Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Leid und Lied (Teil 2)

Leid und Lied

Teil 1 siehe hier

Wie die gängigen belletristischen Miserabilien derzeit beworben und belobigt werden, ist aus der Ankündigung des jüngsten Romans der chilenischen Bestsellerautorin Lina Meruane («Nervensystem», 2023) exemplarisch zu ersehen; es handle sich dabei, so heisst es in der Vorschau, um «die klinische Biographie einer Familie, voller Zuneigung und Groll, dunklem Humor und verschütteter Geheimnisse, in der Traumata als Krankheiten spürbar und sichtbar werden. Krankheiten, die nicht nur den Körper, sondern auch die Familien und die Geschichte der Länder, in denen wir leben, heimsuchen können». – Hunderte anderer Neuerscheinungen wären mit gleichen Worten zutreffend charakterisiert – die aktuell eintreffenden Verlagsankündigungen bestätigen es.
Die Elendsliteratur, die neuerdings – noch unterm Eindruck der Pandemie und nun auch des Kriegs in der Ukraine – zum Trend geworden ist, nährt sich von allem, was pathographisch nutzbar gemacht werden kann: Sucht, Gewalt, Missbrauch, Mobbing, Stalking, Queerness usf. Dazu kommen, wie eh und je, ganz normale Untugenden und Leiden wie Eifersucht, Neid, Angst, Depression. All dies vorzugsweise abgepackt in autobiographisch imprägnierte Texte aller Art, in «toxische» Familiengeschichten oder in dokufiktionale Biopics. Muschgs «Tragische Literaturgeschichte» von 1948 (revidiert 1957) findet damit neuerliche Bestätigung – einerseits in der realen Lebenswelt zahlreicher Autoren (und noch mehr Autorinnen), andrerseits auf der Darstellungsebene ihrer Erzähl- oder Dichtwerke.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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