Fabián Casas: Mitten in der Nacht

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Fabián Casas: Mitten in der Nacht

Casas/Krebber-Mitten in der Nacht

KREISLÄUFE

Ich habe mit deinem Henker gesprochen,
ein gepflegter, liebenswürdiger Herr.
Er sagte, weil ich es sei,
könnte ich mir die Art, wie du von uns gehst, aussuchen.
Die Inuit, erklärte er, würden, wenn sie alt seien,
in die Weiten des Packeises ziehen,
und von den Bären gefressen.
Andere landen lieber auf der Intensivstation:
panische Ärzte, Plastikschläuche, künstliche Beatmung
und sogar ein Priester am Bettende,
der Zeichen macht wie eine Stewardess.

„Muss ich…?“, habe ich gefragt.
„Bei so einem Regen wär’ ich sonst nicht gekommen“, sagte er.
Dann sprach er vom Zyklus eines Menschen, von Geburtstagen,
der keimfreien Dialektik des Fußballs, der Kindheit
und ihren riesigen Hallen mit dem Geruch von Autoreifen.
„Aber“, sagte er lächelnd,
„am Ende verschlingen die Krankenwagen alles und jeden.“
Also unterschrieb ich
und fragte, wann es denn soweit wäre…
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaJetzt, sagte er.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaJetzt
halte ich deine Mehrweg-Urne im Arm
und versuche, nicht zu weinen,
nicht ein Geräusch zu machen,
damit du von oben
die erhobene Hand deines Falkners
sehen kannst.

 

 

 

Die unwahrscheinliche Ehrenrunde

In den Weiten des Worldwideweb findet sich die bemerkenswerte Aufzeichnung eines Interviews, das Peter Nazareth, Professor of African and American World Studies an der University of Iowa, mit Fabián Casas geführt hat. Der argentinische Dichter reflektiert darin – so die Ankündigung auf der Internetseite – „the influence of philosophy and politics on his work and the influence of philosophy and poetry on his politics.“ Themen des Gesprächs sollen Hegel und Borges sein. Über Hegel hat Casas ein Gedicht geschrieben, über Borges nicht – doch der Großdichter ist immer präsent, wenn man über argentinische Literatur spricht.
Casas’ Englisch ist prekär. Nazareth, malaysischer Abstammung und in Uganda geboren, beherrscht das Spanische nicht. Ein brasilianischer Student, der ebenfalls kein Spanisch spricht, versucht sich als Dolmetscher. Doch Casas kann dem nasalen brasilianischen Portugiesisch kaum folgen. Das von Nazareth versprochene „experiment in communication“ endet in einer erwartbaren Konfusion. Und zeigt gleichzeitig wie interkulturelle Missverständnisse doch zu einem großen gemeinsamen Ganzen führen: Das Aneinander-vorbei-Sprechen verrät viel über die Art wie US-Akademiker, Brasilianer und Argentinier Dichtung verstehen: Nazareth, der mit professoralem Gestus die Weltpoesie klassifiziert, Casas, dessen autodidaktische Lektüren fragwürdiger spanischer Übersetzungen der Klassiker der Philosophie- und Literaturgeschichte mit einer postadoleszenten Lebenswelt verschmelzen, und der brasilianische traduttore-traditore, der in schillernden Phrasen sein Wissen um beide Kulturkreise zur Schau stellt, es aber nicht schafft, begehbare Brücken zu schlagen.
Es war Fabián Casas’ erster Auftritt in einem internationalen Kontext. Auf Einladung des Schriftstellerprogramms der Stadt Iowa verbrachte er den Winter 1998 in den USA. Fast zehn Jahre später, 2007, steht er in der Akademie der Künste in Berlin am Pariser Platz und nimmt den renommierten Anna Seghers-Preis entgegen. In seiner Dankesrede übersetzt er seinen Nachnamen – der griechischen Ursprungs ist – ins Deutsche:

… in Germany you can call me Kasperhauser. Danke.

