Cyrus Atabay: Die Wege des Leichtsinns

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Cyrus Atabay: Die Wege des Leichtsinns

Atabay-Die Wege des Leichtsinns

DER GEHEIMSTE KRISTALL

I
Die Unwiederholbarkeit der Zeit,
die sich in einem Satz konzentriert,
für den ein ganzes Leben erforderlich war,
um ihn zu sagen.
Du läßt den Sand in der Sahara
aus deiner Hand niederrieseln,
du übersetzt die Zeit,
die dir bleibt
in eine andere Sprache.

II
Ein vereinzelter Stern
im Steinbruch des Firmaments
ist ein Blinder geworden,
der in La Boca seinen Weg sucht.
Doch es ist nicht Dunkelheit,
die ihn umgibt,
er lebt im Zentrum
eines lichten Nebels,
wachsam träumend.

 

 

 

Beiträge zu diesem Buch:

Albert von Schirnding: In östlicher Richtung
Süddeutsche Zeitung, 4./5.2.1995

Roman Bucheli: Abtrünnige Welt
Neue Zürcher Zeitung, 18.9.1995

 

Rätsel einer Auflösung

– Zu einigen Gedichten von Cyrus Atabay. –

Von seinem letzten Gedichtband Die Wege des Leichtsinns, 1994 in der Eremiten-Presse erschienen, hat uns Cyrus Atabay ein Exemplar geschenkt mit einer freundschaftlichen Widmung für Doris und mich, die mit Bleistift geschrieben war: so diskret war er – es hätte ja dieses „zerstreute äolische Material“ durch eine dauerhaftere Schriftspur zuviel privates Gewicht erhalten können. Und es sollte doch, wenigstens zum Schein, nur ein „leichter“ Sinn mit diesen Gedichten verbunden sein.
Ich habe die Gedichte dieses Bandes von der ersten Lektüre an geliebt. Mehrere von ihnen habe ich mir in unserm Exemplar durch Markierungen für baldiges Wiederlesen vorgemerkt. Eines dieser Gedichte, mit dem Titel „Wahrgemacht“, ist das folgende:

Am Ende steht natürlich die Auflösung
Umwege über das Verworrene, Verknotete,
bis die Fesselung zur Freigabe wird.
Das alles hat viel mit Zauberei zu tun
hängt zusammen mit Magie und Mathematik:
Eine geringfügige Verschiebung in der Anordnung
der Bedingungen gewährt im Ausweglosen
einen Durchschlupf für das Unerwartete,
plötzlich wahrgemacht im Kuckucksruf,
der die Erklärbarkeit aufhebt.

Ich weiß nicht mehr genau, mit welchen Gedanken und Empfindungen ich dieses Gedicht beim ersten Mal gelesen habe. Denn in der Zwischenzeit hat Cyrus Atabay uns verlassen, und nun überlagert die Lektüre post mortem ganz die Erinnerung an das, was ich vorher aus diesen Versen herausgelesen haben mag.
Es ist jetzt vor allem die erste Zeile, die meine neue Lektüre beherrscht. Ich bin versucht, sie für sich allein zu nehmen und sie auf den Tod dieses Menschen hin zu lesen, dessen Leib nun auf dem Weg der Auflösung ist, wie es „natürlich“ Menschenschicksal ist. Lese ich dann weiter, so muß ich wohl spätestens in der letzten Zeile bei dem Wort „Erklärbarkeit“ diese Lesart aufgeben und vorrangig an die Auflösung eines Rätsels denken. Aber sind das wirklich zwei ganz verschiedene Lesarten: dissolutio und solutio? In einem von Cyrus Atabay übersetzten Vierzeiler des persischen Dichters Omar Chajjam heißt es:

Das Geheimnis der Ewigkeit kennst weder du noch ich,
weder du noch ich können dies Rätsel lesen;
wir beide reden diesseits des Schleiers,
wenn der Schleier fällt, bleibt nichts von dir und mir.

Verwirrend oder, wenn man will, rätselhaft ist an der Fassung dieser Verse vor allem, daß hier ein Rätsel nicht einmal zu lesen, geschweige denn zu lösen ist. Klarer ist hingegen, daß dieses Rätsel oder Geheimnis sub specie aeternitatis zu verstehen oder eben nicht zu verstehen ist. Vielleicht ist es auch nur halb zu verstehen. So drückt es jedenfalls ein anderes Rätselgedicht aus, das aus Cyrus Atabays eigener Feder stammt und in seinem Gedichtband Prosperos Tagebuch steht:

