Bulat Okudshawa: Romanze vom Arbat

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Bulat Okudshawa: Romanze vom Arbat

Okudshawa-Romanze vom Arbat

KLAGELIED UM DEN ARBAT
Für Tschabua Amireshibi

Bin vom Arbat geschieden – als Emigrant getrennt.
In gottlos schöner Gasse verödet mein Talent.
Ringsum nur fremde Augen und feindlich Stein und
aaaaaBaum,
zwar Sauna gegenüber, die Fauna lockt mich kaum.

So vom Arbat geschieden, fehlt mir Vergangenheit.
Die Okkupanten lachen mir ins Gesicht zur Zeit.
Hier zwischen fremden Schicksal erstarr ich, wie Frau Lot.
Ach, bitter schmeckt mein süßes, mein Emigrantenbrot.

Nicht Ausweis oder Visum – die Rose in der Hand,
so geh ich längs der Grenze, als sei da andres Land.
Dieselben Trottoire, die Höfe, jeder Baum,
doch sind mir kalt die Reden, die Feste wärmer kaum.

Es lodern satte Farben, wie einst in Wintern mir,
doch kaufen Okkupanten in meinem Laden hier.
Sie gehn, wie neue Hausherrn, hochmütig um den Mund…
Die Flora ist dieselbe, die Fauna auf dem Hund.

Ich trag mein Kreuz und lebe, Arbat, als Emigrant
und hab, vereist, die Rose entblättert in der Hand.

Nachdichtung: Werner Bernreuther

 

KLAGELIED UM DEN ARBAT
Für Tschabua Amireshibi

Ausgesiedelt vom Arbat bin ich, ein Arbater Emigrant. Mein Talent verödet nun in der Gottlosen-Gasse1. Ringsum nichts als fremde Gesichter, feindliche Stätten. Mag da auch eine Sauna sein gegenüber, die rechte Fauna fehlt doch. Ausgesiedelt vom Arbat bin ich, bin der Vergangenheit beraubt, selbst bei den Okkupanten wecken meine Augenblitze keine Furcht, nur Spott. Ausgesperrt bin ich, verloren zwischen fremden Schicksalen, und bitter schmeckt mir, so süß es ist, mein Emigrantenbrot. Ohne Paß und Visum, nur eine Rose in der Hand, schlendere ich längs der unsichtbar verschlossenen Grenze. Dort gibt es noch die alten Trottoire, die alten Bäume und Höfe, doch die Gespräche gehen nicht zu Herzen, und die Feiern wärmen nicht. Wie einst flammen dort die satten Winterfarben, doch es sind die Okkupanten, die in meine zoologische Handlung gehen – mit herschaftlichem Schritt, hochmütigem Gesicht. Ach, ist auch die Flora noch die alte, die rechte Fauna fehlt doch. Ein Emigrant vom Arbat, schlag ich mich durchs Leben, trage mein Kreuz. Vereist ist die Rose, hat all ihre Blütenblätter verloren.

Nacherzählung: Loenhard Kossuth

 

KLAGELIED IM HINBLICK AUF DEN VERLORENEN ARBAT
Für Tschabua Amiredshibi

Ein vom Arbat Getrennter, ein Ausgesiedelter bin ich, ein Arbat-Exilant! Hier in der Besboshny-Gasse muß meine Begabung allmählich verdorren. Nichts als fremde Gesichter ringsum und die feindselig starrenden Plätze; und wartet auch vis-à-vis eine Sauna, die Fauna ist nicht die wahre für meine Begriffe – Ein Ausgesiedelter vom Arbat bin ich hier, wie beraubt meiner Herkunft; trotzdem stoße bei den Gewinnern ich nirgends auf Schrecken über den Ausdrucks meines Gesichts; eher scheint’s ulkig zu wirken… Der sich, umhertaumelnd zwischen ganz unverständlichen Existenzen, als ein Ausgestoßener fühlt, wie bitter, so süß es auch sein soll, muß solchem sein Emigrantenbrot schmecken. –//– Ohne Paß, ohne Visum, in der Hand eine Rose, sonst nichts, schlendre ich an der unsichtbaren und unübertretbaren Grenze entlang; drüben sind es die alten Trottoire noch, die Bäume und Höfe; doch die Gespräche auch dort, sie scheinen nicht die herzlichen mehr, und die Feste sind kalt! – Ganz wie früher noch blühen die satten Farben des Winters; aber schon wieder die Gewinner sind es, die in der Zoohandlung, wie ich sie kannte, verschwinden… Hochherrschaftlich ist der Gang, die Münder vom Dünkel geprägt… Ach, die Flora ist wohl die alte geblieben, aber die Fauna ist nicht mehr die wahre für meine Begriffe. –//– Ich, ein Emigrant vom Arbat, muß es duldend geschehen lassen; vereist ist die Rose, seht, in der Hand, und der Blütenblätter schon vollkommen bar…

Adaption: Adolf Endler

 

 

 

Gespräch

Leonhard Kossuth: Seit wann schreibst du, und wie kommt es, daß es zunächst Lieder geworden sind?

Bulat Okudshawa: Denke ich zurück, wie alles begonnen hat, dann scheint mir, daß meiner Zuwendung zu diesem Genre ein großes Interesse für Folklore vorausging; vor allem natürlich für die russische Volksdichtung, die städtische Romanze, die Stadtfolklore. Damals wurde mir bewußt, wie die Rhythmik und die Emotionalität dieses Genres von mir Besitz ergriffen, mich erregten, wie in mir selbst verwandte Rhythmen entstanden und ich Lust bekam, in der gleichen Art zu schreiben, wie ich meine Verse mitunter melodisch hervorbringen, singen wollte. Das war es wohl, was mich schließlich eine Gitarre zur Hand nehmen ließ, um ihr Töne zu entlocken, obwohl ich gar nicht darauf spielen konnte. Bei uns ist es ja Brauch, Gedichte sehr rhythmisch vorzutragen, fast singend, melodiös. Ich aber ging noch weiter. Ich begann, sie zur Gitarre zu singen. So jedenfalls erkläre ich es mir.

Kossuth: Vielleicht war es auch kein Zufall, daß du gerade in der Nachkriegszeit Liedermacher wurdest?

