19. März

Zu den aufwühlenden Lektüren meiner frühen Jugendzeit gehörte die Zitatsammlung von Lange-Eichbaum über »Genie und Wahnsinn«. Ich erinnere mich an ein dickes, muffig riechendes Buch, das ich im Antiquariat bei Dr. Koechlin am Basler Spalenberg in 11. Auflage aufgestöbert und für zwei, drei Franken gekauft habe. Mit fiebrigem Interesse las ich dann die vom Herausgeber kompilierten »Pathografien« berühmter Leute, von Sokrates und Jesus bis hin zu Schubert und Nietzsche – zum ersten Mal begriff ich, dass »Pathos« gleich viel mit »Leid« wie mit »Leidenschaft« zu tun hat. Rousseaus Egomanie und Onanismus, Beethovens Syphilis, sein Jähzorn und seine Taubheit, Verlaines Trunksucht und seine verkappte Homosexualität – das alles und noch viel mehr wurde hier als die normale Abnormität genialer Menschen rapportiert. Ich war davon ebenso befremdet wie erleichtert: Das Genie erwies sich unversehens als ein »Mensch wie du und ich«, dies allerdings mit deutlicher Tendenz zu pathologischem, wenn nicht gar – wie im Fall von Villon oder Gesualdo – zu kriminellem Verhalten. Genie, Prophetie, Wahnsinn, Sucht, Verbrechen! Wie sollte … wie konnte das zusammenpassen? War da jemand doppelt oder mehrfach gespalten oder waren all die disparaten Qualitäten jeweils in einem … zu einem Individuum verschmolzen? Als ich mich später mit Lew Tolstoj, mit Fjodor Dostojewskij befasste, war ich über die eklatanten Widersprüche irritiert, die sich bei diesen Autoren zwischen künstlerischem Gelingen und menschlichem Versagen abgrundtief auftaten. Beim einen wie beim andern stehen Biografie und Charakter in schroffem Gegensatz zum Werk, ihr kompromissloser Humanismus erweist sich als bloße Schönrednerei angesichts dessen, was von Zeitgenossen über sie berichtet wird und was in ihren privaten Schriften zu lesen ist. Dass Tolstoj die Weltliteratur um einige ihrer stärksten Frauengestalten bereichert hat (Natascha Rostowa, Anna Karenina u. a. m.), obwohl er ein rücksichtsloser Frauenverächter war, und dass er, umgekehrt, die Künste pauschal als eitlen, realitätsfremden Kram verwarf, obwohl er doch selbst wortführend und wegweisend als Künstler engagiert war – das ist ebenso befremdlich wie Dostojewskijs Apologie des »Allmenschentums« im Kontext seiner politischen Schriften, mit denen er sich gleichzeitig als militanter Imperialist, als Befürworter der Autokratie, als Antisemit, als Verächter der Aufklärung, der Wissenschaften, des Sozialismus, des Kapitalismus zu erkennen gibt. Heute stören mich solche Ungereimtheiten nicht mehr. Heute kann ich über vordergründige Brüche und Widersprüche hinwegsehen, kann unbereinigte Differenzen stehen lassen, sage mir, dass es nicht auf die inkompatiblen Teilaspekte ankommt, vielmehr auf das größere Ganze, innerhalb dessen die widrigen Aspekte vereinigt sind. Es kann dann auch nicht mehr angehen, Dostojewskij mit dem Vorwurf der Inkonsequenz, des Renegatentums, gar des Verrats einzudecken, weil er vom Revolutionär zum Reaktionär, vom Universalisten zum Nationalisten, vom Anwalt der Erniedrigten und Beleidigten zum Präzeptor am Zarenhof mutierte oder weil er in seinen späten Jahren mit judenfeindlichen und kriegstreiberischen Pamphleten sein eigenes Konzept eines versöhnlichen »Allmenschentums« schwer desavouierte. Man sollte, im Gegenteil, die Zusammengehörigkeit dieser ungleichen Positionen erkennen und akzeptieren, dass sie integral zu seinem Weltbild wie zu seiner Lebenswelt gehören. Auch dass er als Epileptiker immer wieder in Zustände äußerster Verwirrung, Bedrängnis und Hilflosigkeit geriet, ändert nichts an der beispiellosen Luzidität und Produktivität, mit der er nach jedem Anfall seine Arbeit wieder aufnahm. In ganzheitlichem Verständnis wäre Fjodor Dostojewskij kein »Gespaltener« mehr, dem man Widersprüchlichkeit vorhalten dürfte, er würde nur einfach als jemand erkennbar, der die Widersprüche ertragen kann und auch bereit ist, sie zu vertreten. Dostojewskij konnte vormittags mit der Niederschrift eines antisemitischen Traktats beschäftigt sein und nachmittags einen jüdischen Fotografen aufsuchen, um sich porträtieren zu lassen und während der Sitzung mit ihm über Gott und die Welt zu plaudern. Schriftsteller, Sozialist, Monarchist, Militarist, Imperialist, Freiheits- und Friedensapostel, orthodoxer Christ, Aufklärungs- und