Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – «Tempel im Gehör» (Teil 1)

«Tempel im Gehör»
Rilkes Wiederkehr im Internet

Rainer Maria Rilke scheint von der Attraktivität und Wirkungskraft, die er schon zu Lebzeiten hatte, nichts verloren zu haben – sein Name, seine Texte (Gedichte vorab) sind in jeder Anthologie moderner Poesie, in beliebig vielen Nachdrucken und Neuausgaben wie auch in schulischen Lesebüchern vorzufinden. Überraschend ist das nicht, aber es ist auch keineswegs selbstverständlich. Denn einerseits haben Rilkes Poetik und sein lyrisches Pathos mit heutiger Dichtung kaum noch etwas gemein, andrerseits widersetzen oder entziehen sich seine eingängigen, stets wohlklingenden Texte bei genauer Lektüre in den meisten Fällen dem rationalen Verständnis.
Rilke gehört damit zu den wenigen «schwierigen» Autoren, die bei einem sehr breiten Publikum Interesse und Anklang finden – was sich wohl daraus erklärt, dass seine Dichtung dem allgemeinen Bedürfnis, aus Fremdtexten eigene Befindlichkeiten herauszulesen und sich damit in sie einzubringen, optimal entspricht auf Grund ihrer appellativen Rhetorik und der Insistenz des lyrischen Ich. Dieses allgemeine Bedürfnis bestätigt kritik- und bedenkenlos der polnische Autor Adam Zagajewski, wenn er meint, man müsse lesend im Gedicht «heimisch» werden, weil nur so seine «Wahrheit» zu erschliessen sei.
Anklang ist der hier passende Begriff, denn er macht deutlich, dass die produktive Lyriklektüre weniger auf inhaltliches Verstehen angewiesen ist denn auf die sinnliche Wahrnehmung melodischer und rhythmischer Qualitäten, und er impliziert, dass solche Wahrnehmung die eigentliche «Wahrheit» aller Dichtung sei. Die Poetizität wäre demnach die vordergründige Wahrheit der Poesie.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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