20. Juni

Großer Traum! Das Geschehen hat die Dimension und Diversität eines Romans, leider alles verflogen und vergessen; bleibt bloß der atmosphärische Eindruck von Lärm, Buntheit, Dichte, Gedrängtheit (doch ohne Bedrängnis) in einem weiträumigen Gebäude. Als einzige Gestalt kann sich ein halbwüchsiges Mädchen mit prallem braunem Mondgesicht und krausem Schwarzhaar im Gedächtnis halten und … aber zu welcher … zu was für einer Geschichte könnte dieses Kind die Hauptfigur gewesen sein? Welche andern Figuren hätten das Personal zu diesem Traum gestellt? Von welchem Zeitgefühl wäre der Traum geprägt gewesen? Welche Dynamik hätte er gehabt – Flucht? Leerlauf? Jagd? Gier? Begehren? – Irgendein Gedenktag oder die Eröffnung einer Gedenkstätte scheint der Grund dafür zu sein, dass jüngst einmal wieder Jean Paul (Richter) im Feuilleton präsent war – Gegenstand der Bewunderung, oft auch des Schwärmens. Mir unbegreiflich. So unbegreiflich, dass ich mich frage, wer unter Jean Pauls zahlreichen Adepten dessen Texte tatsächlich gelesen und sie, in welchem Sinn auch immer, verstanden hat. Wie? Wozu? Was sollte an diesem grafomanischen Gewusel witzig, unterhaltsam, lehrreich oder gar aktuell sein? Wieso sollte ich mir Geschichten anlesen oder anhören, deren Protagonisten allein durch ihre Namen – Fibel, Fixlein, Wuz, Leibgeber, Siebenkäs, Oelhafen, Reuel oder Stiefel – als Karikaturen ausgewiesen und mithin darauf beschränkt sind, an den Strippen des Autors zu zappeln! Abstruses, Paradoxales, Kalauerisches ist nur in geringen Dosen zuträglich, in der titanischen Großform des Romans droht es ins Lächerliche auszufransen. Mein Interesse an Jean Paul beruht nicht auf dem, was er in Buchform veröffentlicht hat, sondern darauf, wie er geschrieben hat – nicht sein Geschriebenes, vielmehr sein Schreiben macht ihn zu einem mehr als bemerkenswerten … zu einem faszinierenden Literaten. Jean Pauls Notate und Entwürfe, seine Exzerpte, Experimente, Digressionen, Phantasmen, Gedankensplitter, Lesespäne und Aphorismen, selbst seine gigantischen Zettelkästen bedeuten mir mehr als alle seine Romane zusammengenommen. Titanisch ist dieser schreibende Titan im Detail, in der kleinstmöglichen Form, in der momentan aufschießenden Einbildungskraft, im wortspielerischen Schnappschuss, im brillanten Medaillon. Da triumphiert das Poetische über die Poetik, da kann ich begeistert sein, mich amüsieren und auch – ihn, bei all seinem schlecht gespielten Unernst, respektieren. In seinem ›Vita-Buch‹ von 1806 hält Jean Paul sein auktoriales Begehren wie folgt fest: »Wenn ich könnte, so möchte ich, was noch kein Autor konnte und kann, alle meine Gedanken nach dem Tode der Welt gegeben wissen: kein Einfall sollte untergehen.« Was noch kein Autor konnte! Was kein anderer kann! Doch Jean Paul hat es zu oft … hat es zu sehr darauf angelegt, seine »Einfälle« und »Gedanken« in weitläufige Erzählstoffe zu integrieren, und er konnte oder mochte nicht verhindern, dass sie nur mehr als Sprechblasen seiner Witzfiguren wahrgenommen wurden. Lässt er sie aber – und sei’s in Form bloßer Zitate – kontextfrei stehen, kommen die Ideen zum Funkeln und lassen manches in ungewöhnlichem Licht wie neu oder wie zum ersten Mal erscheinen. Als Erzähler hat Jean Paul seine lakonische Intellektualität allzu bedenkenlos der wuchernden Fantasie geopfert. Dabei wusste er’s doch selbst: »Die Fantasie bringt nichts heraus, sie bekleidet nur was der Sinn, das Innere giebt.« So steht es, wörtlich, im Ideengewimmel seines Nachlasses. – »Ich weiß, dass ich nichts weiß.« Das ingeniöse Diktum des Sokrates verschärft Lew Schestow in seinem großen Versuch über Anton Tschechow zur kompromisslosen Aussage: »Ich weiß nicht.« Oder auch: »Ich weiß nichts.« Bei Tim Etchells (in ›The Broken World‹) bin ich heute auf eine vergleichbare Stelle gestoßen; da heißt es zeit- und trendgerecht: »I don’t know. I cannot fucking tell it to you in words.« Dass alles Wesentliche sprachlich nicht zu fassen ist, nicht auf den Begriff zu bringen ist, nicht authentisch – nicht vollumfänglich, nicht der Wahrheit und nicht der Wirklichkeit entsprechend – zu vermitteln ist, das war auch Schestows kritische Überzeugung.

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