Cyrus Atabay: Einige Schatten

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Cyrus Atabay: Einige Schatten

Atabay-Einige Schatten

BESUCH BEI BALZAC

Öffne die Pforte,
ich kenne das Losungswort:
„Die Zeit der Pflaumen ist gekommen“ –
dein alter Freund, der Sommer
gibt seine Parole d’honneur.

Du brauchst dir keine Somnambule
zu halten, ich betrüge dich nicht;
es sei denn, daß sich Täuschung
in meinen Blumen verbirgt –:

der Lilie, die dein Bergwerk erhellt,
der Amaryll, Köcher mit berauschenden Pfeilen,
doch Walstatt ohne Tote.

 

 

 

Nachwort

Wie anmutig wendet sich gleich das erste Gedicht dieses kleinen Bandes: auf südlicher Insel begegnen sich die beiden, und der Dichter spricht zum Meer gewandt im Innern:

Durch deinen Ohrring
sehe ich die Barke
entschwinden –
und bleibe.

Nahes und Fernes, im gleichen kunstvoll und spielerisch schweifenden Blick hat er sie beisammen. Der entscheidende Augenblick zwischen zweien ist gleitende, fast tonlose Sprache geworden, und ein kleines Etwas von Scherz ist dem Bewußtsein der zierlichen Situation beigemischt. Das Zierliche, Ausgesuchte ist Sache unseres Autors, wie schon sein mehrfach sich beweisendes Verständnis für die Mitteilungsformen der Brauen, der Wangen, der Lippen beweist. Da ergeben sich ihm Anklänge an die persischen Dichter, die Hammer-Purgstall erstmals übersetzt hat und die Goethe las, als der West – östliche Divan entstand; eine liebevoll verfeinerte Wahrnehmung wendet sich zum Antlitz, das alles neu bedeutet, und zur Sprache, die das einzige jedes dieser immer gleichen Vorgänge nachbilden soll. In den Vergleichen wird dann alles vertauschbar und aufeinander bezüglich „Und das Heimchen / war die Sanduhr / unserer Nächte.“ Oder:

Ich sah mit unverwandtem Blick
der Rose in die Augen…

Das zweite Beispiel ist aber aus Hafis. Einst war diese Art durchaus orientalisch, persisch und arabisch, aber die moderne europäische Lyrik hat an Kühnheit der Bildlichkeit den Orient eingeholt, hat sich ihm angenähert. In unseren Dichtersprachen ist die Möglichkeit erobert worden, das Nächste und das Fernste, Geschautes und Gehörtes, Gedachtes und Empfundenes neu zusammenzubringen. Das wird Cyrus Atabay, dem persischen Prinzen, den Zugang in die geheimeren Gemächer unserer Sprache, in der er vom siebenten Jahr an aufwuchs, eröffnet haben, so daß er ein deutscher Poet wurde. Altes Persisches und modern Westliches begegnen und verbinden sich in ihm. Er spricht davon, in dem Gedicht, das Orient und Okzident in ein Gleichgewicht träumt und das er „Durchdringung“ nennt. In seiner östlich und westlich durchdrungenen Metaphern-Welt ergibt es sich ganz legitim, daß er die Nacht mit der Woge vergleicht, doch auch mit Grotte, Muschel, Urne, Zisterne, Mund, Delta… denn wie vieles ist sie ihm!
Meer, Nacht, Tod: nicht romantisch trunken rufen seine Verse die großen Mächte herauf, sondern gedämpft, nicht in der fließend-rollenden Manier, eher stockend, mit einfachen Satzgefügen, die Rhythmen verhalten, gestaut. Die bloße Nennung spielt da schon eine Rolle, etwa die mythologischer Namen: Odysseus, Thanatos, die Nymphe Arganthone. Da wird leicht und rasch ein seltener Klang eingefügt, ein Bezug erhellt, ein Wort in die Höhe gehoben. Im Augenblick, da er die hermetische Gabe, die Leier, zur Hand nimmt, erscheint sie dem Dichter als „Schiff unbesungener Fahrten“. Er besingt seine Fahrten mit kurz ausbrechenden, zu einer Pointe sich zusammenziehenden, dann abreißenden Gesängen; er folgt

der geheimen Order der Meerfahrt.

