Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Gedichte als Fremdgänger (Teil 2)

Gedichte als Fremdgänger
Vom Wiederlesen eigener Texte

Teil 1 siehe hier

Mein Befremden vor eigenen Gedichten hat wesentlich damit zu tun, dass sie, wenn publiziert und losgelassen, bloss noch nominell an mir hängen, durch die Signatur; doch gerade der beigefügte Eigenname verleitet ja zur Identifizierung des Werks mit dem Autor, die dann eben dazu führt, dass man gemäss allgemeinem Sprachgebrauch «wieder einmal Mandelstam» oder «endlich einmal Roberta Dapunt» liest – so wie man bei der Lektüre des «Faust» ganz selbstverständlich davon ausgeht, man lese Goethe, obwohl man doch das Buch und nicht den Mann vor Augen hat. Der Name des Autors wird damit gleichsam zum Werktitel.
Der Autor, die Autorin sollte aber, denke ich, nicht vor, sondern hinter dem Text stehen.

 

Autorenfoto zum Skorpioversaartikel „Gedichte als Fremdgänger. Vom Wiederlesen eigener Texte“

Felix Philipp Ingold: „Selbstbildnis des Autors als Nobody“ 2

Jegliches Vorwissen über biographische, soziale, wirtschaftliche, politische Bedingtheiten dieser oder jener Autorschaft verunklärt den Blick auf die Texte und verengt deren Verständnis. Doch gerade derartiges Vorwissen wird heute massiv von der Werbung wie von der Buchkritik eingesetzt, um die Lektüre beliebt zu machen und das Werk als Widerspiegelung äusserer, leicht nachvollziehbarer Umstände auszuweisen. Autorinnen und Autoren ihrerseits bekräftigen diesen Trend («fort von der Literatur als Kunst») dadurch, dass sie mehrheitlich in der Ichform schreiben, mithin sich selbst – bald direkt, bald indirekt – in ihre Texte involvieren.
Ich selbst war durchweg bemüht, mein Schreiben und mein Geschriebenes von mir als Person freizuhalten, schon immer war es mein Wunsch, zumindest meine Vorstellung, als Anonymus zu schreiben; aber ja – eine neutrale beziehungsweise objektive Textkritik lässt sich (liesse sich) nur bei anonymen beziehungsweise anonymisierten Werken bewerkstelligen. Was weder möglich noch erwünscht ist, da Anonymität eher als Makel denn als Vorzug gilt und da sie im Übrigen leichter aufzuklären denn zu bewahren ist. Man stelle sich vor, die rund 400 (oder sind es nicht eher 4000?) Literaturjurys im deutschen Sprachraum bekämen lauter anonyme Texte zur Beurteilung vorgelegt – unsre literarische Landschaft und der gesamte Literaturbetrieb sähen völlig anders aus.

Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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