Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Leid und Lied (Teil 4)

Leid und Lied

Teil 3 siehe hier

Das starke Gedicht behauptet sich gegen äussere Repression – ob politisch, sozial, gesundheitlich oder materiell bedingt – am nachhaltigsten dadurch, dass es als Werk der Kunst besteht und zur Wirkung kommt, und nicht bloss durch die Beschreibung oder Kritik qualvoller Bedrängnis dieser oder jener Art. Davon zeugen auch viele (nicht immer nur «starke») Gedichte, die in Kliniken, Gefängnissen, Straflagern geschrieben werden: Manche dieser Texte lassen von den Umständen ihrer Entstehung nichts ahnen, scheinen eher davon abzulenken, entwerfen oft ein konventionelles Idyll, derweil in Wirklichkeit Zwang und Unrecht herrschen: Der unausweichliche reale Jammer wird konterkariert durch die formale Ordnung (oder Ordentlichkeit) des Gedichts, das nun eben nicht das Desaster bezeugt, sondern die Eigenheit und Freiheit der Kunst in der Krise unter Beweis stellt.
René Chars lyrische «Blätter» aus dem Untergrund der Résistance sind der vielleicht bekannteste, künstlerisch kaum übertroffene Beleg dafür. Obwohl mehrheitlich in Ich- oder Wirform abgefasst und immer wieder Realien aus dem Kriegsgeschehen benennend, bleiben die dichten Texte davon abgehoben und behaupten sich souverän in ihrer Qualität als Kunst, ohne Klage, ohne Wut und Hass oszillierend zwischen lyrischer und aphoristischer Rede: «Das Gedicht ist furioser Aufstieg; die Dichtung – das Spiel der hageren Ufer.» Im Rückblick darauf glaubte Char seinen «künftigen Atem» zu erkennen – Sprachkunst als Überlebenschance.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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