Selbst der Garten wird zum Schiff mit bauchigen Segeln der Bäume. (An anderer Stelle wird er zum Meer.)
Der Kurs geht ins Dunkle, auf schwermütigen Meeren, die keine Klage vernehmen. In der Schattenzone gelten nur noch Einsamkeit und traumhafte Zwiesprache des Ichs mit dem Schönsten, was es erfuhr und, hineingehalten ins Leere, nun erinnert. Alles kommt dabei ins gleiche; Schatten des Glücks, Schatten der Bitternis nahen:

So unerreichbar nie
das Glück, das atemlose,
als vor deinem Gesicht –

Und doch auch erreichbar, erreicht und erinnert! Und mit sorgsam bemessenen Tönen gefeiert, da vor den im Gewässer dahertreibenden Toten alles Pathos zur Stummheit zurückstrebt. Am Vergangenen wird die Vergänglichkeit offenbar, ihre Trauer und was über diese hinausgeht und hinzunehmen ist; doch auch das, was im Wort überleben und durch den Dichter sprechen will, das ihm unerklärlich Zugeteilte – Kismet. So schließt sich seine Nacht an die des Persers Dschelâl-eddîn Rumi, bei dem es heißt:

Schlaf nicht Gastfreund, mein Gedanke! diese Nacht;
dem ich trauten Zuspruch danke diese Nacht.
Du, ein Engelshauch, mir steigend himmelab,
du bist Arzt und ich der Kranke diese Nacht.

Diese Nacht ist hell von Sonnen, leuchtend mild,
daß davon mein Blick nicht wanke diese Nacht.
Welch Getümmel wacht am hellen Sternenmarkt;
Lyra tönt, die goldne, schlanke, diese Nacht…
Schweigend bind ich meine Zunge, lustberauscht,
ohne Zunge sprich, Gedanke, diese Nacht.

So hat es Rückert übersetzt. Nacht, Trauer, Dichterwort und Schweigen, all das ist auch hier aufgerufen. Aber es fehlen das Schiff, die Fahrt nach Unbekannt, die Cyrus Atabay soviel bedeuten, das vom Wind gewährte lautlose Wegschwimmen aus dem Weltgefängnis, das uns alle hält. Großes Thema der persischen Dichtung ist die Befreiung nach innen, das Sprengen der Fesseln, die der Seele angeschmiedet sind, in der Ekstase jedoch nichtig werden wie Schattenbänder. Für diese Befreiung hat unser Dichter das Gleichnis der Meerfahrt gesetzt, sie entzieht ihn gleitend in den Archipelagus der Sprache, als eine entfesselnde, ihn hier jedoch wieder in Bindungen verstrickende Verzückung. Auch darum hat Dschelâl-eddîn Rumi gewußt:

Du bist der Schreiber und die Schrift bist du,
Tint’ und Papier und Schreibestift bist du.
Du bist die Sternenschrift am Himmel dort,
im Herzen hier die Liebeschrift bist du…
Du Ebb und Flut, Windstill und Sturm und Meer,
Schiffbruch und Schiff, und der drin schifft, bist du…

Mit dem Blick auf eine Barke beginnt dieser Band, mit einer Vision von Booten endet er: Liebesbarke, Todesnachen. Dazwischen des Autors Gang über die Erde, mit den „Raubzügen der Augen“ und dem schnellen Wegblicken, mit dem Aufgreifen und Fallenlassen von Gedichtmotiven, die weniger entwickelt als ineinandergewirkt oder schräg aneinander montiert werden. Kühle, ausgeglühte Gebilde entstanden so in den angehaltenen Momenten, wo das Wort den Dichter und er es durchdrang. Bescheiden spricht er seinen Genius einmal an als Vertrauten,

der den Schritt gewendet
zu Marmor und Wein –

zu Kühle und Feuer, die im Gedicht miteinander bestehen. Es ist mir eine Freude, den jungen Dichter jenen Lesern vorzustellen, die den Willen haben, ihn lesen zu lernen. Dem Orient wie den Germanen ist, wie seit alters versichert wird, die Gastfreundschaft etwas besonders Heiliges: Empfangen wir den Gastfreund, der so sehr zu uns gehört! Er trete in den Divan, die Versammlung, junger deutscher Dichter, deren besten Überlieferungen er sich mit allem, was er durch Geburt mitbringt, längst angeschlossen hat! Und empfangen wir seine Gabe so generös, wie er sie uns hinstreckt! Sie ist Geschenk und Versprechen zugleich.

