Christa Vaerst-Pfarr: Zu Nelly Sachs Gedicht „DAS IST DER FLÜCHTLINGE…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Nelly Sachs Gedicht „DAS IST DER FLÜCHTLINGE…“ aus Nelly Sachs: Fahrt ins Staublose.

 

 

 

NELLY SACHS

DAS IST DER FLÜCHTLINGE Planetenstunde.
Das ist der Flüchtlinge reißende Flucht
in die Fallsucht, den Tod!

Das ist der Sternfall aus magischer Verhaftung
der Schwelle, des Herdes, des Brots.

Das ist der schwarze Apfel der Erkenntnis,
die Angst! Erloschene Liebessonne
die raucht! Das ist die Blume der Eile,
schweißbetropft! Das sind die Jäger
aus Nichts, nur aus Flucht.

Das sind Gejagte, die ihre tödlichen Verstecke
in die Gräber tragen.

Das ist der Sand, erschrocken
mit Girlanden des Abschieds.
Das ist der Erde Vorstoß ins Freie,
ihr stockender Atem
in der Demut der Luft.

 

Nelly Sachs: Das ist der Flüchtlinge Planetenstunde

Da in der Forschung zum Werk von Nelly Sachs die Auffassung vertreten wird, die Bedeutung der Gedichte sei – wegen der Tendenz ihrer Chiffren zu absolut gesetzten, semantisch erweiterten Zeichen – weniger durch eine Einzelinterpretation, sondern eher über den Vergleich mit motivverwandten Stellen zu erschließen (Kersten, S. 233ff., 357; Holzschuh, S. 354), bedarf der hier vorgelegte Versuch der Interpretation eines Gedichts – ohne voreilige Flucht in den Parallelstellenvergleich – einer methodischen Rechtfertigung. Zwischen der stark ausgeprägten Geschlossenheit eines lyrischen Textes als einer formal-ästhetischen Einheit und der Offenheit des Systems semantischer Konnotationen, die durch den Entwurf des einzelnen Motivs auf den Hintergrund der parallelen Stellen erzeugt wird, besteht zwar eine Spannung; aber diese darf nicht vorschnell durch die Festlegung auf eine Methode – Parallelstellenvergleich oder Einzelinterpretation – aufgelöst werden. Vor allem die voreilige Flucht in den Parallelstellenvergleich verbietet sich vor dem Anspruch eines jeden Kunstwerks – und besonders des modernen, absoluten Gedichts –, den Gehalt in der Form zu repräsentieren (Benn, S. 507f.). Der Erkenntnis folgend, daß die ,Aussage‘ moderner Poesie sich in die Form verlagert hat, daß das Eigentliche der Dichtung nicht mehr die motivische, sondern die formale Erfindung ist (Friedrich, S. 152, 162), soll der Schwerpunkt der Interpretation auf die Analyse der Form des Gedichts und der Metaphern gelegt werden und die Form als Funktion der Aussage des Gedichts begriffen werden.
Das Gedicht folgt der Tendenz der modernen Lyrik, auf ein vorgeprägtes metrisches oder strophisches Muster sowie auch auf eine Reimbindung zu verzichten, unter anderen Gründen wohl auch deshalb, weil die hier, aber auch in jedem anderen Gedicht von Nelly Sachs, evozierte historische Wirklichkeit des Völkermords an den Juden eine solche Ästhetisierung nicht vertrüge. Dieser Wirklichkeit, der Nelly Sachs als die „Dichterin jüdischen Schicksals“ – so der Untertitel der 1974 erschienenen Monographie Berendsohns – ihre Dichtung verschreibt, wird eher gerecht ein stockender, immer wieder neu einsetzender und wieder gestauter Sprachfluß. Die Pausen sind sehr ungleichmäßig verteilt: Ein Kolon kann zwei Silben (3, 5, 7, 8, 10), aber auch vierzehn Silben (2f.) umfassen. Auch die Abschnitte sind von unterschiedlicher Länge. Die Versgrenzen haben zumeist die Funktion, zusammengehörige grammatische Konstruktionen, besonders die Substantive von ihren Attributen, zu trennen (2, 4, 6, 7, 8, 9, 16). Dieses gewaltsam wirkende Auseinanderreißen von Sinnzusammenhängen wie auch das Phänomen, daß der letzte Vers eines Abschnitts immer kürzer ist als der Anfangsvers, versinnlicht das nach jedem längeren Ausholen einsetzende Nachlassen der sprachlichen Aktivität.