Okudshawa: Damals nach dem Krieg sang man im wesentlichen entweder offizielle Lieder – Marsch- und Chorlieder – oder sogenannte lyrische Lieder, eine Art Konfektionskunst; hin und wieder auch Volkslieder. Niemand sang über sich selbst, über sein Schicksal. Vielleicht spürten die Menschen aus meinen Versuchen etwas Eigenes, Intimes heraus und interessierten sich darum für meine Arbeit. Je wärmer aber das Publikum reagierte, desto mehr regte es mich an. Meine Lieder dienten ja nicht nur der Unterhaltung, der Entspannung, auf die manch einer die Funktion des Liedes allgemein reduziert. Mir gelang ein intimes Gespräch, ein Gedankenaustausch. Ich erzählte, wie ich uns selbst, wie ich unser Leben sehe; das schuf eine innige Kommunikation, und darin steckte wohl auch das Geheimnis unserer Wechselbeziehungen.

Kossuth: An welche Traditionen knüpfst du an? Woher zum Beispiel kommt das Blau in deinen Liedern, überhaupt die ganze Farbsymbolik?

Okudshawa: Was diese Liedtraditionen betrifft, so habe ich natürlich das Genre nicht erfunden. Ich habe es unter neuen Bedingungen sozusagen wiederbelebt, weiterentwickelt. An sich ist es ein altes Genre. Im neunzehnten Jahrhundert hat eine ganze Gruppe russischer Dichter ihre Verse zur Gitarre gesungen. So Apollon Grigorjew. Das ist also in der russischen Literatur, der russischen Kultur schon dagewesen. Nicht zahlreich freilich, nicht als Hauptweg der russischen Poesie, aber gegeben hat es das. Ich denke, es waren die Zeit und die Umstände, nicht aber eine persönliche Laune, die in mir den Wunsch geweckt hatten, zur Gitarre zu singen. Wahrscheinlich als Protest gegen literarische Banalität und Oberflächlichkeit, gegen leere Rhetorik.
Was das Blau betrifft, da kann ich nichts erklären. Es gab eine Periode, da gefiel mir diese Farbe, und ich verwendete sie, wo es nur ging. Später gefiel mir das Himbeerrot, dann das Fliederviolett. Was soll ich da erklären? Offenbar ist es unerklärbar, und das ist gut so.

Kossuth: Noch eine Frage zu den Traditionen: Villon hast du doch sogar ein besonderes Lied gewidmet!

Okudshawa: Villon liebe ich sehr, und natürlich habe ich dies und das bei ihm gelernt. Doch kenne ich ihn nur in russischen Nachdichtungen, betrachte ihn nicht als meinen Vorfahr im strengen Sinne des Wortes. Angezogen wurde ich von seiner bitteren Ironie, seinem Umgang mit dem Refrain. Beides ist nicht nur Villon eigen, wir finden es bei vielen alten Meistern. Es fehlt schon nicht an Lehrern. Das „Gebet von François Villon“ indessen ist mein eigenes Gebet, und der Titel entstand zufällig – vermutlich, damit nicht das Wort GOTT irgendwelche Pharisäer erschreckt.

Kossuth: Du hast dieses Genre wiederbelebt, hast aber doch Mitstreiter gefunden?

Okudshawa: Sieh mal, als ich anfing, gab es niemanden. Dann, nach einiger Zeit, tauchten Galitsch auf, Novella Matwejewa, Wyssozki… Sie traten auf den Plan, als ich schon dabei war, mich allmählich von diesem Genre zurückzuziehen. Zwar schrieb ich noch Lieder, aber mein Hauptinteresse hatte sich verlagert. Zunehmend beschäftigte ich mich mit Prosa, und was die Musik betrifft, so zog es mich mehr zur klassischen Musik – sie vor allem hörte ich gern. Deshalb fehlt mir ein Überblick über die Akteure dieses Genres. Gut kannte ich Galitsch, Wyssozki, Matwejewa, jetzt vielleicht Juli Kim, Juri Wisbor und Veronika Dolina; das ist so ziemlich alles. Mir kommt vor, als wären sie – gemessen an mir – mit etwas anderem, sehr Wichtigem beschäftigt, ich aber trüge zum Liedgenre mehr zufällig, nebenher etwas bei. Überhaupt konnte ich diese Strömung noch nie analysieren, erklären. Über mich war das plötzlich gekommen, und nie wäre ich imstande gewesen, eine theoretische Grundlage zu entwickeln. Nie.

Kossuth: Wie erklärst du, daß bei deinen Liedern der Text unbedingt an deine Musik gebunden ist, ganz zu schweigen von der Wirkung deines eigenen Vortrages?

Okudshawa: Ich denke, das rührt daher, daß es nicht in erster Linie Lieder sind, sondern Gedichte, die mit Musikbegleitung vorgetragen werden. Viele sehr gute Komponisten haben meine Verse vertont. Manche recht treffend. Was aber interessant ist: Meine Musik war schlechter, war dilettantisch, und trotzdem wirkten meine Gedichte mit meiner Musik stärker als mit der von Berufsmusikern. Hier kommt es offenkundig weniger auf die Musik an als auf die Übereinstimmung von Text und Musik. Ich als Autor der Gedichte konnte diese verborgene Beziehung eben leichter aufspüren. Für die Aufnahme durch das Publikum spielte zudem der Vortrag des Autors eine große Rolle. Mir bereitet es Vergnügen, wenn ausgezeichnete Sänger meine Lieder vortragen; das Publikum ist anderer Meinung, will trotz meiner stimmlichen Unvollkommenheiten lieber mich hören.
Wahrscheinlich gelingt es mir, etwas an den Autor Gebundenes und den Sängern nicht Zugängliches in den Vortrag einzubringen.
Einmal bin ich sogar mit einem Orchester aufgetreten. Das war eine kleine, sehr gute Berufskapelle. Ein wohlwollendes Publikum hatte sich versammelt. Niemand wußte von dem Orchester. Plötzlich geht der Vorhang auf und man sieht es zusammen mit mir auf der Bühne. Ich habe gesungen, alles war vorzüglich. Hinterher fragte ich meine Freunde, die mit im Saal gewesen waren: „Wie war’s?“ – „Nicht schlecht“, sagten sie. „Aber das war eben ein Estradenprogramm, und auf der Estrade gibt es bessere Sänger als dich.“ Das Geheimnis der Intimität war verschwunden.