Max Rychner, Nachwort

 

Merkmalminiaturen zu Cyrus Atabay

Offenbar ein Ehrengast der Stille,
einer, der sich vor Wolken verbeugt,
einer, nach dem sich die Kirchenmaus
umdreht.

Im Herbst 56 lud Atabay mich erstmals zu sich ein. Ich fand ihn in einem Gartenhaus am Rand Münchens, mich überraschte die deutsche Behaglichkeit, in der sein geringer Besitz verschwand. Es gab ein Kastenbett, alt, aus Holz, und gewöhnliche deutsche Hauspantoffeln. Die Pantoffeln tauchten wieder auf in Berlin, im Hotel am Steinplatz, und einmal mehr aus Zufall im Bahnhof Zoo. Atabay stand dort mit kleinem Gepäck und wollte nach London. Wir hatten Zeit. Auf einem Stehbiertisch öffnete er den Koffer, er enthielt Manuskripte und die Pantoffeln. Abschriften neuer Gedichte kamen zum Vorschein, ich las sie und wir sprachen darüber, umgeben von Sonnenbrillen aus Ost und West. Er schob das Manuskript unter die Pantoffeln und fuhr nach London, ich fuhr mit der S-Bahn nach Ost-Berlin.

*

Wir aßen zur Nacht in einem Gartenlokal. Alles ging gut, bis der Kellner die Suppe brachte. Er war etwas fettbefleckt und abgemüht, etwas bitter und alt, ein hinkender Slawe, der das Lokal allein bediente. Atabay krakeelte mit dünner Stimme: Mann, wo bleiben Sie denn, was tun Sie hier überhaupt, nehmen Sie den Daumen aus der Suppe, undsoweiter. Der Kellner stellte die Teller hin und sagte (mit trauriger Höflichkeit, die ich kaum ertrug): Aber – ich verstehe Sie nicht, mein Herr, was meinen Sie denn – sehen Sie den Daumen? Er hielt uns den Daumen über die Tischecke hin. Sehen Sie? Trocken. War nicht in der Suppe. Atabay, nicht beeindruckt, lästerte weiter. Da er nicht zu bewegen war, den Mund zu halten, sagte ich zu dem Kellner, mein Freund hier habe zuviel gute Laune, er wolle sie loswerden, wisse aber nicht wie. Und zu Atabay: Noch ein Wort, und du bist allein. Er krähte weiter und ich ließ ihn sitzen, stand auf, ging fort.
Ein anderes Mal, wir saßen bei Freunden im Wagen, kritisierte er den Chauffeur so hemmungslos, so sehr von sich eingenommen und ohne Grund, daß der mit der Faust nach hinten schlug, dann den Wagen stoppte und flüsterte: Raus! Wie immer in solchen Fällen (sie häuften sich) verließ Atabay sein Fettnäpfchen folgsam und prompt, sprang auf die Verkehrsinsel einer leeren Kreuzung im bayrischen Hinterland, blieb dort stehen und sah dem Wagen nach, bewegungslos, eine dünne Gestalt. Nach ein paar Tagen kam er lächelnd wieder, und man trug ihm nichts nach. Als Günter Bruno Fuchs ihn kennenlernte, im KARPATENSTÜBL in Haiensee, führte Atabay ein paar Szenen auf, beklopfte den dicken Bauch seines neuen Bekannten, umschwärmte ihn laut – „Ist er nicht herrlich, ein punktueller Mensch“ –, sprang dann plötzlich auf und verließ das Lokal. Fuchs, gottloser Gottesnarr, das Kind, das des Kaisers neue Kleider erkannte, blieb lange stumm vor dem vollen Glas, und sagte:

Der is janz anders als ik. Würde ik nie jejen polemisiern.

In Atabays Prosa-Suite „Worte finden“ stehen die Sätze:

Mit einfachen Leuten verstand ich mich, Postbeamten, Handwerkern, Taxichauffeuren, redete und trank mit ihnen, Argot, Dialekt und Mutterwitz, das waren meine bevorzugten Niederungen, das Lächeln eines Kohlenmannes, der mir von einem Lastwagen zuwinkte, konnte mich wieder flottmachen.

In seinem Gedicht „Umrisse einer Luftspiegelung“ steht der Satz:

Ich handle aus eurer Erfahrung.