Diese Unregelmäßigkeit eines einmal weit ausholenden, dann aber stockenden Sprachflusses wird jedoch aufgefangen und verdeckt durch die formelhafte und monotone anaphorische Wiederholung des Satzanfangs und durch das simple syntaktische Schema asyndetisch aneinandergereihter Aussagesätze. Der zeigende Gestus des litaneihaft wiederholten „Das ist“ suggeriert ein Gegenüber, auf dessen Fragen das Gedicht eine Antwort zu geben scheint. Es ist jedoch kennzeichnend für die monologische Prägung moderner Lyrik (Benn, S. 502f.; Celan, S. 143f.), daß das fragende Gegenüber ausgeschlossen bleibt; es ist jedoch gleichermaßen charakteristisch für die Lyrik von Nelly Sachs, daß sie dennoch auf ein Du gerichtet ist, entweder indem – wie in dem vorliegenden Gedicht – die syntaktische Form ein fragendes Du impliziert oder indem – wie an anderen Stellen – zahlreiche Metaphern den Themenkomplex der innigen Verbindung zwischen dem Ich und dem durch den Tod entrückten Du evozieren. Solche Metaphern sind Ausdruck der durch die Dichtung erstrebten Gemeinsamkeit mit den Toten (Vaerst, S. 142f., 161). Die deiktische Haltung und das litaneihafte Wiederholen bloß protokollhaft feststellender, identifizierender Aussagen deuten aber auch auf den Rückzug des Ich aus seiner Funktion, die andrängenden Bilder in einen logisch-diskursiven und anschaulich nachvollziehbaren Zusammenhang zu ordnen. Dies ist ein formal-stilistisches Äquivalent für die weltverlorene Abkehr des sprechenden Ich von der Wirklichkeit hin zu den hypertrophen, aus dem Bereich der „inneren Augenstraßen“ (Fahrt ins Staublose, S. 331) stammenden Visionen.
Der Blick auf das Wortfeld erlaubt erste Hypothesen, die als Leitfaden der Interpretation dienen sollen. Auffallend ist die große Zahl von Wörtern aus dem Bereich der Bewegung und des Todes, die sich – wie „Flüchtlinge“, („reißende“) „Flucht“, „Fallsucht“, „Tod“, „Eile“, „Jäger“ und „Gejagte“, „Verstecke“, „Gräber“, „Abschied“ und „Vorstoß ins Freie“ – um den Gedanken der Flucht, der Verfolgung und des Todes gruppieren. Die Bildelemente „Planetenstunde“, „Sternfall“, „erloschene Liebessonne“ und „Erde“ blenden in diesen Vorgang der Verfolgung astronomische Begriffe ein. Diese Kombination von Bildelementen aus der Zeitgeschichte mit Motiven aus dem astronomischen Bereich projiziert menschliche und historische Ereignisse auf den Hintergrund kosmischer Vorgänge. Der Vision eines solchen Zusammenhangs widerspricht jedoch die sprachlich bestimmte Form einer stereotypen Einleitung mit einer deiktischen Geste. Diese Spannung zwischen der sprachlichen Determination und der Irrealität des damit Bezeichneten tritt prägnant hervor und erhält die Funktion, auf die Abkehr von der Ebene der Beobachtung und auf den imaginären und visionären Charakter der Bilder zu verweisen, die aber eine eigene Wirklichkeit – höherer Art – beanspruchen. Dies zeigt eine Formulierung an anderer Stelle:

Wirklichkeit
der Visionen
(Fahrt ins Staublose, S. 382; Vaerst, S. 113).

