Andreas Reimann: Gräber und Drüber

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Andreas Reimann: Gräber und Drüber

Reimann-Gräber und Drüber

VERLUSTANZEIGE

Meine freunde sind verschollen
all die tollen, wundervollen,
die proleten und poeten
mit verschiednen maultrompeten,
die besoffen doch noch hoffen,
von den kugeln nicht getroffen,
von den löwen nicht gejagt,
von den würmern nicht benagt,
von der regel ausgenommen
irgendwie davonzukommen…

Wenn die eisenräder rollen
wenn die donner näher grollen
also gleich wie auf den gleisen
in den lüften klirrts’s wie eisen:
würde ich wohl nichts vernehmen,
wenn vom berge stimmen kämen,
wenn sie brüllten aus den tiefen,
wenn sie aus den fluten riefen:
Meine freunde all, die tollen,
sind und bleiben wohl verschollen…

Und ich ging, statt sie beim fluchen
abzubuchen, also suchen.
Und ich lauschte, und ich guckte
in cafés und ins gedruckte,
unter brücken, in behörden,
in die anstalt der verstörten,
suchte sie sogar beim heer –
allerdings dort nicht so sehr –
eher noch in den bordellen,
zellen oder kirchkapellen…

Manchmal dachte ich, ich sähe
eine mir bekannte krähe
zwischen spatzen oder tauben:
trügerischer wunderglauben!
Zwar der vogel, den ich meinte,
glich dem freund, um den ich weinte,
doch er glich, so schien es mir,
auch den andern vögeln hier,
wär bei denen angekommen,
wenn auch innen ausgenommen.

Da ich also sah sie schwirren,
hoffte ich mich doch zu irren,
und die gimpel und fasane
wären nicht die zechkumpane
aus der zeit des aufbegehrens, –
sich verzehrens und sich wehrens.
Sondern die von mir vermißten,
ohne koffer, ohne kisten
wärn sie kurz mal ausgewandert
ins fernab vom wohlstands-standard.

Wärn sie also unverbogen
einfach in die welt gezogen,
müßt ich jubeln, statt zu trauern,
und nicht länger mich bedauern,
denn dann wärn sie wohl gegangen,
um nach hause zu gelangen
in den zorn und in die träume,
in die eignen innenräume,
drin die freunde wie vor zeiten
lachen, leiden, trinken, streiten…

 

 

 

Ein Blick

zurück nach vorn. Andreas Reimann stellt in seinen neuen Gedichten die Frage nach dem, was bleibt, nach Freunden und Feinden, denjenigen, die geblieben sind, und denen, die den gemeinsamen Weg verlassen haben. Wie viel Vergangenheit steckt in der Gegenwart, wo komme ich her, wo gehe ich hin, – ein Moment des Innehaltens und Resümierens.

Connewitzer Verlagsbuchhandlung Peter Hinke, Klappentext, 2010

 

Beitrag zu diesem Buch:

Undine Materni: Zum Innehalten und Staunen locken diese Gedichte
fixpoetry.com, 6.11.2011

 

„O wonderful world“

– Es wird Zeit, dass wir den großen Schriftsteller Andreas Reimann endlich wieder entdecken. –

Ein Dichter verschwindet. So scheint es uns zumindest, wenn wir ihm nachblicken, auf dieser großen belebten Straße in der Südstadt von Leipzig.

Licht fließt herab an den hängen! –
Lava, die langsam erstarrt. –
Doch wolken darüber! – der engen
steinstadt geäscherte himmelfahrt!

Wir haben von den Neutrinos gelesen in den letzten Wochen. Und wie sie den Jahren oder Sekunden im Licht voraus sind. Die Unmöglichkeit im Strom von Raum und Zeit.

… als irgendein menschlein die sohlen des alls
leckte und plapperte hin seinen satz:
„ich bin ein berliner“, oder so ähnlich.
O wonderful world.

Andreas Reimann verschwindet. So hell, so weiß fast wie seine Haare, sein Schnurrbart, ist das Licht, das Nachmittagslicht, in dem er, dieser kleine Mann, zu verschwinden scheint, in den Seitenstraßen der Südstadt, Richtung Connewitz, dort, wo er ausharrt seit Jahrzehnten, „bewohnbare Stadt“.

„Halt!“, rufe ich, „da sind noch so viele Fragen, und deine Worte, deine Poesie!“, aber er lächelt nur und dreht sich weg, „… und es siehet das schöne / nur jener, der abwendet sich“, und läuft schneller, als würde er wie vorhin, in der Kneipe im Gespräch, über die Neutrinos und die Möglichkeit der Zeitreisen nachdenken und ob er wirklich noch einmal sehen will, wo und wie der junge Mann einst begann, weil’s doch sowieso immer gegenwärtig ist, auch nach Jahrzehnten.
„Du kannst dich nur im eignen wirken schauen, / und nicht in eines traumes gegen-ich.“, sagtest du, und später und woanders, Jahre oder Monate vorher, mit brüchiger, aber doch kräftiger Stimme, auf einem Podium, grantelst du denen, die von deinen Jahren und deinem Schaffen reden, als wäre alles nur düster in einer kaputten, nutzlosen, seelenlosen Zeit gewesen, voll Zorn entgegen:

Das sagen sie doch über Venedig seit Jahrhunderten!