*

Die Schriftzeichen der Gedichte unseres Freundes
(den wir in Lenggries besuchten),
geschrieben mit der Tinte des Atropins,
leuchtend durch verschlossene Türen.

Im September 57 besuchten wir, unangemeldet, Günter Eich und Ilse Aichinger in Lenggries. Ihre Nachsicht ermöglichte ein Kennenlernen, das auch Cyrus Atabay nicht vergaß. Wohlbefinden, sehr aufmerksame Gespräche, bis der Gast seine Gastgeber zu traktieren begann – „Ist er nicht herrlich, Herr Eich, ein berühmter Dichter“ – und darauf bestand, Gedichte von ihm zu hören. Günter Eich hatte keine Lust zu lesen, Ilse Aichinger ging gereizt aus dem Raum. Mein Versuch, seine Launen in Grenzen zu halten, der Hinweis Eichs, er habe nur wenig geschrieben, machten keinen Eindruck auf Atabay. Er bedrängte und schmeichelte, Eich gab nach, und las mit verlangsamter Stimme, kühl und klar, das zuletzt entstandene Gedicht „Die Herkunft der Wahrheit“. Atabay sprang auf, begeisterte sich und lobte, nahm aber Anstoß an dem Wort PERVITIN. Wie können Sie so ein häßliches Wort gebrauchen, Sie mißhandeln das eigene Gedicht!

Einsichten aus Pervitin,
zum Abflug gesammelt mit den Schwalben.
Fort, fort in den Abend und übers Gebirge!

Zurückhaltend, mehr belustigt als irritiert, erläuterte Eich die Wirkung von Pervitin. Atabay beruhigte sich und hörte zu, schien etwas zu erfahren, das ihn betraf. Danach wurde Whisky getrunken und erzählt, man fuhr erst am Abend nach München zurück.
Atabay sprach von beiden immer wieder, betonte Einverständnis, zitierte Gedichte.

*

Der junge Dichter unterschätzte Menschen, besaß wenig Menschenkenntnis, erlebte sich selbst, amüsierte sich auf Kosten anderer, griff Leute an, die das nicht verdienten. Er konnte erstaunlich instinktlos sein. Davon wurde erzählt, davon kann ich sprechen, denn er änderte sich im Lauf der Zeit, unmerklich, langsam, verwandelte sich in den EHRENGAST DER STILLE (dem Wort Verwandlung hätte er zugestimmt). Mit dem Älterwerden kam die Bescheidenheit, er wurde ruhiger, erschien souverän, seine Klugheit glänzte ohne die vorlaute Art. Frivolität und Eitelkeit blieben gedämpft, er konnte sehr liebenswert sein, tolerant und offen, aus dem Lebensgefühl geformter Distanz.
Er erweckte den Eindruck, ohne Umgebung zu sein, tauchte auf und verschwand allein, schien immer allein. Ich bemerkte bald, daß er seine Freunde getrennt hielt, in verschiedenen Zwischenräumen der Biographie, in gespielter oder notwendiger Camouflage (er spielte mit Freundschaften, aber verspielte sie nicht). Es kann sein, daß fast jeder, der ihn kannte, eine andere Erscheinung als Ebenbild festhielt. Dichtung war für ihn eine WORLD IN THE WORLD, er nahm das Wort DICHTER als Tatsache für sich in Anspruch. Das Ungewöhnliche war nicht die Bezeichnung DICHTER, sondern daß er einer war.
Seine politische Ansicht betraf – im Gespräch, im Gedicht – fast ausschließlich Persien, die Entwicklungen im Iran, die er durchschaute, als Aristokrat und Staatsverächter verneinte. Von deutschen Verhältnissen war kaum die Rede. Er schien genug davon erfahren zu haben, in den Ortswechseln seiner Jugend, als Staatenloser, und zog es vor, sie zu ignorieren. Er ließ nichts dergleichen an sich heran, und verkörperte die – problematische – Unangreifbarkeit dessen, der sich selbst genügt.

*

Kennt man einen Menschen, dem man nicht folgen kann in die andere Sprache? Man folgt ihm, mit gutem Willen und etwas Talent, in Ideologie oder Religion, in die Privatheit und in den Traum, in Beruf und Handwerk, Hoffnung, Sorge, weit hinaus in eine gemeinsame Sprache, aber nicht in eine, die man nicht kennt. DIE AUSWIRKUNG PERSISCHER DICHTUNG AUF ATABAY, welcher Deutsche beurteilt, was das ist. Eine Nähe zur italienischen Elegie, er hatte vor allem Ungaretti gelesen (von Einfluß kann keine Rede sein).