Gemäß dieser – für die Dichtung von Nelly Sachs typischen – Verschränkung von menschlicher Leiderfahrung und kosmischen Vorgängen ist die Metaphorik – nicht nur des vorliegenden Gedichts – geprägt von dem Umschlag aus dem „visionären Realismus des Schmerzes […] in eine religiöse Erlösungsbotschaft“ (Rey, S. 278).
Schon im ersten Abschnitt verschränken sich Bildelemente des Geschichtlich-Konkreten mit religiöser Deutung. Einerseits werden mit „Flucht“ und „Tod“, die durch die Endstellung im Vers in enge Beziehung zueinander gerückt werden, und mit „Fallsucht“ Zeichen der Vergänglichkeit und des Verfalls der physischen Welt gesetzt: So fügt sich das Gedicht in den Kontext des Zyklus „Von Flüchtlingen und Flucht“ und den Motivkomplex des Fallens in Tod und Wahnsinn (Bezzel-Dischner, S. 41ff.). Andererseits wird aber auch durch die Genitivmetapher „der Flüchtlinge Planetenstunde“ das Motiv der Flucht – und des Todes – umgewertet zu dem Kairos eines Schicksals, das sich in Übereinstimmung mit den kosmischen Gesetzen erfüllt (vgl. Bahr, S. 140f.). Der mystisch-kabbalistische Gedanke wird hier angedeutet, daß der Tod zugleich der Ort eines neuen Anfangs, einer neuen Geburt, einer „gesteigert verstandenen Genesis“ ist (Allemann, S. 295ff.), weil durch den Tod und die Vernichtung die Geschöpfe sich ihrem Ziel – der Auflösung ins Immaterielle und der Rückkehr in den Ursprung zu Gott – nähern (Bahr, S. 96).
Der zweite Abschnitt führt die polaren Bereiche astraler und anthropomorpher Metaphorik noch enger zusammen, indem als Subjekte der Absturzbewegung nun nicht mehr die Flüchtlinge, sondern die Sterne fungieren. Der – kosmischen – Fluchtbewegung wird jedoch in dieser Versgruppe entgegengesetzt das Verhaftetsein alles Geschöpflichen in der physisch-materiellen Existenz, für die stellvertretend die Bildelemente „Schwelle“, „Herd“ und „Brot“ genannt werden. Das Abstraktum „Verhaftung“ evoziert den Motivkomplex des Saugens der Erde und erinnert daran, daß in der Chiffrensprache von Nelly Sachs das Gravitationsgesetz der Erde die erlösende Fluchtbewegung in die „Wohnungen des Todes“ – so der Titel des ersten, 1946 veröffentlichten Zyklus – hemmt (Bezzel-Dischner, S. 38).
In der dritten Versgruppe verengt sich die Perspektive auf die irdische Leiderfahrung. Während in den ersten beiden Abschnitten das historische Geschehen in kosmische Bereiche transponiert und so zum Kairos eines Erlösungsgeschehens erhöht wird, dominieren in diesem Abschnitt die Metaphern, die das Grauen des historischen Geschehens suggestiv vergegenwärtigen, ohne es zu nennen. Durch die Kombination von „Apfel“, „Blume“ und „Jäger“ mit den Abstrakta „Angst“, „Eile“, „Nichts“ und „Flucht“ wird organisches – und menschliches – Leben mit den Attributen der Nichtigkeit und Vergänglichkeit versehen. „Erloschen“ und „schweißbetropft“ stehen ebenfalls für die Vergänglichkeit des Materiellen und physisches Leiden, während „schwarz“ durch die in den Gedichten von Nelly Sachs häufig anzutreffende Kombination mit Bildelementen wie „Abschied“ und „Blut“ als ein semantisch erweitertes Zeichen den Akt des Tötens andeutet (Kersten, S. 243ff.; Vaerst, S. 55ff.). Dem gleichen Themenkomplex ist auch das Wort „raucht“ zuzuordnen; das durch den Vergleich mit parallelen