Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Leid und Lied (Teil 1)

Leid und Lied

 

Dass Dichtung (und Kunst generell) in aller Regel kompensatorisch aus Leid erwachse, ist – das Anagramm steht dafür! – ein altes Lied. Walter Muschg hat aus dieser Grundthese vor Zeiten seine vieldiskutierte «Tragische Literaturgeschichte» entwickelt und sie als eine Art Universalpoetik zu etablieren versucht: Ein ebenso spektakuläres wie unbedarftes Unterfangen, das die künstlerische Literatur vorab an der Person des Autors festmacht und sie damit auf die Abarbeitung und Widerspiegelung von dessen Lebensumständen beschränkt. Unstreitig jedoch ist die Entstehung und ist auch der sogenannte Inhalt literarischer Texte in vielen Fällen von Krankheit, Armut, Ausgrenzung, Verfolgung bestimmt.
Heutige Erfolgsautoren wie Ernaux, Despentes oder Kim de l’Horizon bieten eklatante Beispiele dafür. Doch das so oder anders ausgeprägte «Leid» reicht nicht aus für ein «Lied» (allgemein: für ein literarisches Werk), das formal als Kunst bestehen kann. Fragt sich allerdings, ob Literatur als Kunst überhaupt noch ein Interesse ist, eine Option, dem «Leid» gerecht zu werden; oder ob’s genügt, eigene und kollektive Defekte, Missstände, Frustrationen als solche zu rapportieren, sie mal als wütenden Klamauk, mal als sentimentales Outing vorzuführen. Virginie Despentes («Liebes Arschloch», 2023) bringt’s auf den Punkt: «Die  Internationale  der  Jammergestalten hat wieder zugeschlagen.»

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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