Für die letzten Jahre des Lebens
bleibt die erheiternde Beschäftigung
Rätsel aufzulösen deren Auflösung
du nur zur Hälfte ausführst
Wichtiger ist es des Staubes
eingedenk zu sein aus dem ein Spielender
das Leben schuf und auch den Steinen
seinen Segen nicht verwehrte

Leichtsinn mag es wohl sein, ein Rätsel nur halb lösen zu wollen; doch wenn diese halbe Sache dann dazu führt, daß selbst die Steine als Spielsteine erkannt werden, auf denen der Segen einer „höheren Heiterkeit“ (Th. Mann) ruht, dann darf man vielleicht wohl die andere Hälfte der Lösung großzügig verschenken.
Wir wollen zu dem Gedicht „Wahrgemacht“ zurückkehren. Denn nach der ersten Zeile geht das Gedicht ja weiter und spezifiziert das Rätselhafte als das Umwegige, das Verworrene und Verknotete. Bei Cyrus Atabay ist jedoch gewiß kein gordischer Knoten gemeint, der von einem ungeduldigen Rätselloser einfach durchgehauen werden könnte. Dieser Neffe eines Schahs ist kein Machtmensch, kein Alexander. Sein Weg von der Fesselung zur Freigabe – die Alliteration verhüllt den polaren Gegensatz! – ist weit und mühsam und verlangt die Künste der Zauberei, Magie und Mathematik. Allerdings, in welche Gesellschaft hat sich die Mathematik da begeben? Doch muß man weiterlesen; denn nach dem Wort „Mathematik“ und seinem nachfolgenden Doppelpunkt spricht der Autor in einer langen, umwegig (man denkt einen Moment: unlyrisch) formulierten Periode fast wie ein kühl-analytischer Wissenschaftler, der zielbewußt „Erklärbarkeit“ alles Rätselhaften anstrebt. Aber genau aus diesen ins Quasi-Wissenschaftliche abgedrängten Versen bricht dann plötzlich das „Unerwartete“ hervor, der „Kuckucksruf“.
Was aber wird eigentlich „wahrgemacht“ im Kuckucksruf? Ich denke, an dieser Stelle müssen alle Vorstellungen von romantischer Naturlyrik ferngehalten werden. Cyrus Atabay war keiner, der sich für sein Leben und Schreiben bei der Natur Rat geholt hätte. So ist auch der Kuckucksruf dieser Verse kein Lockruf der Natur, es sei denn zur Verwirrung, denn:

Was ein Gottesfürchtiger
werden will,
lernt beizeiten
auf den Kuckuck zu bauen,
der stets woanders ruft.

Mit dieser verwirrenden Eigenschaft macht der Kuckuck das Leben tatsächlich wahr, sofern auch der folgende Vers unseres Autors gilt:

Immer ist das Leben woanders

Doch ist der Kuckuck zugleich derjenige Vogel, der nach den Regeln der Zauberei und Magie, wenn auch nicht nach denen der Mathematik, mit seinem Ruf die verbleibenden Lebensjahre zählt.
Als Cyrus Atabay diese Verse schrieb, waren es nur noch wenige. Nur zweimal noch rief für ihn dieser geflügelte Wahrsager, dann fand Cyrus Atabay, freigegeben, seinen Durchschlupf ins Unerwartbare und am Ende, „natürlich“, die ihm gemäße Auflösung des verworrenen Rätsels Leben.

Harald Weinrich, aus Werner Ross (Hrsg.): Poet und Vagant. Der Dichter Cyrus Atabay, C.H. Beck Verlag, 1997