Stellen – etwa mit den frühen Versen über „Israels Leib […] aufgelöst in Rauch“ (Fahrt ins Staublose, S. 8) – zum semantisch polyvalenten Zeichen für den Völkermord wird. Wo der Akzent sich – wie in diesem Abschnitt – verlagert auf die geschichtliche Leiderfahrung, wird die Form zum Äquivalent für das innere Erleben, das den Sprachfluß noch stärker aufstaut und die Syntax noch deutlicher zerstückt als in den anderen Abschnitten: Die Zäsuren nach der zweiten oder dritten Silbe wie auch die Verkürzung der Sätze auf eine Länge von höchstens eineinhalb Versen erzeugen geradezu stakkatohaft wirkende Unterbrechungen im Fluß von Rhythmus und Syntax.
Während im vierten Abschnitt mit dem dominierenden Wortfeld des Todes und der Verfolgung das historische Geschehen noch einmal suggestiv vergegenwärtigt wird, überrascht der Umschlag in der fünften und letzten Versgruppe hin zu Bildelementen, die – wie „Girlanden“, „Vorstoß ins Freie“ und „Demut“ – Hoffnung andeuten. Die Fluchtbewegung, deren leidvolle Erfahrung noch in „erschrocken“, „Abschied“ und „stockend“ nachklingt, wird umgewertet zu einem „Vorstoß“ fort aus den Fesseln irdischer Not und aus der „magischen Verhaftung“ hin zu einer jenseitigen Freiheit.
Diese Bewegung des Transzendierens verbindet sich im Werk von Nelly Sachs zumeist mit der Vorstellung des Auffliegens oder Aufsteigens von einem festen Körper in ein unkörperlicheres Element, etwa im Bild des Schmetterlings (Hamburger, S. 57), aber auch mit der Vorstellung einer Verwandlung des Irdisch-Vergänglichen in Licht und Musik (Dischner, S. 110f.). Der mit dieser Bildlichkeit verbundene Gedanke einer Erlösungsbewegung im Sinne einer durch den Tod ermöglichten Rückkehr ins Immaterielle wie auch der Seilzug in der Lyrik von Nelly Sachs, den paradoxen Umschlag von Tod in Geburt als Verhältnis von Statischem und Dynamischem zu konzipieren, prägt auch die letzten Verse dieses Gedichts. Der Tod wird häufig mit „statischen“ Metaphern wie Schlaf, Starre, Versteinerung, Eis, Schweigen und Vergessen verknüpft, die Geburt wird dagegen mit „dynamischen“ Bildelementen wie Wachen, Tanz, Sprung, Schweben, Fliegen, Sprache, Erinnern, Musik, Wind, Atem und Hauch assoziiert (Dischner, S. 112). So geben auch die Schlußverse dieses Gedichts der Hoffnung auf eine durch Leiden, Flucht und Tod ermöglichte neue Geburt in den dynamischen Bildern „Vorstoß ins Freie“, „Atem“ und „Luft“ Ausdruck, die zudem Grenzzustände des Materiellen kennzeichnen. Da diese Bewegung des Transzendierens und der „entmaterialisierenden Verwandlung“ (Kersten, S. 38f.) nur nach der Auflösung der physischen Existenz im Tod möglich ist, sind nunmehr Begriffe getilgt, die – wie „Flüchtlinge“, „Jäger“ und „Gejagte“ – auf Menschen als Träger des Geschehens verweisen. An ihre Stelle tritt die alle Grenzen verwischende Verschränkung anthropomorpher Elemente („Abschied“, „Atem“ und „Demut“) mit Elementen, die dem Bereich der unbelebten Materie angehören („Sand“, „Erde“ und „Luft“). Die Erde hat demnach nicht nur am Leid der Erdbewohner teil (Hamburger, S. 55), sondern auch an der erlösenden Verwandlung alles Geschöpflichen ins Immaterielle. Dieser Ausklang nimmt eine an späterer Stelle gestaltete Vision eines befriedeten Zustands der Schöpfung vorweg:

