Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Das Gedicht als Sprachereignis (Teil 2)

Das Gedicht als Sprachereignis

Teil 1 siehe hier

Ich rücke hier ein eigenes, bisher unveröffentlichtes Gedicht ein, um de Saussures Beobachtungen, die ja allgemeine Geltung haben sollten, beispielhaft zu veranschaulichen:

Was dem Blinden die Nacht                    (1)
ist? Eine Binde nein
eher ein Wortgewicht. Nicht
viel schwerer als echtes
Licht oder ein falsches Versprechen.     (5)
Ech! komm und aber nein
geh nicht zu weit. Am weitesten
reicht (noch weiter als
Blindheit) der geräumige Himmel
des Unwissens.                                           (10)

Tatsächlich lässt sich hier leicht der fragmentarische Subtext erkennen, aus dem heraus das Gedicht sich entfaltet. In den Versen (1) bis (3) sind es die Lautverbindungen «inde» (Blinden/Binde), «ein» (eine/nein/ein), «ich» (Gewicht/nicht), dazu die Umlautung «acht»/»icht» (Nacht/Gewicht/nicht). In (3) bis (6) fungieren entsprechend «icht» (nicht/Licht), «ech» (echtes/Versprechen/ech!) sowie «wer»/»ver» (schwerer/Versprechen), derweil (5) bis (9) dominiert sind vom Doppellaut «ei» (ein/nein/weit/weitesten/reicht/weiter/Blindheit). Die solcherart sich häufenden Lautverbindungen scheinen als Attraktoren automatisch immer noch mehr klangähnliche Kombinationen nach sich zu ziehen.
So weit so klar.
Doch eindeutig ist die Sachlage auch für mich nicht, der ich als Autor doch eigentlich wissen müsste, welche Wortwahl ich beim Schreiben bewusst getroffen habe und was mir beiläufig eingefallen, zugefallen ist.
Nein, genau weiss ich’s nicht.
Der Vorgang ist mir nicht mehr präsent, und ich kann ihn auch nicht rekonstruieren. Ob (und inwieweit) der Text gewollt oder ungewollt so geworden ist, wie er nun dasteht, muss offenbleiben. Nur als das, was dasteht, soll er – als Gedicht – gelesen und (so oder anders) verstanden werden.

 

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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