Kossuth: Du bist in Moskau geboren, am Arbat, aber dein Vater war doch Georgier und deine Mutter Armenierin?

Okudshawa: Ja, so ist es. Die Mutter und der Vater waren noch von der Illegalität und vom Bürgerkrieg her Parteifunktionäre. Auch danach arbeiteten sie in der Partei. Aber 1937 wurden sie von Repressalien betroffen. Der Vater ist tragisch umgekommen, die Mutter hat sehr viel durchgemacht, blieb aber am Leben. Später sind sie natürlich rehabilitiert worden. Ich hatte keine leichte Jugend. Der Arbat ist mein Geburtsort und mein Lebensraum. Ich wuchs mit der russischen Kultur auf, meine Muttersprache ist russisch. Mit gutem Grund betrachte ich mich deshalb als russischen Schriftsteller. Mich erzog die russische Folklore; sehr nahe und vertraut ist mir die russische Kultur, ich habe sie von Kind auf im Blut. Und doch: Obwohl mich die Lebensumstände gehindert haben, Georgisch zu lernen, zieht mich von Jahr zu Jahr mehr nach Georgien. Offenbar macht es das Alter, der Ruf der Vorfahren sozusagen. Mit Rührung höre ich georgische und armenische Lieder, die transkaukasische Geschichte begeistert mich. Das ist normal. Echte russische Intellektuelle fühlten sich schon immer von der georgischen Geschichte angezogen, die übrigen mehr von der georgischen Küche.

Kossuth: Dennoch hast du ausgerechnet in Tbilissi studiert; hat dies mit deiner Abstammung nichts zu tun?

Okudshawa: Bis zu einem gewissen Grade doch. Als ich von der Front zurückkam, hatte ich wegen der angeblichen Verbrechen meiner Eltern die Wohnung am Arbat verloren. In Moskau fand ich keine Bleibe. Da fuhr ich zu meiner Tante nach Tbilissi. Ich wohnte bei ihr, besuchte die dortige Universität. Hätte die Tante in Kasan gelebt, so wäre ich wohl dorthin gezogen.

Kossuth: Hast du den ganzen Krieg mitgemacht? Er hat doch in vieler Hinsicht deine Gedichte geprägt!

Okudshawa: Nicht den ganzen. Erst ab 1942. Ich war damals siebzehn und ging freiwillig in den Krieg. Krieg ist eine Tragödie. Wenn ich jetzt zurückdenke: siebzehn Jahre, dürrer Hals, krumme Beine – ein schöner Soldat! Sehe ich die heute siebzehnjährigen Schüler an, so möchte ich kaum glauben, daß ich in ihrem Alter gekämpft habe. Ein Held ist aus mir nicht geworden, aber soweit ich mich erinnere, habe ich mich sehr bemüht, meine Pflichten zu erfüllen. Ich war Granatwerferschütze, wurde verwundet. Nach dem Krieg studierte ich Philologie. Damals schrieb ich schon mitunter Gedichte.

Kossuth: Und was war nach dem Studium?

Okudshawa: Von der Universität kam ich als Lehrer ins Gebiet Kaluga, in ein Dorf. Später war ich Lehrer in Kaluga. Dann starb Stalin. Neue Strömungen regten sich. Ich erhielt Gelegenheit, in der Kalugaer Zeitung zu arbeiten. Nachdem meine Eltern rehabilitiert waren, erlaubte man mir, nach Moskau zurückzukehren. Ich kehrte zurück! Arbeitete in einem Verlag, dann in der Liteturnaja Gaseta. Schließlich wurde ich Mitglied des Schriftstellerverbandes und arbeite seitdem freiberuflich – wie man bei uns sagt, als Einzelhandwerker.

Kossuth: Seither betätigst du dich als Berufsdichter?

Okudshawa: Nicht nur als Dichter. Ich schreibe Prosa, Filmszenarien. Habe Nachdichtungen gemacht. Letzteres freilich zunächst nur des Verdienstes wegen, die wahren Nachdichter habe ich immer beneidet. In jüngster Zeit übernehme ich allerdings nur selten Nachdichtungen, und dann nicht mehr um zuzuverdienen, sondern aus innerem Bedürfnis.

Kossuth: Mittlerweile bist du längst ein erfolgreicher Romancier.

Okudshawa: Zur Zeit schreibe ich meinen vierten Roman. Mit Prosa befasse ich mich seit 1960. Je mehr ich mich in die Prosa hineinkniete, desto weniger gelangen mir Verse, und um 1974 war mit Gedichten völlig Schluß, so verzweifelt ich mich auch bemühte, wieder welche zu schreiben. Wie kam das? War ich gealtert? Gesetzt, solide geworden? Viele Jahre brachte ich keine zwei Verszeilen mehr in einem Zuge zu Papier. Und plötzlich, 1982, entrangen sich mir unerwartet wieder Gedichte. Das war ein Fest! Geht man aber der Sache auf den Grund, so gibt für mich zwischen meinen Gedichten und meiner Prosa keinerlei prinzipiellen Unterschied. Es sind die gleichen Helden, die gleichen Gefühle, die gleiche Sicht. Der Form nach, dem Umfang nach unterscheiden sie sich, aber sonst? Zugegeben, da gibt es noch das Sujet. An Sujets gebundene Gedichte habe ich nie geschrieben; aber auch in meiner Prosa ist das Sujet sehr unwirklich. Doch darüber will ich nicht selbst urteilen.

Kossuth: Den dritten Roman hast du Olja gewidmet; das belegt, daß sich parallel zu deinem literarischen Leben auch das „persönliche“ erfolgreich entwickelt hat?

Okudshawa: Ich hatte schon als Student geheiratet, hatte eine wunderbare Frau. Wir studierten gemeinsam an der Universität, hatten einen Sohn. Dann ist sie gestorben. Der Sohn ist jetzt erwachsen, bald dreißig. Er hat selbst Familie. Später heiratete ich Olja. Mit ihr habe ich auch einen Sohn.