Auf der Suche nach einem unauffindbaren Echo

Als ich Cyrus zum letzten Mal im Krankenhaus besuchte, gab er mir ein paar alte Sachen mit, die er nicht mehr brauchte, nicht mehr wollte. Es war ein lila Jogginganzug und ein buntes Schulheft, das er für Notizen, Einfälle, Merksätze vorgesehen hatte. Der Jogginganzug war ausgebleicht. Das Heft enthielt ein paar Zitate, viele leere Seiten, ein paar Ansätze zu Gedichten und ein Gedicht. Hatte er es vergessen? War es eine späte Gabe, ein kleines Zeichen der Dankbarkeit? Ich konnte ihn nicht mehr fragen. Für mich selbst wurde die letzte Zeile zum Symbol. „Suche nach dem Unauffindbaren“ hätte über seinem Leben stehen können, über den wechselnden Ländern, Sprachen, Orten, Wohnungen, über den Freunden, denen er anhing und die er manchmal provozierte.
Cyrus war gern bei uns in der Lindenstraße. „Für einen ,Emigrantler‘ wie ich es bin ein besonders kostbares Schlupfloch“ hatte er einmal in einem Brief geschrieben. Er legte Wert darauf, daß man ihn formell einlud, ihn drängte zu kommen. Wenn er zugesagt hatte, war keineswegs sicher, daß er auch tatsächlich kam. „Mal eben vorbeischauen“ war ihm nur gegeben in meiner Praxis in der Residenzstraße, nach seinen Streifzügen durch die Delikatessengeschäfte Dallmayr und Kühbogen. Dort kaufte er mal ein Joghurt, mal ein Päckchen Tee und trug sie in seiner Plastiktasche, die immerhin von Fortnum & Mason stammte, nach Hause.
Manchmal unternahmen wir etwas zusammen, zum Beispiel eine Radtour entlang der Isar bis nach Großhesselohe, um dort in der Waldschänke einzukehren. Bei solchen Ausflügen gab er sich locker, wobei sich das, was ich für mich seinen Übermut genannt habe, schattenlos und wolkenlos enthüllte. Mir stockte der Atem als ich zum ersten Mal sah, wie er mit hocherhobenen Armen freihändig fahrend mit großer Geschwindigkeit an mir vorübersauste. Er triumphierte lachend ob meiner Verblüffung.
Es war schön für ihn: zu zeigen, daß er nicht bleich im Kämmerlein hockte, sondern sportlich seinen Mann stand, beim Baden mit weit ausholenden Armbewegungen vorstoßend in den See, oder weit ausholend auch zum Schlag beim Badminton im Garten.
Bei jenem Besuch, von dem weder er noch ich wußte, daß es der letzte war, bei dem wir miteinander reden konnten, fand ich in dem Heft ein Gedicht sauber ins Reine geschrieben nach zwei durchgestrichenen Versuchen. Dieses vielleicht letzte Gedicht von Cyrus erinnert mich an seine erstaunliche sprachliche und sachliche Vertrautheit mit Pflanzen und Tieren – Vögel an der Spitze. Bei Spaziergängen offenbarte er sie gerne.
Dieses Gedicht soll hier zur Erinnerung stehen. Es heißt

VOM WIDERHALL

Allenfalls ein Kundiger
in den Klopfzeichen des Spechts,
die Abweichungen und Resonanzen
prüfend der wechselnden Baumstämme,
und jedes Holz hat einen anderen Ton.
Die Forderungen der Natur sind vielfältig
und der Nestbau nur eine
für diesen hellhörigen Vogel,
der beizeiten weiter zieht,
auf der Suche
nach einem unauffindbaren Echo.

Luitgard Wiest, aus Werner Rost (Hrsg.): Poet und Vagant. Der Dichter Cyrus Atabay, C.H. Beck Verlag, 1997

Cyrus und der Specht

oder Die exemplarische Umwandlung

