Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Blind geschrieben, blind gelesen (Teil 1)

Blind geschrieben, blind gelesen
Dichtung als Klangereignis

 

Blindheit und Mündlichkeit hängen in der Alltagswelt wie in der Welt der Literatur eng zusammen. Wer nicht sehen, nicht lesen kann, kann auch nicht schreiben (es sei denn mit Hilfe künstlicher Intelligenz), bleibt folglich angewiesen aufs Hören als Ersatz für die Lektüre und muss diktieren, was schriftlich festgehalten werden soll. Dadurch wird die Stimme gegenüber dem Auge und der Hand nicht nur aufgewertet, sie gewinnt den Vorrang vor beiden.
Alle massgeblichen Religionsstifter waren Praktikanten und Meister mündlicher Lehre – ihre Rede wurde vernommen, aufgeschrieben, dabei wohl auch abgeändert oder ergänzt, schliesslich als heiliger Text sanktioniert, mit Wahrheitsanspruch und mit Gesetzeskraft ausgestattet. Auch zahlreiche Philosophen haben aufs Schreiben verzichtet im Vertrauen darauf, dass ihre Schüler das Vorgetragene protokollieren, es schriftlich bewahren und an spätere Leser übermitteln würden.

Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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