Kossuth: Wie stehen deine Söhne – wie steht die junge Generation – zu deinen Liedern? Hast du Wünsche in bezug auf ihr Verhältnis zur Welt?

Okudshawa: Meine Söhne begegnen mir mit Respekt, sind vielleicht sogar stolz auf meine nicht gar zu häufigen Erfolge; im übrigen haben sie ihre eigenen Interessen, und meine Arbeit, so scheint mir, berührt sie nicht sonderlich. Ein Prophet gilt nichts im eigenen Land. Mich grämt das nicht. Ich wünsche ihnen, daß sie nie Gewalt, Bosheit oder Ungerechtigkeit am eigenen Leibe zu spüren bekommen, aber dies liegt schon im Bereich der Phantastik.

Kossuth: Kehren wir nochmals zur Frage nach dem nationalen „Element“ zurück. Bringst du als Akteur der russischen Literatur nicht doch – als Bereicherung, wie es die Literaturgeschichte durchaus schon kennt – ein ererbtes nationales Temperament in diese mit ein?

Okudshawa: Das nationale Element liegt außerhalb meines Bewußtseins. All dies wird später und nicht von mir zu klären sein.

Kossuth: Was zieht dich so stark zur Geschichte? Dieses Interesse ist doch schon früh an deinen Gedichten zu beobachten.

Okudshawa: Je mehr man sich mit der Geschichte beschäftigt, je tiefer man sie begreift, desto zahlreicher kommen einem Assoziationen, Analogien, Parallelen in den Sinn – ob man will der nicht. Plötzlich begann ich zu bemerken, daß wir nicht erst heute so wurden, wie wir sind, sondern seit langem ohne wesentliche Veränderungen existieren – von Generation zu Generation. Wir, die Heutigen, haben mit ihnen, den Gestrigen, sehr vieles gemeinsam. Hartnäckig wiederholen wir uns selbst. Jede Generation wiederholt die vorangegangene. Das ist eine Eigenschaft der Menschen, des Menschengeschlechts. Mich interessiert das sehr. Je gründlicher ich mir die Geschichte vornehme, desto mehr überzeuge ich mich, daß es eine Vergangenheit, wie wir sie uns nach Schulbüchern vorstellen – als etwas schrecklich Entferntes und qualitativ völlig anderes –, überhaupt nicht gibt. Hundert oder dreihundert Jahre spielen für biologische, physiologische Eigenschaften nicht die geringste Rolle. Der Mensch wiederholt sich auch unter neuen Bedingungen, er vervollkommnet sich und bleibt doch derselbe. Wir leiden, lieben, beneiden, hassen, erbarmen uns heute wie vor dreihundert Jahren. Die Moden, die Verkehrsmittel, das Gesicht der Zivilisation ändern sich, wir aber bleiben im Kern dieselben. Das ist hochinteressant – erschütternd und traurig. Darum wohl fesselt mich die Geschichte. Überdies heißt es: Studiere deine Vergangenheit, dann siehst du besser in die Zukunft. Sehr überzeugend ist das nicht, aber ein Körnchen Wahrheit steckt darin.
Von all dem abgesehen, fehlt mir die Gabe, über unmittelbar Erlebtes zu schreiben. Auch darum ist kein guter Journalist aus mir geworden. Es braucht Zeit, ehe ich mich umgesehen, nachgedacht habe, darstellen kann. Sogar eine größere Erzählung über mein Kriegserlebnis („Leb wohl, Schüler“) verfaßte ich erst fünfzehn Jahre nach den Ereignissen, da war der Krieg bereits Geschichte. Ich behaupte nicht, Schriftsteller, die über heutige Vorgänge schreiben können, täten dies unbedacht. Nein, das liegt an der Art der Begabung. Das ist Natur.

Kossuth: Du sagst, daß sich die Menschen nur langsam verändern – charakterlich, biologisch, physiologisch. Lebt aber nicht, zum Beispiel, dein Gedicht „Wie ich im Zarensessel saß“ von der Schnellebigkeit, der Veränderlichkeit der Zeit?

Okudshawa: Von der Veränderlichkeit der Zeit – ja, aber davon, daß wir uns verändert hätten – nein. Die heute Lebenden stellen sich nicht vor, was morgen infolge ihrer Handlungen geschehen kann; ich aber, der ich das Gestern, das Heute und das Morgen durchlebt habe, weiß dies alles und warne sie. Natürlich ist das ein poetiescher Kunstgriff, außerdem entstand das Gedicht vor langer Zeit und war, sagen wir mal, eine Proklamation.
Was aber ändert sich für mich? Natürlich idealisiere ich die Vergangenheit nicht. Jede Epoche, jede Generation trägt sowohl ihre Zukunft in sich als auch die Gründe für ihren Untergang.
Doch am neunzehnten Jahrhundert gefällt mir persönlich seine größere Stabilität, seine größere Bedächtigkeit. Gegenwärtig leben wir in einer Art Fieber, zumindest kommt es mir so vor. Selbstverständlich hielten die Menschen des neunzehnten Jahrhunderts – gemessen an dem geruhsameren achtzehnten – das ihre für stürmisch. Dennoch ist für uns das neunzehnte Jahrhundert das stabilere. Vergleichen wir dort die zwanziger mit den fünfziger Jahren, so findet sich kaum ein wesentlicher Unterschied.
Was aber liegt nicht alles zwischen unseren zwanziger und unseren fünfziger Jahren? Teufel noch mal! Als wären es zwei verschiedene Jahrhunderte. Oder nehmen wir den rein moralischen Aspekt: Sieh doch, ethische Begriffe wie Ehre, Edelmut – bei uns sind sie veraltet, haben keine rechte Funktion. Wir bemühen uns, sie durch allerlei Surrogate zu ersetzen, durch technische Neuheiten und sonstiges. Mir wirft man jetzt mitunter vor, ich idealisierte die Vergangenheit. Aber was sollte ich da schon idealisieren? Gemeinheiten gab es jede Menge. Vollkommen war kaum etwas. Aber einen Beleidiger forderte man früher zum Duell und schlug sich mit ihm unter gleichen Bedingungen. Heute haut man einen in die Fresse, ungeachtet allen technischen Fortschritts.