Wie leicht
wird Erde sein
[…]
wenn als Musik erlöst
der Stein in Landsflucht zieht
(Fahrt ins Staublose, S. 256). 

Die Deutung, in der Dichtung von Nelly Sachs seien das menschliche Geschehen und die historische Leiderfahrung kosmisch erweitert, um die Unmittelbarkeit des Erlebens ins Allgemeine zu erheben und das Unsagbare sagbar zu machen (Bezzel-Dischner, S. 45), ist jedoch sicherlich nur ein Aspekt. Er muß ergänzt werden durch den Hinweis auf die jüdisch-kabbalistische Vorstellung einer kosmischen Bewegung aller Kreatur zurück zu ihrem Ursprung in Gott und auf den mit dieser Vorstellung verbundenen Glauben, daß in allem Materiellen eine geistige Kraft enthalten sei, die sich nach Erlösung durch die Rückkehr aus dem Exil der physischen Existenz sehnt (Bahr, S. 88ff.). Die in diesem Mythos lebendige paradoxe Umwertung der Vernichtung alles Geschaffenen zu einem Akt der Befreiung aus den Fesseln irdischer Not und die – auch an barocke Lebenshaltung erinnernde – Entwertung des Irdischen gegenüber der Sehnsucht nach der Rückkehr zum Ursprung (Rey, S. 285; Dischner, S. 110) sind Gedanken, die nicht nur in der Kabbala, sondern auch in dem alttestamentlichen Bericht vom Auszug aus Ägypten und in der historischen Erfahrung des Exils verwurzelt sind.
Die – am Beispiel dieses Gedichts aufgezeigte – Bindung der Dichtung von Nelly Sachs an die jüdische Tradition und Geschichte fordert noch einige abschließende Bemerkungen zu der Absolutheit ihrer Chiffrensprache. Es dürfte deutlich geworden sein, daß sie nicht als Ausdruck eines ästhetisch-unverbindlichen Spiels verstanden werden darf. Es muß aber dem Vorwurf begegnet werden, die metaphorische Struktur des lyrischen Werks von Nelly Sachs sei bestimmt durch die „offenkundige Diskrepanz zwischen der extremen Subjektivität des Affekts und seiner im Wort nur annäherungsweise geleisteten Konkretisierung“ (Kersten, S. 358). In der Form der Metaphern kann und muß ihr Sinn erkannt werden; denn in der Dichtung von Nelly Sachs wird die Sinnhaftigkeit der absoluten Metaphern an vielen Stellen poetisch reflektiert. In den Motiven des Sternbilds und des – oft blutigen – Leuchtens als Metaphern für das sprachlich Erzeugte zeigt sich zum einen der Anspruch auf eine – weltentrückte – Absolutheit, zum anderen aber auch der Anspruch auf die im Medium der Sprache zu verwirklichende Objektivation der Todes- und Leiderfahrung (Vaerst, S. 95). Auch figurale Metaphern – „Umriß“, „Ring“, „Figur“ – im Kontext von Sprachmetaphern sind mehrdeutig. Sie verweisen einerseits auf die der Chiffrensprache von Nelly Sachs innewohnende Tendenz zur Abstraktion und Entstofflichung. Sie zeigen andererseits durch den Kontext des Todes, in dem sie häufig begegnen, daß die Absolutheit der Metaphern auch für den Versuch steht, gegen die reale Welt der Unmenschlichkeit eine poetische Gegenwelt aus der Kombination von Bildelementen zu schaffen. Indem der dichterische Schaffensakt und die geschaffene Form zudem unter die Forderung der Identifikation mit dem vergangenen Leiden der Verfolgten gestellt wird, zeigt sich die Bindung der dichterischen Phantasie an die in der Sprache zu verwirklichende Beziehung zum verlorenen Du, weshalb die Dichtung sich dem Gegenständlichen entziehen muß (Vaerst, S. 140ff.). Auch das am Beispiel des vorliegenden Gedichts beobachtete Verfahren, vieldeutige Metaphern zu summieren und stereotyp mit einer deiktischen Geste einzuleiten, erweist sich als Ausdruck einer Sichtweise, die gegen die Realität der Unmenschlichkeit eine poetische Gegenwelt schafft. Die Autonomie der Kunst als Möglichkeit, um nach Auschwitz noch ein Gedicht schreiben zu können? Da die Opfer ein Recht auf Ausdruck, auf Erinnerung in der Dichtung haben, wie auch Adorno zugestanden hat (vgl. Bahr, S. 79), ist dies wohl nur möglich auf dem Wege, der Sprachform die Stigmata des Leidens einzuprägen. Wie die zahlreichen sprachreflexiven Metaphern im Werk von Nelly Sachs und auch der von ihr überlieferte Ausspruch, ihre Metaphern seien ihre „Wunden“ (Dischner, S. 108), beweisen, will ihre verrätselte und vieldeutige Chiffrensprache in diesem Sinn verstanden werden. 

1

Christa Vaerst-Pfarr, aus Walter Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Band 6 Gegenwart, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1982

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00