eines Stücks Natur in ein Stück Poesie

Im Folgenden beziehe ich mich auf das am Ende des Beitrags von Luitgard West zitierte Gedicht „Vom Widerhall“ von Cyrus Atabay.
Ja, Cyrus wußte mancherlei, auch über den Specht. Auch zum Beispiel, warum der Specht an die Bäume klopft. Irgendwann haben wir einmal gehört, daß er dort die Insekten zur Nahung sucht, die unter dem lockeren Holz sitzen. Dann las ich, daß der Specht morsches Holz zum Nestbau braucht, er klopft zuerst, um es zu finden, dann um es zu lockern und wegzutragen. Der Nestbau, laut Cyrus, ist nur eine der vielfältigen Forderungen der Natur, für ihn nicht die interessanteste.
So wie die Natur vielfältige Forderungen hat, hat der Specht eine Menge Impulse. Zum Beispiel den: er macht Musik, wie andere Vögel auch. Nur auf einem anderen Instrument. Er braucht Stämme, so heißt es im Gedicht, und man kann an das Instrument namens Hackbrett denken, das aus miteinander verbundenen Stäben besteht. Jeder Stamm ein Ton, wäre die Logik, die zugrundeliegt und für die der Dichter einsteht wie der Naturkundige für den Nestbau. Der Specht ist allem Anschein zum Trotz so musikalisch wie die Nachtigall, so wie der Geiger nicht weniger musikalisch ist als die Sängerin.
Sehr tastend nähert sich der Dichter diesem Spechtgesang. Augenscheinlich stimmt die Syntax der ersten Sätze nicht, das Herangehen an den Fall. „Allenfalls“ klingt nach Amtssprache, und der dort genannte Kundige könnte eher ein Ornithologe sein als ein Poet. Erst beim Klopfen auf den Stämmen ist er, der Poet wie der Vogel, in seinem Element. Aber weit gefehlt, wenn man nun dächte, da würde eifrig musiziert. Als die Nachtigall sang, ja, da sind in Hall und Widerhall die Knospen aufgesprungen. Dergleichen geschieht hier nicht. Der Specht probt bestenfalls, er stimmt, wenn es hochkommt, sein Instrument. Klopfen ist oft ein Ausprobieren. Ist der Stamm der richtige? Ist der Wald, in dem dieser Stamm steht, der passende?
So fragen wir uns und werden gleich, in den letzten Versen, belehrt. „Jedes Holz hat einen anderen Ton“, das wäre die Voraussetzung für das Spechtkonzert, das ihm Spaß machen müßte, selbst wenn es an Zuhörern für diese klangliche Vielfalt der Hölzer mangelt. Aber dieser hellhörige Vogel hat mit dem Ertasten der Töne offenbar schon genug getan, sich selbst genuggetan, er zieht beizeiten, also eilig, weiter. Der Vogel zieht zum nächsten Wald, der Dichter zieht zum letzten Vers, der manchmal die Lösung des Gedichts bringt und manchmal sagt, daß es keine Lösung gibt, sondern nur den Ausblick ins Unendliche. Der Specht klopft, und der Stamm, der Baum, der Wald liefert das Echo. Das wäre als Motiv eine neue Waldmusik, wie es auch eine neue Orchestermusik gibt mit mehr Klopfen und weniger Melodik als ehedem.
Aber das Echo ist unauffindbar, die Suche ebenso hartnäckig und unermüdlich wie nutzlos. Cyrus ist bei seinem liebsten Thema angekommen: Die Suche ist so wenig einzustellen wie das endgültige Finden zu verwirklichen. In diesem Dilemma hängt der Mensch, der Dichter ist der, der es weiß. Und der als der ewige Nomade, der er ist, diese einsame Wanderung in die schönsten Farben seiner Fata Morgana kleidet.

