Conrad Miesen: Zu Günter Eichs Gedicht „Andenken“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Günter Eichs Gedicht „Andenken“ aus Günter Eich: Botschaften des Regens. –

 

 

 

 

GÜNTER EICH

Andenken

Die Moore, in die wir gehen wollten, sind trockengelegt.
Der Torf hat unsere Abende gewärmt.
Schwarzen Staub hebt der Wind auf.
Er bläst die Namen von den Grabsteinen
und trägt uns ein
mit diesem Tage.1

 

Versuch einer Interpretation

Das Gedicht „Andenken“ findet sich in der im Jahr 1955 veröffentlichten Lyriksammlung Botschaften des Regens und ist ein gutes Beispiel für die Tendenz des ,mittleren‘ Eich, mit Hilfe von Naturmetaphern auf engstem Raum komplexe Gedankengänge und Assoziationen zu entfalten.
Beginnen wir mit dem Titel. Er enthält im Keim bereits jene Thematik, die Eich zeitlebens beschäftigte und die nicht nur in diesem Gedicht, sondern in seinem gesamten Werk vielfach variiert zu finden ist.
Ein ANDENKEN (etwa von jener fragwürdigen Art, wie Urlauber sie gern mit nach Hause bringen) ist im Grunde nichts anderes als ein Stück Vergangenheit, das in unsere Gegenwart hineinragt. Es erinnert uns an bestimmte Erlebnisse oder Vorgänge, die als solche zwar unwiderruflich vorüber sind, jedoch durch etwas Anderes (eben das Andenken) in unserer Gegenwart repräsentiert werden. Ein solches Andenken ist auch das MOOR, von dem in der ersten Zeile die Rede ist, denn es enthält die einstmals lebendigen Pflanzen nur noch als Relikt, eben in versumpfter und vermoderter Form
(Man beachte die erste Person Plural in dieser Zeile sowie im gesamten Gedicht. Hierdurch macht Eich deutlich, dass das Phänomen, von dem er spricht, nichts Singuläres und an eine bestimmte Person Gebundenes ist. Es bildet vielmehr eine Grunderfahrung, die mit dem Menschsein überhaupt gegeben ist, so dass das lyrische Subjekt hinter der Allgemeinheit dieser Erfahrung zurücktreten kann.)

Die bisher skizzierten Deutungsansätze ergeben aber unzweifelhaft (und dazu braucht man Eichs übriges Werk und dessen Intentionen gar nicht zu kennen), dass in diesem Gedicht mit Hilfe eines in sich homogenen Feldes von Metaphern das Phänomen Zeit und Vergänglichkeit zur Sprache gebracht wird.

Günter Eich war während seines ganzen Lebens (dies lässt sich aus einigen Textstellen erschließen) ein eifriger Lexikon-Leser (vgl. etwa das frühe Hörspiel-Fragment „Eine Stunde Lexikon“; Günter Eich: Gesammelte Werke, Bd. II, S. 27–45) und so sei es auch mir gestattet, wenn ich an dieser Stelle einen lexikalischen Ausschnitt zum Stichwort ,Torf‘ zitiere:

TORF: unter Ausschluß von Sauerstoff bakteriell zersetzte, kohlenstoffreiche Reste von Grasarten, Sumpfpflanzen und Moosen. Torf findet sich in Mooren mit einer Mächtigkeit von zwei bis fünf Meter. Er wird mit dem Spaten gestochen oder auch maschinell gewonnen, luftgetrocknet und in Form von Torfbriketts als Brennstoff benutzt. (Der große Brockhaus, Wiesbaden 1957, Bd. 11, S. 568)

Nachdem mit Hilfe dieses lexikalischen Exkurses der Realgehalt des Wortfeldes ,Moor – Torf – Brikett (bzw. Brennstoff) – Asche‘ sichtbar geworden ist, soll nun gezeigt werden, was diese Wörter aussagen können, wenn man sie als Metaphern im Sinne des Zeitproblems versteht.
So wie die lebenden, atmenden Pflanzen absterben und zu Torf werden, so vergehen unmerklich und unaufhaltbar unsere Stunden und Tage, die wir einmal mit Leben erfüllten, die unsere Freuden und Leiden enthielten. Suchen wir nach diesen vergangenen Zeiten (vgl. Zeile 1), so stellen wir fest, dass sie von uns selbst längst verbraucht und aufgebraucht wurden. (vgl. Ende Zeile 1 und die gesamte Zeile 2: „… sind trockengelegt. / Der Torf hat unsere Abende gewärmt.“)

Was von der Gegenwart übrig bleibt ist ein vager Erinnerungsrest („schwarzer Staub“, Zeile 3; Assoziation: Asche, Tod). Durch VERGESSEN stirbt das, was einst unsere Gegenwart erfüllte, ja was uns selbst als Subjekt ausmachte. (vgl. Günter Eich: Gesammelte Werke, Bd. I, S. 257 oben: „Vergessen, vergessen, / und die Toten sterben zum zweiten Mal.“)

Einmal auf das Vergessen aufmerksam geworden und auf den in ihm bereits Wirklichkeit gewordenen kleinen, alltäglichen Tod, wird in den letzten drei Zeilen das Motiv des leiblichen Todes (somit also der Gedanke an das Ende des Lebens und der empirischen Zeit) entfaltet. Angesichts des „schwarzen Staubs“ (Zeile 3), der von unserer Gegenwart jeweils nur übrig bleibt, antizipiert das lyrische Ich seinen eigenen Tod.

Der ,Wind‘ der Gedanken hebt den schwarzen Staub auf und trägt unseren Namen ein auf dem Grabstein des Friedhofs. (vgl. Zeile drei bis sechs)

Das bedeutet aber (um mit dem Philosophen Heidegger zu sprechen, den Günter Eich nachweislich persönlich kannte und dessen Werke er schätzte): unsere individuelle Existenz ist bereits für den Tod, für die ,Nichtung‘ des Daseins vorgemerkt und wir wissen darum existieren tagtäglich als ,Sein zum Tode‘.2 Er ragt mitten in unsere Gedanken hinein, vereinzelt unser Dasein radikal und verhilft uns, soweit wir ihn nicht verdrängen, allererst zu einer ,eigentlichen‘ Lebensweise.
Genau diese Existenz im ,Modus der Eigentlichkeit‘ ist es, die auch der „mittlere“ Eich als Ziel- und Orientierungspunkt auffasst und die viele seiner Hörspielgestalten, (vgl. etwa Das Jahr Lazertis, Brandung vor Setubal oder Die Andere und ich) erreichen, nachdem sie der ,Anruf‘ aus der eigentlichen Wirklichkeit (der Sprache ohne Laut)3 getroffen hat und sie ihre von Benommenheit‘ (im Sinn Martin Heideggers) und Verantwortungslosigkeit gezeichnete Alltagsexistenz überwinden konnten. – Was Eich in einer winzigen Notiz (aus dem Jahr 1956) festgehalten hat, läßt sich demnach als eine seiner Grundeinsichten bezeichnen und bildet auch die Quintessenz des hier interpretierten Gedichtes:

Die eigentliche Antwort ist immer der Tod. (Günter Eich: Gesammelte Werke, Bd. IV, S. 299)

Conrad Miesen, aus Conrad Miesen: Flammen aus der Asche. Essays zum Werk von Günter Eich, Wiesenburg Verlag, 2003

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