Kossuth: Dennoch bezieht nur deine Prosa ihren Stoff fast ausschließlich aus der Geschichte, während die Mehrzahl deiner Lieder unmittelbar der Gegenwart gewidmet ist.

Okudshawa: Erstens gründet sich meine historische Prosa auf Zeitgenössisch-Menschliches. Zweitens verfasse ich Erzählungen, ironische Erzählungen über mich selbst, bemüht, nicht hinter dem heutigen Tag zurückzubleiben. Das alles handelt von mir, auch wenn ich historisches Material verarbeite; ich habe kein Bedürfnis, unmittelbar über die Gegenwart zu schreiben. Dies ist wohl kein großer Verlust, denn ohnehin befassen sich viele hervorragende Schriftsteller mit unserer Zeit. Überhaupt soll sich der Mensch dem widmen, was ihm am meisten liegt. Zum Beispiel war ich Lehrer. Ich verstand mich gut mit den Schülern, qualifizierte mich allmählich, und doch wußte ich, daß dies nicht mein Beruf war. Bei der allerersten Gelegenheit verließ ich die Schule. Ich kannte schlechte Lehrer, aber auch sehr gute – solche, für die es im Leben nichts Wichtigeres gab. Es ging ihnen schlecht, sie hungerten, entbehrten alles mögliche, aber ihren Beruf liebten sie, sie gingen in ihm auf, sprachen nur von ihm. Das war großartig. Später im Verlag traf ich Lektoren, die nichts Interessanteres kannten als die Lektoratsarbeit. Sie waren Virtuosen. Ich aber war in diese Tätigkeit nicht verliebt, deshalb mitunter auch undiszipliniert – ließ Lektorieren Lektorieren sein und schrieb Gedichte. Beim Dichten vergaß ich alles um mich herum; als mir Lieder gelangen, bereitete mir das größten Genuß. Kaum hatte ich mich der Prosa zugewandt, da fühlte ich, daß ich nicht anders konnte und nichts anderes brauchte. Darin gehe ich auf, verwirkliche mich voll und ganz.

Kossuth: Trotz allem: Werden unsere Nachfahren in allen deinen Liedern nicht sowohl tragische als auch verlockende Züge unseres Lebens finden? Werden sie nicht auf neue Weise bedauern, daß man die „Zeit nicht zurückholen“, zum Beispiel Okudshawa nicht selbst hören kann?

Okudshawa: Ob aus angeborenem Leichtsinn oder aus anderen Gründen – ich frage mich nicht, was meine Arbeit in der Zukunft erwartet. Darüber nachzudenken, wäre auch unangebracht.

Kossuth: Was ist der Arbat? Warum ist er für dich „Berufung“, „Vaterland“ und „Religion“?

Okudshawa: Der Arbat ist eine alte Straße im Moskauer Zentrum. Krumm, nicht gerade schön, ohne einen Baum, aber eher moskauisch. Und was die Hauptsache ist, als Arbat bezeichnet man nicht nur die so benannte Straße, sondern auch all ihre Querstraßen. Einstmals war dies ein Stadtviertel, in dem dienstbare Leute wohnten: Köche, Zimmerleute, Ofensetzer, Pferdepfleger usw. Allmählich besiedelte der Adel diesen Teil der Stadt – seine stillen, schönen, angenehmen, gemütlichen Gassen. Der Arbat war, vor allem in den letzten hundert oder fünfzig Jahren, eine Verkörperung Moskaus, ein Zentrum des Moskauer Geistes, der Moskauer Kultur, der Moskauer Geschichte. In kultureller Hinsicht ist dies ein sehr wichtiges Stadtviertel. Und welch ein Glück wurde mir zuteil: Ich wurde im Arbat geboren, verbrachte dort Kindheit, Schulzeit und Jugend. Das ist meine Heimat.
Leider hat sich in den letzten Jahren eine verhängnisvolle Praxis eingebürgert: Entweder reißt man die alten Arbater Häuser ab und errichtet an ihrer Stelle moderne Kästen, was das Gesicht des Viertels zerstört, oder, was noch schlimmer ist, man renoviert sie von Grund auf und siedelt dabei die alteingesessenen Arbater Einwohner aus. Nach der Generalrenovierung werden die Wohnungen dieser Häuser neu vergeben, aber an andere Leute. So verlieren sich nach und nach die Arbater Atmosphäre, das Arbater Klima, die Arbater Traditionen. Der Arbat aber zeichnete sich gerade durch eigene Bräuche aus, sogar durch eine eigene Redeweise. Das war eine Art originelles Staatswesen innerhalb der Stadt. Nun verschwindet seine Bedeutung allmählich, deshalb erscheinen Züge von Trauer und Schmerz in meinen Gedichten. Eine Demontage ist im Gange. Vielleicht ist es ein normaler Prozeß, ich weiß es nicht, aber er führt zur Zerstörung von Geschichte, von Kultur. Vorgesehen ist, den Arbat in eine Art Kulturzone zu verwandeln. Das zeugt aber doch nur von Gleichgültigkeit, von Unverständnis für die Kultur. Ich glaube und bin sogar überzeugt, daß dabei nichts Gutes herauskommt. Man wird auf dem Arbat ein paar Restaurants für in- und ausländische Touristen einrichten. Man wird ihnen den gestorbenen Arbat zeigen, aber eine Arbater Atmosphäre wird es nicht geben, sie fällt dem Abriß zum Opfer. Der Arbat ist meine Heimat, mein Vaterland; der Arbat, das heißt, diese Kultur, diese Geschichte sind meine Religion, meine Liebe.
Allgemeiner gesagt, geht es um unsere nationale Kultur, unsere Geschichte insgesamt. Was bedeutet all das einem Ausländer? Was sieht er, wenn er erstmals in den Arbat kommt? Eine krumme Straße mit durchschnittlichem Verkehr, mit Geschäften – nichts Besonderes. Für mich aber, einen Arbater Bürger, ist das sehr viel mehr. Und keineswegs nur für mich. Die Unruhe um den Arbat weitet sich aus, rührt nicht nur an des Dichters Lebensnerv. Sogar Schüler von heute, die in anderen Stadtbezirken von Moskau wohnen, stellen sich diesem Thema. Ein Moskauer Schüler, der über meine Lieder schrieb, hat sogar ein neues Wort ausgedacht: „Arbatschaft“, anklingend an „Brüderschaft“. „Uns verbindet Arbatschaft“, formulierte er. Und das steckt im Blut.