Werner Ross, aus Werner Ross (Hrsg.): Poet und Vagant. Der Dichter Cyrus Atabay, C.H. Beck Verlag, 1997

Cyrus Atabay

Cyrus war ein Sonderling, ein höflicher und angenehmer für diejenigen, die ihn kannten; er war anfällig für die Launen des Schicksals, sanftmütig und kultiviert im Gegensatz zu seinen nahen Verwandten; er vermischte seine Lust und seine Liebe – bzw. ließ sie sich vermischen – mit einem Gefühl von Verachtung oder sogar Rachegefühlen gegenüber denjenigen, mit denen er tief im Streit lag. Dabei legte er Hochmut an den Tag. Er war still und einsam in seiner Eifersucht und in seinem Zorn – er beobachtete schweigend eine Welt, die ihn an ihren äußersten Rand verstoßen hatte, eine Welt, in der er zwangsläufig fremd war, eine Welt, die ihn offen dafür unterdrückte, daß er ein sensibler Träumer war, ein Dichter, ein Vernachlässigter und der zerbrechliche Enkel des kraftvollen Erbauers eines Königreiches, der sich dessen Krone genommen hatte, um es sich anzueignen, um es zu verändern, um es neu aufzubauen und während einer etwa zwanzig Jahre dauernden radikalen Herrschaft über es zu regieren. Cyrus’ Mutter war das erste Kind eines ungehobelten Offiziers der Armee, der seinen starken Machthunger mit einer beispielhaften Liebe zu seinem Land verband: Mit einer Mischung aus Patriotismus, aus Legenden und habgierigem feudalem Despotismus verwandelte er das Leben des Landes und des Volkes, seiner Untertanen. Die Idee des Bürgers war ihm unbekannt. Diese Idee war dem herrschenden System in diesem Land, das ständig seine Form veränderte, nie bekannt gewesen, wer auch immer der Herrscher gewesen war. Er betrachtete das Land wirklich als sein Eigentum, das ihm ganz allein gehörte, als seinen Grundbesitz. Als er noch ein unbekannter Offizier war und seine Frau verloren hatte, hatte er wieder geheiratet, und die Tochter, die nun keine mütterliche Fürsorge mehr erhielt, muß unter der neuen Herrin des Hauses ein hartes Leben gehabt haben, denn diese betrachtete sie traditionsgemäß als ein unerwünschtes Andenken an die Vergangenheit ihres Ehemannes und als eine Rivalin für ihre eigenen Kinder. Als ihr Mann von den unteren Rängen einer lumpigen Armee in einem Staatsstreich zum Oberbefehlshaber aufstieg, schnell die Oberhand gewann und nun mit den komplexeren Situationen auf dem Weg zur Herrschaft beschäftigt war, gab dies seiner Frau mehr freie Hand im Haus, was die schlechte Behandlung des völlig vernachlässigten Mädchens noch verschlimmerte. Sie wurde schließlich mit einem Offiziersveteran verheiratet. Der Offizier war nicht sehr glücklich über die intime Seite der Ehe, in die er hineinbeordert worden war. Um das, was Cocteau über Radiguet sagte, in leicht abgewandelter Form zu übernehmen: der Ehemann war „vicieux. Il aimait les garsçons.“ („lasterhaft. Er liebte die Knaben.“) Cyrus war eines der drei Kinder aus dieser Ehe, der es an versöhnenden Momenten mangelte und bei der beide Seiten zu dieser Verbindung gezwungen worden waren.
Der Großvater war nun der allmächtige Schah des Iran, und Cyrus, ein Abbild seiner Mutter und unerwünschtes Kind im zarten Alter, wurde nach Deutschland zur Schule geschickt. Bald brach der Krieg aus, der Iran wurde von den britischen und russischen Armeen besetzt, der Schah wurde zum Abdanken gezwungen und nach Südafrika ins Exil geschickt. Sein einsamer, fast vergessener Enkel, Cyrus, saß in Deutschland fest, wo er den Zusammenbruch und die Nachwirkungen der Niederlage mit erlebte, ein einsamer jugendlicher Ausländer in einer verwirrenden Welt voller Ruinen und Hunger. Einige Zeit nach dem Krieg wurde er zurück in sein Zuhause gebracht, das ihn so bitterlich vernachlässigt hatte.
Mehr als zehn Jahre später traf ich ihn zum ersten Mal, Anfang 1960. Ich hatte noch nie vorher von ihm gehört. Nachdem die Übermittlung von Lyrik von der Kunst der Worte abhängt und die seinige in deutscher Sprache geschrieben war, die ich nicht beherrsche, war es mir erst nicht möglich, den Wert seiner Begabung und die Ergebnisse, die sie hervorbrachte, zu ermessen. Als mir etwas später seine Herkunft offenbart wurde, erschien mir der poetische Anspruch weniger glaubwürdig. Ein mangelndes Verständnis meinerseits, ich gebe es zu. Ich weiß nicht, wann er vor der Zeit, als ich ihn zum ersten Mal traf, in den Iran zurückgekehrt war, und ich weiß nicht und habe ihn auch nie danach gefragt, wie und wo er die Nachkriegsjahre verbracht hat. Das waren einige turbulente Jahre gewesen, und die Angehörigen der Herrscherfamilie standen auf der Beliebtheitsskala ganz unten, nachdem erst die kommunistische Tudeh-Partei und dann Mossadegh die Szene beherrschten; und als dann der von den Briten und der CIA angeregte und unterstützte Staatsstreich zugunsten des Schahs gelang, war der Schah zu schwach, und ein paar Generäle hatten für einige Zeit die Oberhand. Das war eine Situation, die völlig anders war als das, was Cyrus zur Zeit seines Großvaters erlebt hatte, der in der Zwischenzeit im Exil gestorben war. Ich lernte Cyrus über einen Freund kennen und sah ihn gelegentlich in einem Filmclub. Ich war damals sehr in meiner Filmarbeit engagiert.