Die geladenen Ehrengäste brechen in tosenden Beifall aus. Wo immer Fabián Casas auftritt, gelingt es ihm, mit einfachen Mitteln das Publikum für sich einzunehmen. Demagogie im ursprünglichen, positiven Sinne, ist deshalb eine der unbestreitbaren Qualitäten seiner Dichtung: Casas hat Stilmittel der Rockmusik, Riff und Hookline, für seine Lyrik produktiv werden lassen. Er zählte zu jener Generation junger Dichter, die Anfang der 1990er-Jahre die verkrustete Poetik der damals in Argentinien vorherrschenden Schule des Neobarroco aufgebrochen haben. Aber er schlug ebenso wenig den Weg des auf- und abgeklärten „Objektivismus“ ein, den andere aus seiner Generation wählten. Mit seinem human touch, spontan zugänglichen Gedichten, in denen er das empfindende, empfindsame lyrische Ich – mal ironisch, mal als mitfühlende Person – wieder ins Spiel gebracht hat und seiner gleichsam alltäglichen als auch philosophischen Tonlage wurde er zu einem der wichtigsten Vorläufer der jüngsten argentinischen Lyrikszene.
Casas bleibt dennoch ein Solitär. Er veröffentlicht wenig und in großen Abständen. Kaum mehr als fünf Gedichtbände – Tuca (1990 ), den Doppelband Salmón / Pogo (1994), Oda (2003), El spleen de Boedo (2003) und El hombre de overall (2006) – sind in fast 20 Jahren erschienen. Casas sagt, dass ihn der Horla von Zeit zu Zeit heimsucht, jenes von Guy de Maupassant erdachte Fabelwesen, das seine „musiquita“, seine innere Musik, zum Verstummen bringt. Zusammen mit seiner Lebensgefährtin und einem Border Collie namens Rita bewohnt er unweit des argentinischen Kongressgebäudes die obere Etage eines Altbaus im Stadtviertel Montserrat. Der kleinste Raum ist das mit Büchern vollgestopfte Arbeitszimmer. Hier sitzt er an Samstagnachmittagen über seinen Manuskripten. Unter der Woche verdingt er sich als Chefredakteur von El Federal, einer Zeitschrift, die sich Kühen, Steaks und Sojaplantagen widmet und es dennoch tunlichst vermeidet die schon Klischee gewordene Welt der Gauchos, der argentinischen Cowboys, heraufzubeschwören…
Aber an Samstagen schreibt Casas, schreibt an seinem großen Roman, wie er sagt, dem argentinischen Harry Potter, der ihm das sabatical auf Lebenszeit bescheren soll. Sonntags geht er, wenn sein Club, der Atlético San Lorenzo de Almagro, ein Heimspiel hat, mit seinem Vater ins Stadion.
In seinen Gedichten klingen in einem zwischen Hommage und persiflierender Aneignung schwankenden Gestus die Klassiker der westlichen Literatur an: Dante, Ezra Pound, Walt Whitman, T.S. Eliot, Ashbery und Frank O’Hara; aber auch die Argentinier Joaquín Giannuzzi, Alberto Girri und Ricardo Zelarayán.
Casas hat die Art verändert, in der in Argentinien Gedichte geschrieben werden. Doch das war keine geplante, programmatische Entscheidung, es war vielmehr eine dichterische Notwendigkeit. Casas erzählt im Gespräch mit dem Herausgeber 2009:

Als ich mich Anfang der 1980er Jahre dafür entschied, Gedichte zu schreiben, fragte ich in einem Buchladen nach, was der zur Zeit angesagteste Gedichtband war. Und sie suchten mir ein Exemplar von Alambres, von Poronguer (Néstor Perlongher) heraus. Nach der Lektüre, sagte ich mir: „Siamo fuori“ – so werde ich nie schreiben können: Man versteht rein gar nichts. Danach verfasste ich die Gedichte von Tuca und dachte: Ihr könnt mir alle mal den Buckel runterrutschen.

Und Casas fügt nicht ohne Selbstironie hinzu:

Und so erfand ich die Poesie der 1990er-Jahre und wurde ein Rockstar.

Betrachtet man die Medienpräsenz Casas’ in Argentinien, seine Auftritte als Präsentator der beliebten Rockband Elquematóunpoliciamotorizado („Derdereinemotorradstreifeumgebrachthat“) aus La Plata, und zieht auch das Urteil argentinischer Kritiker zu Rate, dann scheint die Selbsteinschätzung wider Erwartens nur wenig übertrieben. Die Literaturwissenschaftlerin Ana Porrúa beschreibt Casas als „die Stimme einer Zeit“, die durch ihre Dichtung die Anliegen einer Generation amalgamierte. Wichtig sei, so Porrúa, „der Ton seiner Poesie, die Kadenz“ gewesen, weniger die eigentlichen Themen. Und dieses besondere Register habe einen starken Einfluss auf einen großen Teil der Dichter, die nach ihm kamen, ausgeübt. Ähnlich äußerte sich auch Daniel Freidemberg über Casas’ Gedichte:

Casas würde nie ein Wort wählen, wenn es für ihn nicht „klänge“, wenn der Satz oder der Schreibfluss sich ihm nicht aufzwängte, wie eine unwiderlegbare Wahrheit, aufgrund seines Klanges und seines Sinnes. 

