Elisabeth Borchers: Zu Rolf Haufs’ Gedicht „Drei Strophen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rolf Haufs’ Gedicht „Drei Strophen“ aus Rolf Haufs: Juniabschied. 

 

 

 

 

ROLF HAUFS

Drei Strophen

Mein Leben ist in Stücke ich will
aaaaaauch keine Ruh
aaaaaihr könnt zu Ende stechen
aaaaaich werde mich nicht rächen
aaaaawas immer ich jetzt tu

Die Taten sind begangen ich will
aaaaaauch keinen Trost
aaaaaschreibt sie an alle Wände
aaaaaund richtet eure Hände
aaaaaauf mich den traf das Los

Die Fäden sind gerissen ich will
aaaaadaß immerhin
aaaaanoch einmal jemand käme
aaaaaund mich verändert nähme
aaaaadaß du es wärst gäb Sinn

 

Wenn alles vorbei ist

Inmitten vieler einander zugehöriger Gedichte eines Gedichtbuchs findet sich eines, das ausweicht: es schmückt sich mit Verzicht, mit Reim und Rhythmus eines Liedes. Nur dieses. Sonderbar. Sonderbar auch, daß es auf so unauffällige, so stille, geradezu lautlose Weise geschieht, als habe es das Gedicht darauf abgesehen, überhört und überlesen zu werden. Kaum aber hat man es – wie zufällig – wahrgenommen (das weiße unter den schwarzen Schafen), nimmt man es wieder und wieder auf. Was sich bescheiden hält, ist mehr.
Um glaubwürdig zu gestehen: „Mein Leben ist in Stücke“, bedarf es nicht nur eines in Stücke geratenen Lebens, auch der Annahme dieser Tatsache und der Fähigkeit, sich abzufinden. Wer dermaßen erkannt und sich abgefunden hat mit allem, was geräuschvoll zu Bruch und in Scherben gegangen ist – jenseits von Schuldzuweisung und Mitleidsforderung, von Klage- und Hoffnungskunst –, der bedarf der Schonung nicht mehr, die ein Kranker oder Rekonvaleszent braucht. Diejenigen, die zugeschlagen haben, dürfen weitermachen, das Ende hat längst stattgefunden, und nichts mehr ist reparabel. Sie dürfen „zu Ende stechen“: sie haben nichts zu befürchten. Er wird gelassen bleiben. Die Zeit des Widerstands oder des Rachegelüsts oder des Wunschs, getröstet zu werden – das alles ist vorbei.
Auch „Die Taten sind begangen“. Die eigenen und die der anderen: sie sollen kundgetan werden, damit jeder sie erfahre, an alle Wände seien sie geschrieben, als öffentlich zu machende Hinterlassenschaft. Mit dem Finger darf auf ihn gewiesen werden, nein, schlimmer noch: die Hände (die zu Ende stechen) dürfen es sein, damit jeder erfahre, wie es dazu kam: „den traf das Los“. Der Zufall hat sich der Sache Leben angenommen, das Los, das blindlings trifft, hat entschieden, „Die Fäden sind gerissen“.
Und ein drittes Mal: „ich will“. Zweimal schon hätte es schrill und schnell und aufbegehrend tönen können und war doch nur Abglanz, Reminiszenz. Beim dritten Mal „ich will“ aber scheint sich das Tempo zu beschleunigen, durch den Anflug einer denkbaren Möglichkeit, gerettet zu werden. Rettung, wo alles längst zu Ende ging? Wer aber bist „du“, dem dieses gelänge? – „daß du es wärst gäb Sinn“. Ein Mensch der nächsten oder der einmal gewesenen nächsten Nähe? Daß er zurückkäme, die durch Leid bewirkte Veränderung erkenne, zu einem Neubeginn?
Oder sollte dieses klein, doch kursiv geschriebene „du“ ein Glaubensbekenntnis sein? Eine Paraphrase auf das „Wer so stirbt, der stirbt wohl“, die letzte Zeile des Kirchenliedes „O Haupt voll Blut und Wunden“? Das Lied, das sich des die Sonne verfinsternden menschlichen Elends annimmt. Wären die „Drei Strophen“ ein dreimaliges Kreuz und die Rede des einen der Schächer am Kreuz?
„… gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!“ „daß du es wärst gäb Sinn“. Sollte dies der wahre Grund der Strophen sein, müßten wir von vorn beginnen. Oder jeder für sich.

Elisabeth Borchersaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Neunter Band, Insel Verlag, 1985

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