Kossuth: Das heißt also, diejenigen, die dir einfach Nostalgie nachsagen, haben unrecht?

Okudshawa: Nicht Nostalgie ist das, sondern Schmerz. Ich habe ein scherzhaftes Gedicht geschrieben, „Klagelied um den Arbat“. Aber was wäre daran schon scherzhaft! Es geht um ebenjenen Schmerz. Ich habe wirklich den Arbat verloren, nicht als Mieter, sondern als Persönlichkeit, und nicht nur ich. Gewiß, die Gegend, wo ich jetzt wohne, ist durchaus annehmbar, aber der Arbat geht zugrunde! Das ist mein Vaterland, in das ich nicht gelangen kann. Jemand hat mir geraten, ich solle denjenigen aufsuchen, der alles ausgedacht hat, und ihm meine Beschwerden vortragen. Aber wo ist er, dieser Mensch? Wer kennt ihn? Längst gibt es ihn nicht mehr. Und worüber soll ich mich beschweren?

Kossuth: Du sprichst selbst von einem „vielleicht normalen Prozeß“; geht es also nicht vor allem darum, sich der Kontinuität menschlichen Lebens bewußt zu sein und bei allen unvermeidlichen Veränderungen die von Generationen hervorgebrachten geistigen Werte zu bewahren?

Okudshawa: Ein „normaler Prozeß“, das wäre die Zerstörung des Überlebten, Überholten – nicht der Geschichte. Das ganze Geheimnis besteht darin, herauszufinden, was veraltet ist und worauf wir stolz sein müssen. Der Mensch mit seinen Schwächen, einer oftmals ungenügenden Kultur, mit seiner Hast und seiner Selbstsicherheit kann das nicht immer richtig beurteilen. Es bedarf einer umfassenden Beratung, eines Streitgesprächs, der Argumentation. Wer hätte dazu schon Lust! Es ist leichter, zu zerstören, zu vernichten – und das als normalen Prozeß zu bezeichnen.

Kossuth: Die These, daß sich für dich Lied und Prosa nicht prinzipiell unterscheiden, hast du wohl bekräftigt, indem du dein Credo als Romancier in einem Lied formuliert hast?

Okudshawa: Das war eine lustige Geschichte. Eine seriöse Zeitschrift für Literaturkritik hatte einige Moskauer Literaten gebeten, mitzuteilen, was sie über die Psychologie des eigenen Schaffens denken: wozu sie schreiben, für wen und so weiter. Da es mir aber ungehörig vorkommt, die eigene Arbeit in aller Öffentlichkeit ernsthaft zu analysieren, habe ich versucht, die Frage in humoristischen, ironischen Versen zu beantworten. Natürlich erwies sich mein Gedicht für die Intentionen der Zeitschrift als ungeeignet. Ich war nicht akademisch genug. Nach einer Weile gelang mir auch die Musik zu diesen Versen. Jetzt scherze ich gerne, ich sei in der Geschichte unserer Literatur der erste, der einen singbaren Aufsatz geschrieben hat.

Kossuth: Du hast dich aber auch sonst in verschiedenen Genres versucht: dem Roman Der arme Awrossimow oder Die Abenteuer eines Geheimschreibers war ein Stück voraufgegangen, das schon den Dekabristen gewidmet war, du hast Filmszenarien verfaßt, und viele deiner Lieder singt man in Stücken und Filmen anderer Autoren.

Okudshawa: Von Haus aus bin ich überhaupt kein Dramatiker. Die Natur hat mir diese Gabe vorenthalten. Mit fiel es immer sehr schwer, Szenarien auszuarbeiten, und wenn ich sie schrieb, so vorwiegend des Geldes wegen. Freilich hatte ich Glück, denn mir standen dabei sehr interessante Regisseure zur Seite. Mein Anteil war rein literarischer Art. Das dramatische Gerüst, alle diese Schürzungen des Knotens, Höhepunkte und Lösungen wurden nicht von mir erdacht, und das erleichterte meine Arbeit. Außerdem kamen die Filme, an deren Drehbüchern ich mitwirkte, fast ohne Lieder aus. In einem einzigen gab es ein Lied als eine Art unterlegtes Motiv, das ist alles. Später, als ich mit meinen Liedern mehr oder weniger bekannt geworden war, wandten sich Regisseure an mich mit der Bitte, ich solle für sie ein Lied machen. Manchmal schrieb ich etwas „auf Bestellung“, aber das geriet immer schlecht. Hauptsächlich ließ ich sie aus schon vorhandenen, aber noch nicht verbreiteten Liedern auswählen; wenn die zu einem Film oder Stück paßten, verkaufte ich sie mit Vergnügen. Es kam auch vor, daß ich ein Gedicht verfaßte, die Musik dazu aber er lieferte mein alter Freund Isaak Schwarz, ein vortrefflicher Komponist. Ein einziges Mal ist mir ein Lied „auf Bestellung“ richtig gelungen, mit Text und Musik, das war zum Film Belorussischer Bahnhof. Natürlich, hätte nicht der ausgezeichnete Alfred Schnitke noch mit Hand angelegt, dann würde es nicht so klingen.

Kossuth: Bei dir gibt es sehr viele Widmungen; wie kommt das?