Casas hat seine Väter nie versteckt, er hat ihnen stets einen exponierten Platz eingeräumt – auch dann, wenn er wie im Fall von Giannuzzi die Trennungslinie scharf markiert hat. In diesem Sinne scheint Casas’ Poesie nicht als ,Bruch‘, mit der Vergangenheit, auch wenn er beständig bestimmte Auswüchse des „Kolloquialismus“, der platten Gesprächigkeit der „politischen Poesie“ der 1960er in Frage stellt und sich stattdessen Mitteln des US-amerikanischen Modernismus bedient. Casas wurde so zu einer bedeutenden Figur im poetischen Feld der argentinischen 1990er Jahre – und das gerade weil sein erster Gedichtband Tuca schon zu Beginn jenes Jahrzehnts veröffentlicht wurde. Wie Daniel García Helder, Osvaldo Aguirre oder Juan Desiderio, die abweichende Poetiken entwickelt haben, wurde Casas so zu einem der wichtigsten Vorläufer und zugleich Vertreter der sogenannten „Poesie der 90er“.
Im argentinischen Winter 2008 wohnte ich einige Wochen bei Casas. Manchmal saß er im Wohnzimmer, rauchte Havanna, trank einen schottischen Whiskey und hörte eine Platte von Frank Zappa oder Roberto Carlos. In diesem Stadium beachtete er mich meist nicht. Wenn doch, lud er mich auf einen fingerbreit Single Malt ein und stellte die Musik lauter – ich bin mir bis heute nicht sicher, ob er dies tat, damit wir nicht miteinander sprechen mussten… Eines Abends, es war Anfang Mai und für die Verhältnisse von Buenos Aires schon empfindlich kalt, landete ich mit Freunden spät abends in einer Pizzeria in Montserrat. Auf den von den Decken hängenden Fernsehschirmen lief eine argentinische Let’s Dance-Show-Adaption, in der halbprominente Damen nach vollbrachter Kür es über sich ergehen lassen mussten, dass ihnen ein schmieriger Moderator mit einer Schere die Röckchen abschnitt. Plötzlich winkte jemand von der Bar zu uns herüber: Fabián Casas stand am Tresen über einem Stück Fugazetta. San Lorenzo, sein Team, hatte an diesem Abend gespielt. Kaum war ich bei ihm, fiel er mir schon um den Hals und schluchzte: Sie haben doch noch gewonnen.
Die ewigen Dritten – nach den Traditionsvereinen River Plate und Boca Juniors – hatten ein wahres Wunder vollbracht: San Lorenzo war im Viertelfinale des südamerikaweiten Turniers Copa Libertadora. Im auswärtigen Rückspiel gegen River Plate lagen sie noch in der 70. Minute mit zwei Mann weniger auf dem Platz zwei Tore zurück. Die Mannschaft schaffte es dennoch den Rückstand aufzuholen und kam wegen des besseren Gesamtergebnisses in die nächste Runde. Ein unglaublicher Sieg der den Gesetzen des Fußballs trotzte.
Als San Lorenzo das zweite Tor schoss, sagte Casas, habe er die Rollläden seines Arbeitszimmers aufgestoßen und nach draußen gebrüllt: SAN LO-REEENZO!!! Doch er hatte zuvor schon eine Handvoll Beruhigungstabletten geschluckt. Er hatte noch nicht zu Ende erzählt, da klappte er schon zusammen. Mit der Hilfe einiger Freunde schleppten wir ihn nach Hause.
Rita wartete an der Türe auf uns, stellte sich auf ihre Hinterbeine und so – größer als Casas – leckte sie ihm über seinen kahl rasierten Schädel. Er kam wieder zu sich und herzte sie. Später nahm er auf dem Sofa Platz. Aus den Boxen erklang die warme Stimme von Roberto Carlos. Und ich gefiel mir in der Rolle, ihn an die unwahrscheinliche Ehrenrunde seiner Lieblingsmannschaft zu erinnern. Die hatte er fast schon vergessen…

Timo Berger, Nachwort

 

Der erste Band der luxbooks.latin

stellt den argentinischen Dichter Fabián Casas vor, der 2007 den Anna-Seghers-Preis zugesprochen bekam. Casas ist ein lakonischer Drahtseil-Artist über den Abgründen der Zivilisation. Geradezu zärtlich umtanzt er die Einsamkeit in Beziehungen. In seinen Gedichten finden sich Wendungen und Rhythmus der Straßensprache von Buenos Aires und Einflüsse der New York School um Frank O’Hara.

amazon.de, Ankündigung

 

Nina Apin: Nackt im Innenhof. Der Dichter Fabián Casas bekommt den Anna-Seghers-Preis

Camilla Hildebrandt: „Poesie setzt einen fragenden Zustand voraus“

Benjamin Loy spricht mit Fabián Casas – „Das Interessante liegt immer in den Kreuzungen!“

Leopold Federmair: Die wilden Neunziger

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer

 

Fakten und Vermutungen zum Autor
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Fabián Casas’ Gedichtvortrag „El pequeño mecanismo de los acontecimientos“ (Der kleine Mechanismus der Ereignisse).

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