*

Hellhörig für Kuriosa der deutschen Sprache (die ihm zeitlebens zu entdecken blieb), für Metaphern, Schlagertexte, veralteten Wortschatz – Maulschelle, Schalk, einen Türken bauen, jede Menge Barcelona, ins Hungertuch beißen. Während eines Spaziergangs nachts in Charlottenburg entdeckte er KASPERL, das Wort und den Namen, entzückte sich für die Silbe PERL, und lief, im Gespräch mit der Silbe und mir, immer wieder um den Savignyplatz. Sein Wünschelrutengeist trug die Schätze zusammen, sie tauchten verwendet-verwandelt in Versen auf.

*

Mit der Armseligkeit
ist kein Staat zu machen,
doch auch sie will ihr Recht,
will bei uns sitzen,
ratlos und beklagenswert.
Nicht gerade eine Gesellschaft,
die unserer würdig wäre.
Auch kann man nicht sagen,
wie man da hineingerät.
Der Clown soll weinen,
weinen soll er bitterlich.

Seine Poesie – der Unzugehörigkeit, des Verborgenseins – gibt nichts Tragisches zu erkennen, zeigt gelassenes Einverständnis, Tristesse und Spleen, Gleichmaß aus Selbstgenuß und Melancholie, dargeboten als Wohlklang, in heller Diktion. Zu schöne und seichte Empfindungen, scheint mir, finden Halt in prosaischer Intonation, ein Minimum Nüchternheit festigt den weichen Ton. Wohllaut, vermischt mit Glasstaub und Wermut, er sprach von seinem BEDÜRFNIS NACH HARMONIE. Sein Gedicht sollte keine Botschaft vermitteln. Poesie, ein GEBILDE, das Wort gefiel ihm, IN DER ZONE DER UNSCHÄRFE, DIE IHR WESEN IST.

*

Immer mal wieder rief er an – ob es richtig sei, nach Berlin zu kommen, richtig oder falsch, in München zu bleiben, winterüber in London oder Berlin zu leben, oder erst im Frühjahr nach London, danach auf Reisen –
Unfroh, locker befestigt am Ort, in der Zeit.

*

Er hatte Zeit wie kein anderer, den ich kenne, verfügte sein Leben lang über Mittel, die ihm sorglose Gegenwart erlaubten. Zeithaben war Voraussetzung seines Daseins, er verbrauchte es für sich und seine Interessen, Privatgelehrter der Dichtung und Philosophie, Flaneur, Ästhet und ein Leser, den man sich wünscht. Er ließ sich selbst und den Büchern Zeit, schrieb Kritik und Querverweis an den Rand der Seite, war gern mit Buch & Bleistift unterwegs. Er wußte viel von persischer, jüdischer Mystik und sprach davon mit einfachen Sätzen, in gleicher Weise von MEDITATION. Als ich kein Geld hatte, Bücher zu kaufen, schickte er eigene, die er für wichtig hielt, ich las seine Anmerkung und ergänzte sie. Sein Englisch war perfekt, er sprach ohne Akzent, schwärmte für Wallace Stevens, den keiner hier kannte, und zitierte Keats und Shakespeare im Original. Ich widersprach, wenn der Schwarmgeist ihn forttrug, und er meinte lachend, du nimmst das zu ernst. Ich gab ihm mein Buch Die Balladen des Thomas Balkan, er sagte, es sei das Buch eines langen Abschieds. Abschied wovon. Und Atabay: Nun – von der Welt, wie sie war. Was er sagte, traf zu. Seine kritische Hellsicht überraschte, wenn er die Sache für möglich hielt.