Okudshawa: Während ich ein Gedicht schreibe, denke ich nie daran, es jemandem zu widmen. Hat es dann die Aufmerksamkeit meiner Freunde geweckt, so beglücke ich mich selbst, indem es ihnen zueigne. Ich mache das gern, und deshalb gibt es bei mir viel Widmungen. Als ich das Lied „Abschied von der Neujahrstanne“ geschrieben hatte und es in einem Freundeskreis lobte mich als erste meine Freundin Soja, also bekam sie es verehrt. Manche gaben mir danach zu verstehen, sie wüßten um unsere intimen Beziehungen. Das war sehr lustig. Vor vielen Jahren habe ich das „Lied über Wanja Morosow“ verfaßt. Kaum hörte es der Dichter Alexander Meshirow, da rief er: „Das ist doch über mich!“ Natürlich habe ich es ihm gewidmet. Einst bestritt ich ein großes Abendprogramm. Zuletzt war ich gerade im Begriffe, erstmalig das Lied „Laßt uns unter lauten Zurufen einander bewundern“ zu singen. Plötzlich bemerkte ich im Saal, in einer der vorderen Reihen, Juri Trifonow. Und schon verkündete ich, das neue Lied sei meinem anwesenden Freund Trifonow zugeeignet. So entspringen alle diese Widmungen impulsiven Entscheidungen, vielleicht beziehen sie gerade daraus einen geheimen Reiz.

Kossuth: Auch die Widmung für Bella Achmadulina entstand so impulsiv?

Okudshawa: Bella Achmadulina bildet in dieser Hinsicht eine Ausnahme. Bei ihr gibt es ein Gedicht mit einer Verszeile, in der sie bei Lesungen immer den Diphtong „ei“ dehnte: „… und die kle-e-e-i-i-i-nen Flugzeuge wie kle-e-e-i-i-i-ne Salomos…“ Als ich mein Gedicht geschrieben hatte, stand darin die Zeile: „der Hoffnung kle-e-e-i-i-i-nes Orchester“. Ich erinnerte mich an Bellas Vortrag und wollte, daß mein Gedicht mit ihr verbunden bleibt. Alles Assoziationen!

Kossuth: Ob zufällig oder nicht, jedenfalls verraten die Widmungen, wer dir nahesteht; gilt dies auch für eine literarische Verwandtschaft?

Okudshawa: Ich widme meine Gedichte keinen Leuten, die mir fremd sind, und deren gibt es viele. Dabei geht es mir weniger um das literarische Profil des Betreffenden als um seine menschliche Qualität. Wenn aber persönliche und poetische Übereinstimmung zusammentreffen, was könnte schöner sein?

Kossuth: Neben namentlichen Widmungen gibt es bei dir viele Lieder „über“ jemanden: „Lied über Mozart“, „Lied vom Maler Pirosmani“ und so weiter. Was fesselt dich zum Beispiel an Pirosmani – seine Persönlichkeit oder sein Thema des „kleinen Mannes“?

Okudshawa: Beides. Ich liebe die Primitiven, Pirosmani aber ist ein tragischer Primitiver, der seine Tragödie in den Ausdruck der Freude kleidet. Das ist sehr interessant.

Kossuth: „Warum soll man kein Märchen erfinden?“ schreibt Rimma Kasakowa in einem dir gewidmeten Gedicht. Tatsächlich spielt das Märchenhafte, Phantastische eine immer größere Rolle in deinen Gedichten, deinen Liedern; wie kommt das?

Okudshawa: Es fällt mir schwer, darauf zu antworten. Das gilt ja auch für die Prosa. Manchmal sieht etwas aus wie Phantastik, und in Wahrheit? Keine Spur von Phantastik. Schipow2 zum Beispiel gelangt durch die geschlossene Tür ins Zimmer, aber so scheint es doch nur dem verschreckten Beamten. Schipow ist überhaupt sehr gewitzt, dringt überall ein, da kann schon der Eindruck entstehen, ihm wäre alles möglich. Oder nehmen wir sein Gespräch mit den Wölfen. Er ist doch arg betrunken! Versuch’s mal und trink ebensoviel, prompt wirst auch du dir einbilden, ein Gespräch mit Wölfen zu führen. Da geschehen keine Wunder, alles ist durchaus real.
Nicht anders verhält es sich mit dem „Alten Jackett“ und in anderen Gedichten. Es mutet an wie Phantastik, dabei… Ich hoffe wirklich… Wie soll ich das nur erklären! Ich hoffe, wenn man mir das alte Jackett ändert, wird sie sich vielleicht wieder in mich verlieben, und alles wird gut; dabei ist es doch lächerlich, daran zu glauben, und was hat es schon mit dem Jackett zu tun! – Überhaupt, ich mag keine phantastische Literatur, das ist nicht mein Metier.

Kossuth: Du meinst hier utopische Werke, aber Phantastik nach Art Bulgakows?

Okudshawa: Bulgakow, das ist etwas anderes. Vor allem aber schätze ich Hoffmann. Er ist einer meiner Lehrer. Nur sehe ich auch bei ihm keinerlei Phantastik. Er ist Philosoph. Und all die wundersamen Verwandlungen sind äußerliche Attribute, Umstände. Hoffmann hat mir viel zu sagen über eigentliche Lebensfragen, und das bewegt mich. Ihn verstehe ich. Ob aber wirklich eine Frau aus Holz und Eisen und Bindfäden, ob eine Puppe sich verlieben kann, ist denn das so wichtig? Ich kenne genug lebendige und bezaubernde Frauen, die doch nur Puppen sind. Wenn aber jene wirkliche Puppe zu lieben vermag, das ist doch geradezu Material für einen Forscher!
Es gibt sozusagen reine Phantastik; sie nimmt Zukünftiges vorweg, versucht es jedenfalls. Auch sie hat ein Recht zu existieren. Aber stellt sie denn Kunst dar, wenn nicht gegenwärtiges Leid sie beseelt, wenn sie Selbstzweck ist statt Mittel zum Zweck? Nehmen wir einen Schriftsteller, der einen historischen Helden gestalten will. Er hat ihn sorgfältig studiert, hat ausführlich sein Aussehen und seine Handlungen beschrieben. Na und? Das wäre eine gute Illustration, aber doch kein Gegenstand von Literatur und Kunst. Hat er sich aber eine authentische Gestalt vorgenommen und ihr sein eigenes Feuer, das Feuer seiner Zeitgenossen eingegeben (natürlich, ohne Realien zu verfälschen), so kann das schon erregen. Mag das Porträt sogar ungenau sein – wer weiß denn bis ins letzte Detail, wie es richtig wäre? Dafür lebt die Figur. Man kann mit ihr Zwiesprache halten, streiten, kämpfen. Man kann sie lieben oder zum Teufel schicken.