Dass es versinken wird, im Herzen der Meere.

Hinter den mauern, wo standhaft die mauern
stehn und unnahbar, wie, über ein kleines,
dachte ich, könnt ich dort leben: nicht groß,
doch aber angstlos wie einer, der noch
gar nichts von all der bitternis weiß.

Die Bitternis im Leben des Dichters Andreas Reimann. Geboren 1946. Leipzig. Und dessen Werk (Das ja zum Glück noch in Progress ist) jetzt gesammelt bei der Connewitzer Verlagsbuchhandlung erscheint. Beginnend mit Die Weisheit des Fleisches, das, erstmals veröffentlicht 1974 im Mitteldeutschen Verlag, eines von zwei Büchern war, die von Reimann in der DDR erscheinen durften. Nach 1979 schien er zu schweigen, weil er schweigen musste, weiterdichtend, nicht mehr gedruckt. Und nein, der Dichter entschwand nicht. Er ist da, und war immer da und schrieb und harrte aus. Kunstvoll in ihrer Form und weich in ihrer Strenge sind seine Dichtungen. Immer wieder das Sonett, Elegien, Oden, oft eine Trauer in seinen Versen und oft ein bitterer Witz.

Es tropft in den städten der schnee. Bleib hier.
Die stricher suchen ein winterquartier:
erbärmliche streuner zwischen den gleisen,
die um sich beißen und dennoch den greisen
nachtappen ergeben: wen wärmt schon der stolz?
Bis märz ist geschlossen das unterholz.

Da bricht (vielleicht ein zu martialisches Wort) sich der Dichter den Weg durch die Gegenwart, geht tief ohne jegliches Sozialpathos, „Die kälte macht unter die freiheit den strich“.

Die Stadt wird ihm kühl nach all den Jahren? („Wo man gefeit ist ein lächeln lang / vor allen ideen, getreuer: allhie / hinter der haltbaren tür / bin ich kein dichter, / bin ich kein schwuler, / bin ich nicht alt.“) 1946/2011. Ihm, dem begnadeten Grantler, humorvoll und zornig, in Gesprächen und Diskussionen, Venedig, die Umwege der Augen, Utopia, wenn er die Schwierigkeiten und Wirren der Zeiten und Menschen und Poesien kommentiert. Wenn er sieht und hört, wie die Kollegen geschmeidig ihre Wege machen. Wenn in einer Anthologie mit DDR-Lyrik kein einziges Gedicht von ihm auftaucht.
Vor Kurzem saß er auf einem Podium einer lokalen Zeitung, „bewohnbarer Stein“, und wirkte seltsam fremd und allein, während er seine Gedichte las:

Weiß warn die wände, die betten warn weiß,
weiß warn die Laken, patienten und ärzte.
Aber im fernsehen die bilder: schwarz-weiß
am tag als neil armstrong den blässlichen mond
(louis, o wonderful world!) betrat,
während auf eiserner bettstatt
ein anderer häftling, dreifacher mörder,
in mir, dem verfahlten, sich wütend betrieb
und schauerlich zärtlich.

Er erzählt wenig über diese zwei Jahre Ende der 60er, Anfang der 70er. Hat nie späte Gerechtigkeit eingefordert, öffentlich. Mit seiner Vergangenheit geschachert. Aber in einigen seiner besten Gedichte ist sie so kunstvoll gegenwärtig. Wütend, und schauerlich zärtlich.

Zwei Körper lang die zelle. Breit: drei schritte,
wenn einer kurz tritt. – In des hohlraums mitte
auf einem vielbesessnen schemel hockt
die nummer krumm verängstigt und verstockt.

Und als ich sage: „Andreas, 1969, da hast du ja gesessen“, lächelt er nur über diesen dummen Fauxpas, über diese Unterschlagung eines langen Jahres. Wenn die Neutrinos flitzen. Wenn er erzählt, dass die Stasi versuchte, ihn auch wegen einer perfide fingierten „sexuellen Belästigung Minderjähriger“ dranzukriegen, spürt man sie förmlich, diese bleigrauen Zeiten, auf seinen Schultern. Wie hat dieser kleine Mann im hellen Licht, denke ich, während ich ihm nachblicke, das nur durchgestanden, wie hat er nur, zwischen den Untergängen (so der Titel eines nach der Wende erschienenen Gedichtbandes), die Kraft für seine Worte, seine Poesie gefunden, ohne zu verbittern?
Wir sitzen in einer Kneipe in seinem Süden der Stadt, von Italien, „der garten d’annunzios“, den er nach der Wende bereiste, erzählt er immer wieder. Ich sage:

Andreas, ich nenne jetzt ein paar Namen.