Wissenschaftskritiker – all dies ist er gewesen, und er ist es in jedem Fall ganz gewesen, nämlich alles je einzeln und alles insgesamt. Macht nicht gerade dies die Person aus? Dass sie bald diese, bald jene Maske trägt und doch in jedem Augenblick authentisch bleibt! Lew Tolstoj war ein misogyner Sexmaniak, weil er auf »die Frau« angewiesen, als Mann von ihr abhängig war, er hat Frauen missbraucht, hat Frauen besungen – Anna Karenina, die er in seinem Roman als große Sünderin denunzieren und abstrafen wollte, ist ihm entgegen seinem Vorhaben, zur Lichtgestalt geraten. Wo liegt da der Widerspruch? Und was eigentlich gilt? Nicht was gewesen, sondern was geworden ist. – Insgesamt bin ich nicht besonders alltagstauglich; doch wenn ich mir hin und wieder über die Schulter schaue, sehe ich mich als geschickten Bastler. Es kommt vor, dass ich ins Staunen gerate, wenn mir an Geräten, deren Funktionieren ich in keiner Weise verstehe, eine knifflige Reparatur gelingt, an meinem Staubsauger, an meinem Auto oder am Laptop. Ich fühle mich dann wie nach einem gelungenen Gedicht – das Staunen gilt dem, was unter meiner Hand geschieht, fast ohne mein Zutun: produktive Improvisation! – Merkwürdige Erfahrung – seitdem ich wieder trinke und rauche, wächst einerseits das Bedürfnis nach Alkohol und Nikotin, anderseits der Ekel davor. Das Schwanken zwischen Begehren und Abscheu ist vermutlich, nicht nur bei mir, charakteristisch für die Sucht. – Das deutsche Wörterbuch hat Klangkörper wie diese anzubieten: Ahle – Aale – Allee – Alle …; oder diese: Esche – Äsche – Asche … Welche Bedeutungsbreite und was für Bedeutungsdifferenzen bei soviel lautlicher Übereinstimmung! Ich stelle mir vor, wie’s wäre, wenn es nicht so wäre. Wären lautähnliche Wörter immer auch bedeutungsähnlich, würde man also beispielsweise die Forelle als Esche bezeichnen und den Gattungsnamen der Äsche beibehalten, wären ständige Verwechslungen die Folge, daher auch Rückfragen und Richtigstellungen notwendig. Die Differenz – in diesem Fall die Differenz zwischen Lautähnlichkeit und Unähnlichkeit der Bedeutung – trägt wesentlich zur Ökonomik und Verlässlichkeit sprachlicher Kommunikation bei. – In einer Lyrikbesprechung der FAZ ist heute zu lesen: »NN gelingt es, die Welt aus den Angeln zu heben und die freie Sicht auf das Poetische zu öffnen.« Da wird Dichtung, zumindest was die Welt und die Angeln angeht, wohlmeinend überschätzt. Wie steht es aber um die »freie Sicht auf das Poetische«? Wie sollte das Poetische anhand eines Gedichts zu sichten sein? Und was genau wird die geneigte Leserin gesehen haben, wenn sie das Poetische gesichtet hat? Lauter rhetorische Fragen! Fragen, auf die es keine Antwort geben kann, weil sie falsch gestellt sind. Oder doch? Wenn ich mir die Begründungen der Jury zum jüngsten Meraner Lyrikpreis ansehe, kann ich durchaus den Eindruck gewinnen, als würden hier Antworten auf Fragen gegeben, die sich eigentlich gar nicht stellen … die man von der Sache her überhaupt nicht stellen kann. Ich rapportiere aus der Laudatio des hochkarätig besetzten Gremiums die hauptsächlichen Argumente für die Preisvergabe: 1) überzeugende »Verknüpfung von Naturbildern mit politischer Geschichte und Kindheitserinnerungen« und »verzaubernde tänzerische Anmut ihrer Sprache«; 2) »linguale Hinterlist«, »semantische Durchtriebenheit« und »poetischer Zuckergewinn«, insgesamt – »eine Hymne an die Polyvalenz poetischer Zwischenräume«; 3) »wunderbar überraschende, musikalische, die Fantasie anregende Gedichte« voller »poetischer Funken« und »Liebesphänomenologien«; 4) »im Alltag verwurzelte Gedichte«, in denen »die Liebe, die Poesie, die Schlümpfe und jede Menge traumhafter Sequenzen zueinander finden«. Den hier verkürzt, aber korrekt wiedergegebenen Begründungen ist anzumerken, wie sehr daran gefeilt wurde, leider aber auch, wie wenig man in eine textbezogene Argumentation investiert hat. Im Vordergrund stehen konventionelle Qualitäten wie »traumhaft«, »wunderbar«, »verzaubernd« und sogar – gleich viermal – »poetisch«. Gedichte sollen demnach magischen Charakter haben und überflüssigerweise auch noch »poetisch« sein. Dazu kommen »musikalische« und »tänzerische« Vorzüge, »Verwurzelung« in Geschichte und Alltag, Spiel zwischen Hymnus und Hinterlist sowie – womit wir schon wieder beim Geschmack sind – Süßung