Conrad Miesen: Zu Peter Horst Neumanns Gedicht „Eich“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Peter Horst Neumanns Gedicht „Eich“ aus Peter Horst Neumann: Pfingsten in Babylon. –

 

 

 

 

PETER HORST NEUMANN

Eich

Alles war aufgeklärt,
die Analyse der Schönheit
abgeschlossen. Ein kalter
Wahrspruch hatte den Himmel
entlaubt, auf jedem Blatte
las er die Lehre
vom unfreien Fall.

Schwermut sein Mut,
sein Übermut. Die Trauer
hielt ihm ein Sieb vors Gesicht:
Loch neben Loch, die schönen
Zusammenhänge der Welt.

 

Der stille Anarchist

Im Jahr 1981 brachte der Germanist Peter Horst Neumann (zur Zeit Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Erlangen) sein aufschlussreiches Buch Die Rettung der Poesie im Unsinn. Der Anarchist Günter Eich heraus.
Diese Analyse des Spätwerks von Eich enthält als eine Art Motto das Gedicht „Eich, Günter“, welches sehr wahrscheinlich zur Zeit der Niederschrift der Abhandlung entstanden ist.1

Der alte Günter Eich tritt uns in diesem Gedicht entgegen. Ihm geht es nicht mehr um SCHÖNHEIT, sondern nur noch um enthüllende, ätzende Wahrheit.
Wie heißt es in Eichs Hörspiel Festianus, Märtyrer so frappierend:

In die Gewißheit geführt und es ist ein wüster Ort. (Günter Eich: Gesammelte Werke, Bd. III, S. 1.113 unten)

NATUR ist jetzt nicht länger Ort der Idylle und Geborgenheit oder Gegenstand von magisch-mystischer Betrachtung. Sie wurde ihres Geheimnisses beraubt und zeigt sich nur noch determinierend.

… auf jedem Blatte
las er die Lehre
vom unfreien Fall.
(Peter Horst Neumann; Zitatnachweis s.o.)

Als expliziter Vergleichspunkt zu dieser Stelle bietet sich Günter Eichs Gedicht „Ode an die Natur“ aus seinem Zyklus „Lange Gedichte“ an. (Günter Eich: Gesammelte Werke, Bd. I, S. 167)
Schon der Titel des Zyklus wie auch der dieses Einzel-Textes demonstrieren die Ironie und Kauzigkeit des alten Eich. Alle Gedichte dieses Zyklus haben eine Länge im Bereich von drei bis sechs Zeilen! „Ode an die Natur“ ist weder ein feierliches Gedicht nach dem Vorbild griechischer Metrik (wie es der Titel nahelegt) noch wird hier NATUR ,angedichtet‘ oder überhaupt als etwas Faszinierendes dargestellt.2 Nüchtern und skeptisch benennt der alte Eich seinen „Verdacht / gegen Forelle, Winter / und Fallgeschwindigkeit“. (Günter Eich, ebenda)
An diesem Gedicht lässt sich exemplarisch gleich in mehrfacher Hinsicht verdeutlichen, was Eich an der Natur verdächtig war. Die ,Forelle‘ steht für die harmlos-idyllische Betrachtungsart von Natur. (Assoziation: „Forellenquintett“; „Die muntere Forelle…“)
,Winter‘ meint das Phänomen der Vergänglichkeit, das dem Menschen (als ,Sein zum Tode‘ im Sinne Martin Heideggers) quasi mit der Geburt verabreicht wird, und ,Fallgeschwindigkeit‘ zielt auf die in und mit der Naturordnung festgeschriebenen Gesetze, denen jeder unterworfen ist.
NATUR droht permanent mit Vergänglichkeit und verschlingt gewissermaßen ihre eigenen Kinder. – Schwermut und Trauer sind schließlich die Haltungen, zu denen Günter Eich Zuflucht nimmt. (vgl. Strophe 2 von Neumanns ,Eich‘-Gedicht) Doch eben jene Trauer, die Peter Horst Neumann in einem gelungenen Bild mit einem Sieb vergleicht, das vor das Gesicht gehalten wird, jene Trauer zerspaltet all jene Zusammenhänge der Welt, die sich bis dato noch in eine sinnhafte Ordnung fügen ließen. Das Adjektiv ,schön‘ der vorletzten Zeile kann unter einer solchen Perspektive nur noch als bloße Ironie gedeutet werden.
Eich hat sich ins totale Abseits der Resignation manövriert. Seine Texte, lakonisch, bitter und oft auch hermetisch, sind nur noch eine Handbreit vom Verstummen entfernt.
Man vergleiche hierzu Günter Eichs berühmte „Formeln“ als Gipfelpunkt der Lakonie (Günter Eich: Gesammelte Werke, Bd. I, die Seiten 131f., 168 und 269f.) sowie die ,Langen Gedichte‘, zu denen auch die oben kurz behandelte „Ode an die Natur“ gehört. (Günter Eich: Gesammelte Werke, Bd. I, S. 166f. und S. 277f.)

Conrad Miesen, aus Conrad Miesen: Flammen aus der Asche. Essays zum Werk von Günter Eich, Wiesenburg Verlag, 2003

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