftstellerkollegen fort und schlug sich auch in vielen kritischen Arbeiten nieder.

Die Gedichte des vorliegenden Bandes sind den folgenden Sammlungen entnommen: Gleichnisse der Landschaft (1934), Geheimnis und Verzicht (1939), Ausblick und Rückschau (1955), Taten und Träume (1959), Sternstunden der Liebe (1963), Aus der Vorgeschichte (1964), Das verzauberte Wort (1969). Weitere Ausgaben erschienen unter den Titeln: Zeuge der Zeit (1951), Mit offenen Augen (1956), Unsterblicher August (1959), Gedichte (1963), Weltstimmen (1968), Ausgewählte Gedichte (1968).

Joachim Schreck, Nachwort

 

L’heure de Sperber

Alfred Margul-Sperber, geboren 1898 in einem bukowinischen Marktflecken, damals Sitz eines k. und k. Bezirkshauptmanns dieser östlichsten Provinz der Donaumonarchie, deutscher Dichter jüdischer Herkunft, gestorben am 3. Januar 1967, ist in der binnendeutschen Literatur kaum bekanntgeworden. Was ihn leben ließ, hat ihn sein Leben lang verfolgt: der deutsch-jüdische Sprachraum, von dem er zehrte und von dem er gezeichnet war, der ihn ausschloß (auch von der deutschen Literatur!) und der ihn zweimal isolierte: unter dem Hakenkreuz und unter Hammer und Sichel.
Paul Antschel, der das Anagramm seines Namens Celan dem Haus Sperber verdankt (ein fast symbolischer Vorgang: „man kann ja mit solch einem Namen nicht in die deutsche Literatur eingehen“), hat diese Fremdheit bis zur Neige ausgekostet; ihm blieb, wie auch Sperber, „inmitten der Verluste dieses eine: die Sprache“, wie Celan in Bremen bei der Entgegennahme eines Literaturpreises sagte. Und hier verweist er auch auf eine andere Gemeinsamkeit mit dem Älteren, der die gleiche Heimat, den gleichen Kulturkreis verloren hat wie er, eine Gemeinsamkeit, auf die er in seinen Briefen an Sperber immer wieder zu sprechen kommt: daß jener, der „zeltlos auch in diesem bisher ungeahnten Sinne und damit auf das Unheimlichste im Freien mit seinem Dasein zur Sprache geht, wirklichkeitswund und Wirklichkeit suchend“ ist.
Jene, die diese neue Wirklichkeit suchen, eine „Atemwende“, haben sich offen zu halten und weit, wenn sie versuchen, auf dem Kopf zu gehen, um den „Himmel als Abgrund“, als „Himmelsschlucht“ unter sich zu sehen. Celan benennt solche Offenheit gar einmal „L’heure de Sperber“, in einem Brief aus dem Pariser Exil kurz vor dem Tode des Freundes:

eine weiß Gott großräumige ,überspreeige‘ Stunde, offen nach allen Himmelsrichtungen dieser unserer nicht nur postkafkanischen Existenz – nach einigen Höllenrichtungen ebenfalls… Ja, vieles ist, von weit und weiter als weit her, gegenwärtig – Sie, lieber Alfred Sperber, inmitten –