Unser Kennenlernen fiel in eine Zeit, als die wirtschaftliche Situation des Landes einen Aufschwung erlebte, als sogar die Katzen und Mäuse im herrschaftlichen Haushalt an der „reichen Beute“ beteiligt waren. Man sprengte sogar die archäologischen Stätten der Nation, um schnell an die möglicherweise von alten, unbekannten Zivilisationen auf der Hochebene hinterlassenen Goldschätze zu kommen – und zerstörte dabei unvermeidbar diejenigen Bodenschichten, die Hinweise auf die Periode und die historische Identität hätten geben können. Die Gefäße und Statuen, die nicht aus Metall waren, wurden in tausend Stücke geschlagen. Cyrus hielt sich abseits, unbeteiligt, all das war ihm fremd. Er nahm nicht am Rennen teil, und er war auf die Reichtümer, die seine Onkel und Tanten, seine Cousins und ihre Höflinge ausgruben und anhäuften, nicht neidisch. Er haßte die Clowns und Mitläufer, die um seine Verwandten herum waren, zutiefst, aber er beobachtete sie auch mit Mitleid und genoß ihre Anwesenheit, nicht so sehr wegen der Unterhaltung, die sie boten, sondern weil er die grundsätzliche Ähnlichkeit zwischen den beiden Gruppen sehen konnte – trotz des künstlich erzeugten zeremoniellen Status, den die eine der anderen gegenüber hatte. Es entsprach nicht seinem Temperament, zu kämpfen oder auch nur Feindseligkeit zu zeigen. Seine Reaktion beschränkte sich auf ein stummes Lächeln, das nicht einmal spöttisch war, und auf sehr seltene, aber äußerst scharfe Bemerkungen. Er war ein Verehrer von Beckett. In der Tat war das erste Geschenk, das er mir machte, eins von Becketts Werken.
Es war am Tag, nach dem er Zeuge davon geworden war, wie ich den Kultusminister, der auch der Mann seiner Tante, der Schwester des Schahs, war, in lauter und ausfallender Form offen angegriffen hatte. Das war im Palast dieser Tante geschehen, wo der Schah zur Vorführung eines Films eingeladen hatte; ich hatte die Produktion gerade, nach etwa vier Jahren Arbeit und enormen Kämpfen mit den Ölfirmen, die ihn in Auftrag gegeben hatten, beendet: ein Dokumentarfilm über die Umwandlung der Insel Kharg im Persischen Golf in einen riesigen Ölhafen. Der Minister war für dieses Amt ernannt worden, weil er mit der Schwester des Schahs verheiratet war, und das war anscheinend sein einziges Verdienst, abgesehen von seinen Manipulationen. Er hat immer den nie erreichbaren Plan verfolgt, den Vorsitz und das Monopol über alle Kunst- und Filmproduktionen im Land selbst zu übernehmen. Er hatte alles getan – und tat es noch jahrelang –, um meine Arbeit zu behindern, und er hatte versucht, seinen Doppelstatus als Minister und als naher Verwandter des Schahs dazu zu benutzen, meine Filmarbeiten, und speziell diese eine, an sich zu reißen, um sie selbst zu vermarkten. Das war ihm nicht gelungen, weil das Konsortium der Ölfirmen, das von den Veteranen der britischen Dokumentarfilm-Bewegung wie Arthut Elton und Stuart Legg beraten wurde, fand, daß sein Konzept nicht genügend kreative Kompetenz aufwies. An jenem Abend hatte dem Schah der Film gefallen, er hatte offen seine Begeisterung gezeigt, und der Minister befand die Gelegenheit für richtig, mich zu fragen, ob ich für ihn arbeiten wolle. Ich lehnte ab, und im Laufe des Wortwechsels hatte ich ihm gesagt, daß er nicht nur als Beamter und als Minister, sondern auch als jemand, der dem Schah so nahestand, ein Verräter sei. Ich hatte ihn verletzt, und da er in diesem Moment und an diesem Ort keinerlei Chance hatte, darauf zu reagieren, war er beleidigt gegangen. In dieser Ecke waren als Zeugen der Auseinandersetzung nicht nur Cyrus und zwei oder drei andere anwesend, wie Abbass Massoudi, der Besitzer des Ettela’at-Zeitungs- und Buchverlages, sondern auch der General, der früher der befehlshabende Offizier der Leibgarde des Schahs gewesen und kürzlich zum Polizeichef ernannt worden war und der gekommen war, um mir dazu zu gratulieren, daß „der Film das Wohlgefallen Seiner Majestät gefunden hat“. Das verletzte Weggehen des Mannes, der so aufgeblasen war vor Stolz auf das, was er erreicht hatte, nahm etwas Ungutes an, nachdem Cyrus mir sagte, daß es nicht notwendig gewesen sei, „ihn so anzugreifen, wie Sie es getan haben. Glauben Sie nicht, daß der Befehl seiner Majestät, den Film hier anzusehen, wo der Mann lebt, schon ein wirkungsvoller Schlag sein sollte?“