*

Ein paar Wochen lang trafen wir uns täglich, in Bars und Bierlokalen am Kurfürstendamm, an Nachmittagen, in eisgrauer Dämmerung, man saß am Tresen und blickte in den Verkehr. Er liebte diesen Moment wie ich, illustrierte ihn mit Zitaten von Auden und Benn.
In diesem Winter hatte er sich verliebt. Ich traf einen Menschen, der verändert war, nachdenklich, zögernd, empfänglich für Sympathie, voll Humor und Charme. Er sprach vorbehaltlos, wie mir schien, und mit Ironie, von privaten Belangen und was das sei, exaltierte in Hoffnung und Illusion, ermattete schnell in Melancholie. Er liebte einen sehr jungen Studenten, der Atabays Zustand nicht wahrnahm, nicht wahrnehmen konnte, da er selbst eine reiche Erbin liebte, die in Mexiko oder Kolumbien verschwunden war. Atabay bat mich mehrmals, ihn zu begleiten, und vielleicht war der Ahnungslose erstaunt, zwei Poeten öfter als möglich bei sich zu sehen.
Dann war Atabay aus Berlin verschwunden, über Nacht, kein Adieu.

*

Am Tag des Jüngsten Gerichts
wird man dich armen Teufel fragen:
Kanntest du je einen Gerechten
oder närrischen Weisen?
Und wenn du die Frage bejahst
wird der Erlaß lauten:
Wir vergeben dir um seinetwillen.

Christoph Meckel, aus Werner Ross (Hrsg.): Poet und Vagant – Der Dichter Cyrus Atabay, C.H. Beck Verlag, 1997

Anfänge in Heidelberg

– Frühe Erinnerungen an Cyrus Atabay. –

Wie Laura und Tom, die Geschwister in Tennessee Williams’ Theaterstück Die Glasmenagerie – das man eben im Zimmertheater spielte –, lebten sie zusammen: Valentina, die Studentin aus Rußland, und Cyrus, der junge Mann aus Persien. An einem Nachmittag im Frühjahr 1951 war ich zu Gast in ihrer Zweizimmerwohnung in der Altstadt von Heidelberg. Die Einladung verdankte ich Valentina: Ich hatte ihr geholfen – sie ging an zwei Stöcken –, die wuchtige Treppe im Gebäude der Neuen Universität hinabzusteigen. Sie hatte mir jedoch nicht gesagt, daß sie nicht allein lebte.
Wir saßen um einen runden Tisch, tranken russischen Tee und sprachen über Rußland. Im Herbst 1949 erst war ich nach viereinhalb Lagerjahren aus Rußland heimgekehrt und setzte nun das lang unterbrochene Studium fort. Doch wichtiger war mir das Schreiben. Schon hatte ich Kurzgeschichten in Zeitungen und Gedichte in der Anthologie Die Dichterbühne veröffentlicht. Aber wer war der fremde junge Mann, der eher verschlossen als verbindlich wirkte? Ein Perser? Ein Student? Er besuchte, kam heraus, weder Vorlesungen noch Seminare. Er spottete über Professoren, die Germanistik lehrten. Er wolle später, sagte er, als Lektor in einem Verlag tätig sein, der ausschließlich Gedichtbände verlege! „Er liest den ganzen Tag“, sagte Valentina. „Ich schreibe Gedichte“, sagte er.
Er nahm mich mit in sein Zimmer. Gegen Valentinas Zimmer wirkte es spartanisch. Auf dem sonst leeren Tisch lag ein einziges Buch: der Gedichtband Die Holunderflöte von Peter Gan. Ich wollte es nehmen, darin lesen, doch der junge Mann hielt meine Hand zurück und rief mit heller Stimme:

Sie dürfen es nicht anfassen! Es ist mir heilig, das Buch.

Ja, etwas seltsam war er, der junge Mann, Cyrus Atabay.
Ich wußte nichts über seine Herkunft: Nicht, wann er von Berlin nach Heidelberg gekommen war, was ihn mit Valentina verband, wie er sein Leben bestritt. Und wie seine Gedichte waren. Er hat mir damals nie ein Gedicht gezeigt, doch er sprach immerfort über Gedichte und wie sie nach seiner Vorstellung sein mußten. Ich konnte ihn nicht gewinnen für die Lyriker, die ich las und liebte: Wilhelm Lehmann, Peter Huchel, Karl Krolow, Jürgen Eggelbrecht, die Naturmagier. Ich hatte mir die Bändchen von Gottfried Benn gekauft: Statische Gedichte, Trunkene Flut. Besonders gefiel mir der Band Traumkraut von Yvan Goll. Cyrus hatte sich ausschließlich für Peter Gan entschieden. Bald danach fand er in Gottfried Benn sein Vorbild, den er ebenso verehrte wie Peter Gan.
Er zeigte mir, daran erinnere ich mich, den Ausschnitt eines Zeitungsgsblattes. Max Rychner, Feuilletonredakteur der Zürcher Zeitung Die Tat, hatte 1950 drei oder vier Gedichte veröffentlicht, daneben einen kurzen Text, der die Gedichte des persisch-deutschen Lyrikers rühmte und interpretierte. Zu Recht war Cyrus stolz auf dieses Zeitungsblatt.