Celan gehörte zum Kreis der Bukowiner, die sich nach dem 1. Weltkrieg und seit die Bukowina „der Geschichtslosigkeit anheimgefallen“ war, in Bukarest zusammengefunden hatten: Moses Rosenkranz, Alfred Kittner, Robert Flinker, Imanuel Weißglas, Manfred Winkler; Alfred Margul-Sperber war der Mittelpunkt. In ihren besten Gedichten wird der Zeitriß zur Aussicht: ein Kreisen um den deus absconditus wie bei Kafka, am konsequentesten bei Paul Celan, den Sperber auch in seinem inzwischen oft zitierten Brief an Otto Basil als „Lyrische(s) Pendant des Kafkaschen Werkes“ vorstellt.
Im Zentrum: Israels Schicksal als Menschheitsschicksal: Auf-dem-Weg-Sein, unterwegs in der Weltzeit mit ihren Stationen, die Ägypten heißen können oder Auschwitz, wie Wilhelm Höck in einer sehr guten Interpretation Celans sagt („Von welchem Gott ist die Rede“, in: Über Paul Celan. Suhrkamp 1970). Unterwegs nach Kanaan, in die Erlösung: große Wanderschaft. Im Exodus sind die Kinder Israels sechs Tage unterwegs, am siebenten erst frei aus den ägyptischen Finsternissen, am achten aber „jenseits“, erlöst. Im Neuen Testament ist es Pfingsten (sieben mal sieben Tage nach Ostern): Kairos von Pneuma, Ausgießung des Heiligen Geistes und „Eschaton, Stunde der Sprache jenseits von Babel“ (Höck). Das Wort steht also jenseits der Schöpfung und ist doch nur in ihr sagbar, ein unlösbares Dilemma am Rande des Schweigens. Es ist jenes Geheimnis, „das von den Vätern mir kam / und von jenseits der Väter“ („Die Niemandsrose“), und in Sperber sah Celan einen Vermittler: „… von weit und weiter als weit her, gegenwärtig – Sie… inmitten –“ Zwischen Schweigen und Licht fand Sperber „heimlich“ eine Lichtung, den „Schwarzen Hain“:

Die Milch des Abends rinnt…
Ins Netz versickernd, da Stille spinnt,
Doch wunderbar! Die Stille ist dein Mund.

Auch viele andere Verse in dem vor einem Jahr von Alfred Kittner besorgten großen Auswahlband Geheimnis und Verzicht (Bukarest, 1975) verweisen auf jenes geheime Mitwissen durchs Wort, das Qual ist und Befreiung verheißt, weil der Mensch in zwei Welten lebt („Der Brunnen“):

Seine Tiefe ist unermessen,
Sein Wasser kühl und gut:
Es läßt uns ganz vergessen,
Wie weh das Wachen tut.

Dieser Brunnen kommt „von weit und weiter als weit her“. Celan (So bist du denn geworden):

Du steigst durch alle Brunnen,
du schwebst durch jeden Schein.
Du hast ein Spiel ersonnen,
das will vergessen sein.

Unterwegs also; wirkliche „Revolution“ kann nur sein, was uns jenem achten Tag näher bringt, in dem das richtige Wort schon schwingt, das Symbol (symballein = zusammenführen, im Gegensatz zu: diabellein = zerstreuen; vgl. diabolus). Sperber schreibt („Ketzerevangelium“) :

Genosse Jesus mit dem roten Bart,
Schläflockenjude mit den Sommersprossen,
Herzbruder unserer wilden Wanderfahrt.

Diese Revolution ist nicht neu, das wird in diesem „Ketzerevangelium“ Sperbers klar. Ist dieses in einem ganz andern Sinn, einem viel näherliegenden und gleichzeitig unendlich weiten messianischen Sinn als der begrenzte Messianismus von Karl Marx, das „Ketzerevangelium“ auch des Dichters Sperber?
Denn eine zeitlang hatte auch er aus Schwäche und Angst mit der platten kurzatmigen Sozialpoesie nach Vor-Schrift paktiert, die sich im Besitz der alleinigen Wahrheit wähnt und sich ahnungslos als mündig ausgab. Der „gute Riese Margul“, wie er von Freunden genannt wurde, hatte sich manipulieren lassen und wurde Lesebuch-Autor einer propagierten Haltung, die allem widersprechen mußte, was er war. Doch war dieser Verrat, den er wohl zu spät bemerkt haben dürfte, im Grunde nur ein halber, denn die Solidarität mit allen Erniedrigten den Armen und Verunglimpften, Unterdrückten und Ausgenommenen, die ihn die wahre Natur Stalins nicht hatte sehen lassen, kam aus der eigenen Erfahrung eines Mannes, der auch nie zuhaus sein durfte; das Jüdisch-Christliche, das Deutsch-Jüdische dringt ins Zentrum des Schmerzes einer Epoche, in der leben. So sagt Sperber über seinen „Genossen Jesus“ und dessen Ethos der Bergpredigt:

Und deine Worte, die vor Weinen brannten
Und Heimweh, sanken tief in unser Blut
Und blieben uns als Erbteil, den Verbannten.