durch poetischen Zucker. Insgesamt hätte diese Würdigung ohne Abstriche und Zusätze durchaus schon vor hundert Jahren formuliert werden können, abgesehen wohl einzig von den »Schlümpfen«, die damals noch nicht erfunden waren; abgesehen allerdings doch auch davon, dass die deutschsprachige Dichtung zu Beginn des vorigen Jahrhunderts um einiges stärker dotiert war als heutzutage. – Ich bewege mich suchend durch ein altmodisches muffiges Schulgebäude, in dem ich nun gleich meinen Russischkurs eröffnen soll. Ich trage schwer an meinem abgewetzten Pilotenkoffer, in dem ich die Lehr- und Übungsbücher verstaut habe, schreite endlose Korridore ab, steige durch breite Treppenhäuser und fensterlose Hallen, komme zwei-, dreimal bei der Bibliothek vorbei, bis mir klar wird, dass ich mich längst verlaufen habe und auf einer weitläufigen Spirale in dem gigantischen Gebäude zugange bin. Doch wohin? Ich frage mehrere Passanten – es wimmelt hier von Passanten und Passagieren – nach dem Dozentenraum, doch keiner scheint sich auszukennen, keiner kann mir weiterhelfen. Je länger die Suche dauert, desto deutlicher wird mir bewusst, dass ich auf die Lektion ungenügend … dass ich auf die Eröffnung meines Kurses überhaupt nicht vorbereitet bin. Ich hebe das rechte Knie, um den Koffer kurz darauf abzustellen und nachzusehen, ob das Unterrichtsmaterial vollständig da ist – das Semesterprogramm, das Grammatikheft, das Lesebuch, die Namen- und Notenliste und sonst noch was. Ja. Doch, der Koffer ist voll von Büchern und Papieren, aber das Material ist veraltet, mag vor zwanzig Jahren noch brauchbar gewesen sein, ist nun völlig überholt, und ich werde es jedenfalls nicht einsetzen können. Was tun? Im Dozentenzimmer ist Hans-Jost Frey mit dem Aufräumen und Reinemachen beschäftigt, er stützt das Kinn auf den Besenstiel, versucht mich zu beruhigen, rät mir, ich solle doch »einfach improvisieren in dieser ersten Stunde«, ein paar Geschichten aus meinem Leben erzählen und damit die Kursteilnehmer auf die kommende Woche einstimmen. Doch das Improvisieren ist nie meine Stärke gewesen, auch nicht das Erzählen privater Geschichten im vollbesetzten Auditorium. Aber ich kann mich dem Auftritt nun tatsächlich nicht mehr entziehen, schon läuft die Sirene an, ich lasse den Koffer stehen, haste über viele finstere Treppenabsätze nach oben … immer nach oben, und habe noch immer keine Ahnung, in welchem Hörsaal ich erwartet werde. Keine Ahnung! Die Sirene klingt allmählich ab, ich stelle erleichtert fest, dass sich nur ganz wenige Teilnehmer eingefunden haben und dass sie alle, auch die Teilnehmerinnen, im Besitz der neusten Lehrbücher sind. Mein Problem ist aber, dass ich diese Lehrbücher nicht kenne, dass ich nie zuvor damit unterrichtet habe und deshalb nicht einmal weiß, wie und womit ich beginnen muss. An der Wand hängt, von Hans-Jost Frey provisorisch gerahmt, das Gemälde mit dem großen Blau und dem gelben Dreieck. Es hängt da, als gehörte es mir … als gehörte es hierher und hätte dennoch etwas zu bedeuten. Ich lasse mir eins der druckfrischen Lehrbücher geben, es ist Ernst Jüngers ›Einführung in die Autorschaft‹. Ich lese daraus an zufällig aufgeschlagener Stelle ein paar Seiten vor, um dann aber – jetzt – abzubrechen und mich zu entschuldigen für meine fahrigen Belehrungen. Dem Jünger, so füge ich erklärend hinzu, fehlt es an Brillanz ebenso wie an Tiefe, am wenigsten hat er dort zu sagen, wo er zu deuten versucht und sich ins Bedeuten versteigt. Als Literat mag er respektabel und verlässlich sein, meint Hans-Jost Frey, der noch immer mit dem Putzlappen in der Hocke kauert, doch als Person wirkt er – seht euch das Frontispiz an! – soldatisch und tantenhaft zugleich. Für die künftigen Wettermacher und Insektensammler unter euch bleibt seine ›Einführung‹ allerdings unentbehrlich. Ich brauche mindestens eine Viertelstunde, um aus diesem Traum wieder abzusteigen in die Niederungen der weit schlechteren Alltäglichkeit. – Die Berge – geh! – sind ausgewandert. Die schwersten
aaaaaSchläfer (soviel ist gerade noch zu sehn) verhandeln
aaaaaleichter bei vollem Licht.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaAuf der hohen Kante hockt
aaaaadas As. Buht aus was es sticht. So verfliegt der Gewinn
aaaaaund vermehrt sich wie nichts.

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