Wir wurden Freunde, darf ich sagen. Wir trafen uns in der Stadt. Er kam zu mir zu Besuch. Ich wohnte weit draußen am westlichen Rand der Stadt in der Siedlung Heidelberg-Pfaffengrund. Mein Bruder Theo hatte dort sein fünftes Kino erbaut; und für mich, über dem Eingang, eine Wohnung. Er wollte mir, dem Spätheimkehrer, helfen, und ich sollte ihm dafür nebenbei sein Kino verwalten. Zum Mittagstisch ging ich manchmal in ein nahegelegenes Gasthaus und nahm dann meine Besucher mit. An den Weg dorthin mit Cyrus erinnere ich mich. Er ging nicht neben mir auf dem asphaltierten Gehweg entlang der Landstraße, sondern schritt im Abstand von zehn Metern über die Felder, die Saat, das Gras. Hatte ich ihn verletzt? Wollte er der Natur nahe sein, ungestört, schweigend? Er war schwer zu durchschauen, obwohl wir Freunde waren.

Anderen, Studenten und Studentinnen, die mich besuchten, gefiel meine ungewöhnliche Wohnung; hier konnten sie Filme ansehen, ohne Eintrittsgeld. Cyrus verabscheute Filme. Er besuchte weder die Opernaufführungen im Stadttheater noch die Schauspielaufführungen im Zimmertheater. Aufregende Stücke spielte man, von Tennessee Williams, Jean Anouilh, Georg Kaiser. Auch sonst schien Cyrus bedürfnislos zu leben. Trug er nicht immer denselben Anzug, dasselbe Hemd? Einmal bat er mich, ein Telefongespräch führen zu dürfen, nach Teheran. Ich hörte ihn mit seiner Mutter sprechen, stockend, aufgeregt. Die Verständigung schien nicht leicht zu sein, als hätte er seine persische Muttersprache verlernt.

Meine Kinowohnung – Heidelberg-Pfaffengrund, Möwenweg 1 – wurde meine erste Redaktionsadresse. Zusammen mit Heinz Schöffler, meinem Freund aus Schülertagen, gründete ich die Konturen – Blätter für junge Dichtung, die zuerst Axel Orthmann, ein dilettantischer Verleger in Aschau im Chiemgau, später VauO Stomps in Frankfurt und Stierstadt im Taunus druckte. Ich lernte andere Studenten kennen, denen das Schreiben wichtiger war als das Studieren: Gert Kalow, Reinhard Lochner, Ernst Meister, Reinhard Paul Becker. Neben Ernst Meister bewunderte ich vor allem Reinhard Paul Becker. Er hatte schon einen Gedichtband in der Eremiten-Presse veröffentlicht und übersetzte Gedichte von Dylan Thomas. Wie spannend konnte er vom Leben dieses walisischen Genies erzählen und uns mitreißen in seine Begeisterung! Von Dylan Thomas nahm ich deshalb den Titel für meine erste Anthologie: Jahrmarkt des Traums. Ich stellte darin meine dichtenden Freunde vor, mit Lyrik und Prosa. Andere Autoren, berühmte, die in anderen Städten und anderen Ländern lebten, kamen zu Besuch: Ferdinand Lion und Wolfgang Cordan, Heinz Risse und Friedrich Burschell, Hans Erich Nossack und Wolfgang Weyrauch, Peter Huchel und Karl Krolow, Johannes Poethen und Wolfgang Bächler, Hermann Lenz, Arnim Juhre, Martin Walser und Walter Höllerer. Freundschaftliche Verbindungen, die sich danach mit meinem Leben, Schreiben und Herausgeben verknüpften.
Schade, Cyrus war nicht mehr in Heidelberg, und ich hatte sogar mitgeholfen, ihm den Umzug nach München zu erleichtern. Wilhelm Korff war zu Besuch gekommen. 1940, als Student in Erlangen, hatte ich mich mit ihm angefreundet. Er war fünfzehn Jahre älter, hatte schon damals zwei Märchenbücher veröffentlicht, und Professor Benno von Wiese hielt ihn für den gescheitesten unter den Studenten. Er schrieb eine Dissertation über Novalis. Nun war Korff Kulturreferent der Stadt Nürnberg und besaß in München ein Gartenhaus. Ich fragte ihn, ob er Cyrus bei der Wohnungssuche in München behilflich sein könne. Großzügig bot er an, Cyrus könne, bis eine Wohnung gefunden sei, in seinem Gartenhaus unterkommen. Doch Cyrus, wahrscheinlich auch Valentina, die mitzog, wollten nicht so bald, wie Wilhelm Korff es sich vorgestellt hatte, ausziehen. Ich weiß nicht, wieviele Wochen oder Monate sie im Gartenhaus blieben. Korff gab mir die Schuld. Unsere Freundschaft zerbrach. Auch die Freundschaft mit Cyrus schien zu Ende.