Nicht-Zuhause-Sein als ursprünglichstes menschliches Schicksal und Elend: die U-Topie der Heimführung als Aufgabe einer revolutionären Erlösung des Volkes, das „das Salz der Erde“ ist. Genosse Jesus sagt:

Ich stritt und leb für die vielen,
Die dürftig sind, und war der Stummen Mund.

Eine schöne Identifikation dessen, dem ein Gott zu sagen gab, was er leidet; Sagen mit dem Vermittler in Not jenen, die in Not sind.
Der Weg ist eine Art „erinnerte Zukunft“, eine Wiederkehr, wenn die Zeit reif ist, und das ist sie dauernd seit jenen sieben mal sieben Tagen, dem pfingstlichen Ereignis, aber schon durch das Abendmahl-Ereignis und durch das Opfer dauernd als Erlösung gegenwärtig. In Sperbers „Ostermahl“ heißt es:

Dies ist mein Blut; es löse den Fluch
nehmet hin und trinket davon alle.

Doch das dauernd und längst schon Fällige („Ich bin bei dir jetzt und alle Tage“) steht immer noch aus; zwar steht’s geschrieben, das Wort steht da, stellvertretend, aber noch immer sind Stationen, Qual-Stationen, nötig, und die bisher schrecklichste hat einen diabelleinischen Namen: Auschwitz. Damals schrieb Sperber:

Nun muß ich der Dinge gedenken,
Die ich mir selber verschwieg…
Ich will meines Volkes strenges
und dunkles Schicksal beschwören.

Die besten Gedichte verfaßte die Bukowiner Dichtergruppe in der Hölle der Jahre zwischen 1940–1945, damals, als auch Celans „Todesfuge“ entstand. Kittner veröffentlichte zehn Jahre später die Verse aus dem Grauen des „transnistrischen“ Lagers am Bug, wo auch Celans Eltern umgekommen sind: „Hungermarsch und Stacheldraht“. Weißglas, der auch am Bug war: „Kariera am Bug“. Die Bilder werden weitergereicht: so bringt Weißglas in „Schneetod“ auf den Tod der Mutter Schnee und Mutter zusammen. Schon bei Sperber heißt es über den nie verschmerzten Tod der Mutter:

… sie gab mir einen Tag, weiß wie der Tod
Von weißem Schneewehn, daß die Augen schmerzten.

Und bei Celan:

ESPENBAUM, dein Laub blickt weiß ins Dunkel.
Meiner Mutter Haar ward nimmer weiß.

Noch deutlicher sind die Anleihen in der „Todesfuge“: Celans „Schwarze Milch der Frühe“ erscheint in einer Vorform bei Sperber (in der Stimme der toten Mutter) so:

Und sie flüstert: Willst du nicht, mein Kind,
Von der dunklen Milch des Friedens trinken?

Bei der Bukowiner Dichterin Rose Ausländer dann als „schwarze Milch“ („Ins Leben“). Und eine andere Metapher bei Weißglas, die Celan in sein berühmtestes Gedicht eingeschmolzen hat: „Wir heben Gräber in die Luft…“ oder „Das Grab in den Wolken wird nicht eng gerichtet.“ Auch der Tod als ein „deutscher Meister“ findet sich bei Weißglas. Dieses „Grab in der Luft“, bei Sperber kehrt es in anderer Form immer wieder („Über das Schreiben von Landschaftsgedichten“):

Tag und Nacht brannten Öfen, der Rauch stieg empor,
Bis er sich als Wolken in Fernen verlor.