Kossuth: Dann wäre also auch das Lied „Nächtliches Gespräch“ weder Märchen noch Phantastik?

Okudshawa: Aber natürlich. Keinerlei Phantastik. Es drückt meine Stimmungen aus, meinen Schmerz, den Zusammenbruch meiner Illusionen, mein Streben nach dem Ideal, das doch immer unerreichbar bleibt. Weißt du, mir macht das Schreiben Spaß, wenn Einfälle kommen, wenn ich spüre, daß ein Geheimnis im Spiel ist. Ich sage etwas und verstehe es nicht, aber in mir hat sich etwas aufgestaut, das heraus will. Warum sind es diese Worte und keine anderen? Ich begreife das selbst nicht. Das heißt, ich weiß es, fühle es, aber zunächst ist das nicht erklärbar. Und plötzlich kommt eine Zeit, da wird alles klar. In allem ist Harmonie und Unentbehrlichkeit. Aber das sieht man erst hinterher. Nehmen wir das Lied „Noch eine Romanze“. Da geht es in einer Zeile um das „Bild einer schönen Dame“. Was für einer Dame? Wo kommt sie her? Mir floß die Zeile so aus der Feder, und fertig! Aber vermutlich verbirgt sich etwas dahinter, eine nostalgische Sehnsucht nach etwas Wunderbarem. Sie hat nach diesen, genau diesen Worten verlangt. Wie aber soll ich das erklären?

Kossuth: Mögen die Okudshawa-Forscher analysieren, wie sich in deinem Schaffen zu verschiedenen Zeiten die Frau darstellt. Aber einst hat doch schon ihre unverhüllte Anrufung polemisch geklungen? „Dieses Weib! Ihr Anblick macht mich stumm.“

Okudshawa: Ja, heute ist es lächerlich, davon zu sprechen. Aber damals, vor fünfundzwanzig, siebenundzwanzig Jahren galt es beinahe als unanständig, in einem Lied das Wort „Frau“ zu verwenden. Möglich war: „Mädchen“, „Mädels“. Es gab kein Verbot, von selbst hatte sich das eingebürgert. Und die Gitarre galt als ein anrüchiges Instrument. Nicht die klassische Gitarre, sondern die gewöhnliche, auf der man ein lyrisches Lied begleitet. Positive Helden im Film sangen in der Regel zum Klavier oder zur Harmonika, zur Gitarre hingegen meist nur deklassierte Elemente, NÖP-Leute, Schieber – irgendwelches Pack. Über mich sagte man achselzuckend, ein ernsthafter Dichter stelle sich nicht mit der Gitarre auf die Bühne. Selbst heute noch, wo dies längst niemanden mehr aufregt und zur Gewohnheit geworden ist, verstehen einige meiner Kollegen, vor allem in Georgien, nicht, wie ein Dichter sich dazu herablassen kann, seine Verse zu Gitarrenbegleitung zu singen. Soviel zur Geschichte. Und plötzlich: „Eure Majestät, schöne Frau“! Wie banal, wie spießig, wie abscheulich! Vor allem einige Komsomolfunktionäre haben mich attackiert. Jetzt sind sie Gott sei Dank mit anderen Problemen beschäftigt, für mich bleibt da keine Zeit, und viele von ihnen haben auch ihren Standpunkt geändert.

Kossuth: Heute verblüffst du also niemanden mehr mit der Gitarre und niemanden mit einem Lied an die personifizierte Weiblichkeit. Verändert haben sich wohl auch Ausdrucksformen, Rechte und Möglichkeiten der Liebe. Doch deine Gedichte, deine Lieder leben fort, bezaubern die Leser und Hörer – nicht zuletzt mit der Magie des Geheimnisvollen.

Okudshawa: Wir alle lernen. Das Leben lehrt. Die Zeit siebt aus. Was gestern verurteilenswert schien, ist heute Norm und umgekehrt. Meine besten Sachen sind lebendig geblieben, die schwachen sind vergessen. Und darüber hat weder der Komsomol bestimmt noch das Kulturministerium oder der Schriftstellerverband, sondern die Zeit. Und das sollten wir nicht vergessen.

(Das Gespräch fand am 28.3.1982 in Berlin statt; Übersetzung: Leonhard Kossuth)

 

Bulat Okudshawa

war schon eine Legende, noch ehe sein erstes Buch erschien. Seine Lieder erreichten auf Tonbändern jeden Winkel der Sowjetunion, fanden früh Interesse auch im Ausland. Nun gibt es viele Bücher und Schallplatten, längst steht der Romancier Okudshawa im Wettstreit mit dem Liedermacher. Aber der Wunsch, ihn zu hören, wenn er selbst zur Gitarre singt, ist darum nur noch größer geworden. Okudshawas Popularität als Liedermacher rührt daher, daß er aus Erfahrungen, Leiden, Hoffnungen und Freuden unserer Zeit schöpft. Die Schlichtheit seiner Texte, die dennoch von Zauber erfüllt sind, Geheimnisvolles aus dem Alltag einfangen, ist in Nachdichtungen schwer nachzuvollziehen. So entstand der Gedanke, einen spezifischen Zugang zu ihm mit Nacherzählungen zu suchen. Als ausgesprochener Gewinn erwies sich dann die Entdeckung von DDR-Liedermachern als Nachdichter. Und erneut zeigte sich Okudshawas Ausstrahlungskraft. Ob Kurt Demmler, Werner Bernreuther oder Joachim Christian Rau – jeder hätte am liebsten die ganze Auswahl nachgedichtet und in sein Programm aufgenommen. Martin Remané hatte schon ein komplettes Manuskript von Nachdichtungen im Schreibtisch. Und die Nacherzählungen des Herausgebers, Adolf Endler zur Begutachtung vorgelegt, inspirierten diesen zu einer Sammlung eigener Adaptionen. So hat Okudshawas Gespräch mit den Lesern dieses Buches begonnen, noch ehe es erschienen ist.

Verlag Volk und Welt, Klappentext, 1985

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLfG + Kalliope
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Bulat Schalwowitsch Okudschawa Konzert in Brno am 27.10.1995.

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