Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Gedichte als Fremdgänger (Teil 1)

Gedichte als Fremdgänger
Vom Wiederlesen eigener Texte

 

1

Es kommt vor, dass ich in irgendeiner Anthologie oder im Internet auf einer Lyrikline Gedichte entdecke, die angeblich von mir sind, die jedenfalls meinen Namen tragen. «Entdeckung» ist für solche (stets zufälligen) Wiederbegegnungen mit eigenen Texten das passende Wort. Denn was da gedruckt steht, begreife ich vorab als Fremdtext, lese es wie zum ersten Mal, bin meist erstaunt, bald irritiert, bald positiv überrascht, dass «so etwas» unter meiner Hand entstanden sein soll. Vermutlich wird dieser Verfremdungs- oder Entfremdungseffekt zusätzlich dadurch verstärkt, dass ich eigene Gedichte (wie eigene Texte generell) niemals nachlese, wenn sie im Druck vorliegen, so als gehörten sie mir, sind sie erst einmal veröffentlicht, nicht mehr. «Was ich geschrieben habe, habe ich nicht.» Das ist meine Überzeugung und meine Erfahrung seit langem.
Veröffentlichen heisst für mich freigeben, heisst – die Werkherrschaft abgeben, heisst also auch – das Geschriebene dem Fremdverständnis, sogar dem Missverstehen auszusetzen. Das Missverständnis mag auf Nicht-verstehen-können oder Nicht-verstehen-wollen zurückzuführen sein, dennoch bleibt es eine Spielart des Verstehens.
Wenn mein Gedicht (irgendeins meiner Gedichte) gegen den Strich gelesen und solcherart missverstanden, mithin anders verstanden wird, als ich selbst es, beim Schreiben, vielleicht verstanden habe, bin ich als Autor davon nicht betroffen – Lektüre und Interpretation sind allein Sache derer, die mich lesen.

 

Autorenfoto zum Skorpioversaartikel „Gedichte als Fremdgänger. Vom Wiederlesen eigener Texte“

Felix Philipp Ingold: „Selbstbildnis des Autors als Nobody“ 1

Mich lesen – oder wen? Brodsky, Müller, Ajgi, Atabay, Spicer, Hungerbühler, Jabès, Demus: Die rhetorische Gleichsetzung von Autor und Werk ist althergebracht, und trotzdem ist sie falsch. Man liest naturgemäss nicht den Autor, man liest immer nur dessen Text, dessen Gedicht oder Roman. Ein Fakt, so evident und doch weithin unbegriffen. Ob ich gelesen werde oder mich selber lese, ist unter diesem Gesichtspunkt irrelevant.

Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00