Diese Idee wäre mir nie in den Sinn gekommen. Und ich hätte auch nicht vermutet, daß Cyrus über solche machiavellistischen Fähigkeiten der Entschlüsselung verfügte. Der düstere Ausdruck schwand vom Gesicht des Generals. Der General war ein unkritischer, eingleisig ausgerichteter Mann, der mich mehr als zehn Jahre später als Chef der Savak als „gefährlichen Saboteur“ verhaften ließ, weil seine Leute einen Satz entdeckt hatten, den ich vor über 25 Jahren am Ende einer meiner Geschichten geschrieben hatte. Jetzt, ein Vierteljahrhundert später, dachten sie, dieser Satz sei eine verschlüsselte Botschaft, weil sie entdeckt hatten, daß er in einem Brief zitiert wurde, der sich unter den Papieren einiger Anhänger des linken Flügels befand, die sie gerade verhaftet hatten.
Das Beckett-Buch, das mir Cyrus am Tag darauf schenkte, schien weniger ein Ausdruck der Anerkennung für das, was ich getan hatte, zu sein – weder für den Film noch für den Streit – als ein Hinweis darauf, wie ich meine Antwort dem Minister gegenüber hätte formulieren sollen. Er äußerte mir gegenüber nie seine Meinung. Seine eigenen Reaktionen schienen auf Worte und auf ihr Fehlen beschränkt zu sein, meist letzteres. Und er konnte scheinbar nur auf die Welt der Sinne und der Sinnlichkeit reagieren. Das war seine Welt, nicht die Welt der Politik, der Ideologien, der sozialen Formen oder Reformen. Er nahm seine – selbstgewählten – Beschränkungen auf all diesen Gebieten wahr, aber das bedeutete nicht, daß er kleingeistig war. Der Gedanke, zu kämpfen, war ihm offenbar fremd. Dieser Vorfall und dieses Geschenk waren der Auslöser für den Beginn unserer Freundschaft, wie auch seine Ehrlichkeit und Direktheit und die anschließende unterschwellige Trotzhaltung.
Das Merkwürdige an ihm war sein unbeeinträchtigter, wahrer Sinn für Kultiviertheit und Format unter all seinen Verwandten mit ihrem aufgesetzten und gekünstelten vornehmen Gehabe, das so offensichtlich oberflächlich und hohl war. Bei all seiner scheinbaren Zerbrechlichkeit war er in seinem Charakter und seinem Auftreten fest. In seiner Einstellung gab es eine Verwandtschaft mit den asketischen Derwischen seines Landes, obwohl er nicht viel über sie wußte oder vielleicht überhaupt nie etwas von ihnen gehört hatte. Nicht, daß er in Lumpen herumlief. Er bemühte sich, im Rahmen seiner Möglichkeiten gut gekleidet zu sein. In seiner kleinen Wohnung innerhalb eines großen Hauses, das sein feindseliger Vater an einen exklusiven, schicken Club vermietet hatte, hatte er mit seinen sehr beschränkten Mitteln einen winzigen Wohnbereich geschaffen, der nicht luxuriös war, aber eine reich und geschmackvoll ausgestattete friedliche Ecke. Er war sein eigener Schöpfer, so schien es. Und sich selbst hatte er zu einem geduldigen, fleißigen, gewissenhaften und zufriedenen Menschen gemacht. Er hatte nichts für seine Traurigkeit getan.
Er hatte einen Weg gewählt – oder war vielleicht auf ihn geraten –, der nun sein einziges Anliegen war: etwas über die Schönheiten von verschiedenen poetischen Ideen und poetischen Formen zu lernen. Er hatte das Problem, daß es nicht leicht für ihn war, die literarische Sprache und den Satzbau der klassischen persischen Dichtung und Prosa zu lesen. Aber durch seine entwaffnende Offenheit hatte er sich die Hilfe und den Rat von Freunden gesichert – wie Foroogh, Mehrdad Samadi und seiner Frau Jamileh, Ahmad-Reza Ahmadi und Bahman Mohassess. Und er holte auf. Von seinen eigenen Gedichten wurden einige von Samadi in seine Muttersprache übersetzt, die er so sehr liebte, die er aber nie so beherrschen konnte, daß es ihn hätte befriedigen können. Er versuchte, damit näher in Berührung zu kommen, indem er eine Beziehung zu einer gebildeten Dame einging, die die Sprachen gut beherrschte – ihre eigene, das Persische, und außerdem Französisch, Englisch und, wenn ich mich richtig erinnere Deutsch. Es war natürlich eine rein literarische „Ehe“. Diese Beziehung dauerte fast zehn Jahre lang, und in den 70er Jahren verlegten sie ihren Wohnsitz von Teheran nach London.
Obwohl ich den Iran 1967 verlassen hatte und Cyrus von da an nicht mehr so oft sehen sollte, hörten wir doch weiter voneinander, entweder bei seinen Reisen nach Europa oder bei meinen kurzen Aufenthalten im Iran.