Später, auf dem Diktiergerät, seine Stimme wie ein dünner Silberfaden zwischen den Kneipengeräuschen.
„Hilbig“, sage ich, und meine den Wolfgang, seinen zu früh verstorbenen Dichterkollegen und Freund, der einst aus Sachsen (Thüringen) kam und über Leipzig kommend weit reiste und nie die Landschaft hinter sich lassen konnte, der er entwuchs und mit ihm seine Lyrik und Prosa.
„Hilbig“. Andreas Reimann schüttelt den Kopf. Streicht sich durch sein weißes Haar. Lächelt, und das ist ein seltsames Lächeln, und schweigt lange. „Ach…“, fängt er an, und schweigt dann wieder. „Wolfgang Hilbig…“ Und ich denke, dass da vielleicht noch was kommt, aber seine Augen, die weit weg sind jetzt, sagen mehr als Worte. Sind stille Poesie.

Die bäume sind abgehauen.
Die freunde sind abgehauen.
„Die vöglein schweigen im walde.
Warte nur, balde
ruhest du auch.“

So variiert der junge Dichter A. R. den alten Goethe in dem Band Das ganze halbe Leben“, wartet in anderen Gedichten auf Rimbaud, klagt mit Orpheus über Eurydike:

Denn Götter zeigen Gnade nur, wenn sie
uns gründlich wissen. Nichts als zeitvertreib:
sie lassen dich aus ihrer dunkelzelle
barmherzig in des tages schreckenshelle,
und unterm räderrolln zerbricht dein leib.

„Hilbig“. Und er schüttelt den Kopf und seine Augen sind weit weg, und er weiß gar nicht, was er sagen soll, wohin ihn seine Erinnerungen führen, auf dem Rücken der reisenden Neutrinos. „Sächsische Dichterschule“, werfe ich in das Schweigen. Denn galt Andreas Reimann nicht als das Wunderkind dieser berühmten Schule auf großer „Klassenfahrt“ durchs Land? Zu der man Adolf Endler zählte, der dann nach Berlin ging, Heinz Chechowski aus Dresden, Karl Mickel, Sarah und Rainer Kirsch, Bernd Jentzsch, und sogar den ganz unsächsischen Wolf Biermann.
Andreas Reimann studierte 1965 am Johannes-R.-Becher-Institut in Leipzig, bis man ihn exmatrikulierte. Er war noch keine zwanzig, als seine ersten Gedichte erschienen und ihn bekannt machten. War noch nicht mal fünfundzwanzig, als sie ihn einsperrten, Prager Frühling, staatsfeindliche Hetze, unter anderem. Und dreiunddreißig, als mit Das ganze halbe Leben sein zweites Buch erschien. Von dem er nicht wissen konnte, dass es sein letztes in der DDR publiziertes sein würde. Das lange bleierne Schweigen? Den Ausreiseantrag zog er zurück, als er seinen Lebensgefährten kennenlernte, mit dem er bis heute lebt, und dem er einige seiner schönsten Liebesgedichte gewidmet hat.
Schwieg nicht. Schrieb Texte für Liedermacher. Seine Lesungen waren Ereignisse in Kneipen und Wohnungen. Er, das einstige Wunderkind, hielt eine Zeit lang Hof in einer Kneipe, wo ihn junge Kollegen besuchten und um sein Urteil baten. Sagen die Legenden! Da lacht er. Ich frage, was die Gemeinsamkeiten jener Schule waren? Die Genauigkeit in der Form? Die Breite der poetischen Mittel oder einfach: Sachsen und die Welt? Aber da wird es uns zu akademisch, und wir gehen an die Luft. Reimann raucht und trinkt nicht mehr, die Lyrik ist sein letztes verbliebenes Gift.

Gräber. Und drüber die seelen.
Irre wird der, der sie zählt.
Alter, beginnst du zu zählen?
Ich zähl seit dem anfang der welt… –
Gräber. Und drüber die gräser.
Und jeder behauene stein
sinkt in erwartung der leser
rasch ins reich augenlos ein.

Da fröstelt es mich, und wird mir warm, und mir fehlen die Worte. Im Angesicht dieser großartigen, weisen und rasanten und anrührenden Lyrik, die ihn so einzigartig macht in der Literatur, der Dichtung unserer Gegenwart. Ich blicke ihm hinterher, wie er langsamen Schrittes die Straßen bearbeitet. Im Abendlicht, im Morgenlicht.

Gräber und gräber. Und drüber,
alter mann, spring!

Clemens Meyer, Die Welt, 19.12.2011

 

Andreas Reimann: „Leipzig feiert pausenlos“

Peter Geist: „die ganzlust hab ich“ – zu den Gedichten von Andreas Reimann

Porträt des Lyrikers Andreas Reimann

 

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Peter Geist: „Ich flagge die fahne protest!“
Ostragehege, Heft 87, 5.3.2018

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Gespräch Alexander Mayer mit Andreas Reimann: Leipziger Lyriklegende Andreas Reimann: Schreiben aus Notwehr
mdr KULTUR, 11.11.2021

Michael Ernst gratuliert Andreas Reimann zum 75. Geburtstag
mdr.de, 8.11.2021

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Facebook

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Andreas Reimann

 

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