Ferdinand Lion, der regelmäßig zu Besuch nach Heidelberg kam, bat mich, den Juror zu spielen für einen Preis, den der elsässische Industrielle und Dichter Hugo Jacobi testamentarisch verfügt hatte. Gern sagte ich zu; ich wollte den jeweiligen Preisträger zudem in einer jährlichen Anthologie vorstellen, für die ich Dr. Herbett G. Göpfert, den Lektor, und Dr. Carl Hanser, den Verleger, gewann. Rainer Brambach und Hans Magnus Enzensberger waren die Preisträger 1956 und 1957. Als dritten Preisträger schlug ich Cyrus Atabay vor. Zehn Gedichte nahm ich in die Junge Lyrik 1958 auf. Auch deshalb habe ich Cyrus wohl gewählt, weil ich ihm damit ein Zeichen geben konnte: Die Verärgerung über das Gartenhaus war vergessen. Die Vergabe des Preises bot, nach sieben Jahren, die Gelegenheit zur Versöhnung.

In Zürich, im Hotel zum Storchen, hatte Pablo Jacobi, der Bruder des verstorbenen Preisstifters, das Festessen bestellt. Er, der meist unterwegs war, begleitet von einer jungen Frau, hatte sich in den Kopf gesetzt, alle Länder der Erde zu bereisen. Saß man ihm gegenüber, nahm er den Paß aus der Jackentasche und zeigte die vielen, vielen Stempel, die seine Aufenthalte in aller Welt bezeugten. Literatur interessierte ihn kaum, doch nie vorher oder nachher erlebte ich einen Mäzen, der so zufrieden, so stolz war über die Entscheidung einer Jury. Zu jedem Gast, der ins Restaurant trat, hörte ich ihn sagen:

Unser Preisträger ist ein persischer Prinz!

Cyrus und ich ließen die Zeremonien über uns ergehen. Wir lachten. Wir waren versöhnt.

Zwei Jahrzehnte später, 1982 wahrscheinlich, hätte ich Cyrus beinahe wieder zu einer Wohnung verholfen. Er war aus London nach Köln gekommen. Er habe das Gefühl, sagte er, sich in England der deutschen Sprache, die er schrieb und liebte, zu entfremden. Er könne sich vorstellen, in Köln zu leben. Mit Hilfe einer Immobilienfirma verschaffte ich ihm Adressen in Wohnvierteln, die ihm gefallen mußten, doch bei der sicher nicht leichten Suche ließ ich ihn allein. Schon am zweiten oder dritten Tag gab er auf, erschöpft. Er sagte, Köln sei eine fürchterliche Stadt. Die Absicht jedoch, London zu verlassen, war damit nicht aufgegeben. 1983 zog er nach München, wo sein peripatetisches Leben zur Ruhe kam.

Wir trafen uns noch einige Male, in München, in Köln, in Düsseldorf, 1989, als seine Verleger Friedolin Reske und Jens Olsson das 40. Jubiläum der Eremiten-Presse feierten. Unbeschwerte, freundliche Begegnungen und Gespräche. Anderen, Jüngeren, die dabei waren, hatten Cyrus und ich unsere Erinnerungen voraus: die Tage und Stunden in Heidelberg, Anfänge und Ahnungen, die ich auf diesen Seiten, wie mein Gedächtnis sie bewahrt, festzuhalten versuche.

Hans Bender, aus Werner Ross (Hrsg.): Poet und Vagang. Der Dichter Cyrus Atabay, C.H. Beck Verlag, 1997

 

 

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