1971 machte ich meinen letzten Film im Iran und beschloß, für immer in Europa zu bleiben. Das Literatenpaar war in ein nettes Haus am Alexander Square gezogen. Aber bald begannen die Ereignisse im Iran an ihren Nerven zu zerren, und ihr Zusammenleben, in dem es eine Unvereinbarkeit gab, bekam zunehmend Risse und Sprünge. Eines Nachmittags sah ich ihn sehr traurig und nachdenklich in der Nähe des Victoria & Albert Museums in Knightsbridge. Er sagte, er habe Probleme mit dem Besitz des Hauses, und sein Geldmangel mache das Leben für ihn unmöglich, denn alles, was er besitze, sei im Iran. Ich schlug vor, er solle einen Brief an seinen Onkel schreiben und ihn um Hilfe bitten. Der Schah war zu jener Zeit in Mexiko im Exil. Er sagte, er wisse nicht, was er sagen solle, und außerdem „kann ich nicht gut genug auf Persisch schreiben“. Ich sagte, „Schreib’ auf Deutsch“, aber er vermutete, der Schah könne kein Deutsch lesen. Ich sagte, er könne es sicher, jedenfalls ein bißchen. Er erwiderte, bei seinen kurzen Begegnungen mit ihm habe er ihn nie danach gefragt und er habe nie etwas darüber erfahren. Ich sagte, er könne nicht in seinem Pessimismus verharren, sondern müsse etwas unternehmen. Cyrus schlug vor, daß ich in seinem Auftrag schreiben solle. Ich sagte, diese Idee sei komisch und unbrauchbar. Ich hatte das Gefühl, daß er zu stolz war, selbst darum zu bitten, und daß er es an andere delegieren wollte. Dann bot ich an, einen Text für ihn zu entwerfen, den er dann abschreiben könne. Er sagte, er könne nur gedruckte Schrift lesen, keine Handschriften, und wenn man so einen Brief mit der Schreibmaschine schriebe, würde es mechanisch erscheinen, nicht persönlich genug. Ich schlug vor, ich würde den Brieftext aufsetzen, ihn ihm dann vorlesen, damit er wüßte, was darin steht, dann müßte er ihn abschreiben, und wenn er Fehler gemacht hätte, würde ich sie anstreichen, damit er den Brief nochmal abschreiben könne, vorausgesetzt, er sei nur still, während ich schriebe. Wir gingen in sein Haus, das in der Nähe lag, und ich schrieb eine Seite. Nachdem ich fertig war, las ich sie ihm vor. Dann schaute ich auf, um zu fragen, ob es irgendwelche Kommentare gäbe. Er saß schweigend da und war völlig in Tränen aufgelöst. Es war eine sehr traurige Farce, wie er so über das weinte, was ich über ihn geschrieben hatte. Ich blieb sitzen und wartete, bis er sich beruhigt hatte und den Brief abschreiben würde. Das tat er dann auch. Ich verabschiedete mich. Draußen war es kalt. In die Abenddämmerung brachen die Leuchtreklamen der Geschäfte. Die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos bewegten sich wie lange Strahlen, die in der naß-schwarzen Tiefe der Straßendecke verschwanden. Ich stieg in mein Auto, das ich etwas weiter an der Straße geparkt hatte, und stellte das Radio an. Im weit entfernten Teheran hatten die „studentischen Anhänger der Imam-Linie das Nest der Verräter und Spione“ angegriffen und eingenommen – die amerikanische Botschaft.
Der Brief erreichte schließlich seinen Onkel, und Cyrus wurde eine bescheidene Unterstützung zugewiesen. Später konnte er das Haus verkaufen und trennte sich von seiner literarischen Gefährtin, offensichtlich nicht ohne Bitterkeit. Er zog dann nach München. Wir telefonierten oft miteinander. Einige Male kam er nach England und besuchte uns in Sussex. Nach dem Tod des Schahs und dem finanziellen Fiasko, das seine Witwe vermutlich bei dem Börsenkrach von 1987 erlitt, wurde seine Unterstützung eingestellt, aber bald setzten sich Freunde für ihn ein, und die Hilfsleistung wurde wieder aufgenommen. 1994 machten wir eine Reise nach München, und der Freund, der das Hotel für uns gebucht hatte, hatte darauf geachtet, daß es ganz in der Nähe von Cyrus’ Wohnung war. Sie war einfach und sauber, geschmackvoll möbliert, voller Hoffnung, dafür eingerichtet, darin ein langes Leben mit Lesen, Schreiben und Übersetzen zu verbringen. Dann erfuhren wir, daß er gestorben war.

Ebrahim Golestan, aus Werner Ross (Hrsg.): Poet und Vagant. Der Dichter Cyrus Atabay, C.H. Beck Verlag, 1997

 

Cyrus Atabay 

Wir trafen uns, ohne uns verabredet zu haben, in München, in Frankfurt, einmal in der Schweiz. Wie freute er sich über ein Fahrrad, das er dort gemietet hatte. Gelegentlich seine halblaut geäusserte Bemerkung, dass er den Schiffbruch, in den er immer wieder hineingezogen werde, als Chance verstehe, für die er dankbar sei. Wiederholt Erinnerungen an Max Rychner (von dem der erste Fingerzeig gekommen war). Manchmal die Zeile eines persischen Dichters, den er übersetzt hatte (Schlaf nicht, Gastfreund, mein Gedanke). Atabay liess seinen Worten Zeit. Einen Streifen Grün zwischen zwei Strassenbahnschienen nannte er: von Krokussen besteckt. Erpicht war er, wie er sagte, auf Fragen, die an den Gesichtern der Menschen haften und die sie meistens mit sich forttragen.

Jürgen Theobaldy

 

 

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