Das Grab in den Wolken: trotz allem auch ein Tor zu Gott: es zeigt sich, wie das friedliche Naturgedicht das Grauen der Menschenwelt nicht mehr tragen kann und sich deshalb in andere Dimensionen öffnen muß, „höllenwärts“, aber auch himmelwärts. Doch das Zeichensystem, das dann bei Celan daraus entsteht, ist durchaus nicht so, wie es sich Philologenwahrsagerei vorstellt: Code für nichts als sich selbst, sondern ist tief in jüdisch-christlicher Esoterik verankert und zugleich nicht nur poetischer Glaube an deren tiefe Inhalte: Absprung aus dem unmittelbar Sichtbaren in die Sprache, doch im chassidischen Sinn und im Sinn einer Sprach- und Zahlen-Mystik: hin zu einem – wie es scheint – unerreichbaren Hintergrund des Zuhause. Das ist kein Problem von „modern“ oder „klassisch“ mehr, und so stehen die Verse Celans jenen „traditionellen“ Sperbers, Kittners oder Weißglas’ viel näher als den poetischen Spielen und Spielereien seiner westdeutschen Kollegen.
Es ist nicht mehr möglich, unbeschwert Landschaftsgedichte zu schreiben oder sich unbekümmert darüber auszulassen; doch weder „negative Dialektik“ noch Sprachpurismus reichen aus, um jenes „Grab in den Lüften“, das auch ein Tor ist der „Atemwende“, zu begreifen. Sperber, der Landschaftsdichter par excellence, dessen antiquierte Sprachhemmungslosigkeit unser Ohr heute oft verletzt, hat nach 1945 kaum noch Idyllen in der alten Manier geschrieben, denn „Wer singt der Männer und Frauen und Kinder und Greis…“ („Aus dunkelsten Tagen“), die „In Rauch aufgegangen, zu Wolken geworden“. Ungetrübt ist nichts mehr, Weimar und Buchenwald wecken grauenhafte Assoziationen, selbst nicht einmal an das Buchenland seiner Heimat kann Sperber assoziationsfrei denken („Auf den Namen eines Vernichtungslagers“), und die Wolke wird für ihn zum Grab in den Lüften.
In einem Gedicht, das noch viel vom Lärm des Selbstverrats in den 50er Jahren enthält (doch war Sperber nicht einfach zu den Feinden seiner eignen Feinde gekommen?), heißt es („Über das Schreiben von Landschaftsgedichten“):

Es gibt keine Wiese, kein Feld, keinen Bach,
Wo nicht ein lebendiges Leben zerbrach;
Und selbst das Atom, durch der Menschen Gebot
Dem Chaos entstiegen, droht tausendfach Tod.

Gewiß, Alfred Margul-Sperber hat kein stimmiges poetisches System gehabt für die große, „Wilde Wanderschaft“, doch kreiste sein Denken an einer Grenze, wo ein Reimwort gesucht wurde für das im Deutschen nicht reimbare Hauptwort: Mensch. In diesem Sinne gehört er zu jener U-Topie (zumindest in seinen besten Versen), von der Celan in seiner Büchnerpreis-Rede sagt, daß es „zu den Hoffnungen des Gedichts gehört… in eines Andern Sache zu sprechen“. In seiner „Ars poetica“, die Kittner dem Sperber-Auswahlband voranstellt, heißt es: „Das Gedicht ist ein langsamer, lautloser Tanz des Heimwehs… Erinnerung an ein Niedagewesenes…“ Am 12. September 1962 schrieb Paul Celan nach Bukarest:

Etwas, das mir so oft, wie Ihnen in der Nazi-Zeit, als das nach dem Reim rufende Reimlose erscheint – das Wort Mensch – lebt auf, und lebt sich dem Reim zu, wenn ich einen Gedanken oder eine Zeile an Sie und die Freunde… richte.

In der Niemandsrose steht der Vers:

Wir werden das Kinderlied singen, das
hörst du, das
mit dem Men, mit dem Schen, mit dem Menschen…

Alfred Margul-Sperber zeigte mir einmal eine Ansichtskarte, die ihm der große rumänische Lyriker Tudor Arghezi vom Genfer See geschickt hatte, da stand auf rumänisch: „Omului-Domn Alfred Margul-Sperber“: dem Menschen-Herren – in bedeutungsvoller Umkehrung zum „Herren-Menschen“ auf deutsch.

Dieter Schlesak, die horen, Heft 104, 4. Quartal 1976

 

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Nachruf auf Alfred Margul-Sperber: Die Tat

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