Ferdinand Simonis: Nachsurrealistische Lyrik im zeitgenössischen Frankreich

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ferdinand Simonis: Nachsurrealistische Lyrik im zeitgenössischen Frankreich

Simonis-Nachsurrealistische Lyrik im zeitgenössischen Frankreich

DICHTER DER JÜNGEREN GENERATION

– Das Erfahren von Sprache und Welt bei Jean Tortel, Yves Bonnefoy und André du Bouchet. –

Wenngleich die jüngeren zeitgenössischen Dichter Bahnen folgen, die das Surreale in seiner Eigenständigkeit meiden, und sie dabei größtenteils in einer Bildkontinuität verharren, konnte sie dennoch kein Extremfall nachsurrealistischen Dichtens prägen. Ein Oszillieren der Phantasie zwischen den Tiefenregionen des Ich und den die Realität überlagernden Bezirken des Verzerrens und Deformierens im Sinne Michaux’ oder ein den einzelnen Gegenstand unaufhörlich umkreisendes dichterisches Bewußtsein, das um ein Aufspüren von Parallelen, Identitäten und Konkordanzen zwischen Geist, Gefühl und Ding bemüht ist mit dem Endziel, dem Schweigen des Gegenständlichen den sprachlichen Ausdruck zu entlocken, was Nachfolge Ponges bedeuten würde, sollte bei Lyrikern wie Tortel, Bonnefoy, du Bouchet oder Dupin keinen Nachhall finden. Zwar ist die Erfahrung einer anfänglichen Leere und Abwesenheit des Wortes auch schon Ponge und Michaux bekannt; aber außer dieser Anfangsphase eines dichterischen Dilemmas gibt es wenig Gemeinsamkeiten zwischen Ponge, Michaux und den anderen. Chars Lyrik indessen findet in vielen ihre Prägung, weshalb es auch nicht verwundert, daß er seine kleine Dichtung „Les compagnons dans le jardin“ (La Parole en archipel) du Bouchet und Dupin widmete. Als ein gemeinsames Motiv gilt vor allem das Aufgreifen antinomischer Realitäten, die zu wiederholtem Aufbruch Anreiz geben.
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts erfaßte der größte Teil der französischen Lyrik Sprache und Welt in leichterlangten inspiratorischen Augenblicken. Bei den meisten Lyrikern waren Worte, Bilder und Eindrücke vielfältig und verstreut, die der Surrealismus in einer Totalerfahrung zu vereinigen strebte, ohne jedoch das Hindernis einer Schwierigkeit oder eines Erprobens überwinden zu müssen. Den Surrealisten offenbarte sich eine universale Welt, die von ihnen Mühelos in ihre Dichtung einbezogen wurde, denn sie hatten das Absolute zu ihrem heimischen Bezirk erwählt, und die Dichtung erschien ihnen, wie es Eluards Worte prägten, als Poesie des ,unmittelbaren Lebens‘, als Wahrheit des Augenblicks. Widersprüche und Gegensätze galten als willkommene Momente, das Rätsel des Seins zu entschleiern und das Absolute unmittelbar zu erfassen. In der Hingabe an das Diktat des Unbewußten erreichten jene Erfahrungen leichterlangter Inspiration ihren Höhepunkt. Über den Surrealismus hinaus suchte die Lyrik nicht mehr die Augenblicke unmittelbaren und totalen Erlebens von Sprache und Welt. Fortan bedeutet die Wahrheit des Augenblicks, ,la vie immédiate‘, den Lyrikern zumeist nichts mehr, weil sie Wahrheit, Wirklichkeit oder Ding als etwas betrachten, das noch zu erreichen ist. So wie ein totales Erleben von Sprache und Welt den zeitgenössischen Lyrikern unmöglich erscheint, sind ihnen auch radikale Erneuerungsversuche wie die des Lettrismus von Isidore Isou oder, in jüngster Zeit, die des Spatialismus von Pierre Garnier ohne Bedeutung geblieben. Denn während der eine den Gedanken, daß die Poesie vor allem Musik sei, bis zum äußersten, bis zur völligen Auflösung des Wortes in seine klanglichen Elemente zu verwirklichen strebte, folgte der andere demselben Prinzip, indem er Silben miteinander verband, wiederholte und in Zwischenräumen aufstellte, um einen wesentlichen Rhythmus zu finden. Nach Rimbaud, Mallarmé, Valéry und dem Surrealismus tritt die Lyrik in ein Stadium der Kritik, in der ein vertieftes Besinnen auf ihr Ziel und ihre Mittel einsetzt.1 Diese Lyrik bewegt sich in einem Raum, dessen Grenzen einerseits durch ein Vertrauen oder Mißtrauen gegenüber der Sprache, andererseits durch ihre Nähe oder Ferne gegenüber der Welt festgelegt sind, und sie fühlt sich oftmals unentschieden, zwischen dem Ruf, die Dinge zu nennen, und dem Bewußtsein, nur Gegenstand von Sprache zu sein, verweilend.
Die Erfahrung der gegenwärtigen Lyrik verwirklicht sich größtenteils in aufeinanderfolgenden Augenblicken einer inneren Zeit. Es ist eine Erfahrung, die von einer anfänglichen Leere und Abwesenheit, einer Abwesenheit des Wortes, einer Ohnmacht der Sprache, ausgeht. Die zu Beginn fast aller zeitgenössischen Poesie sich aufdrängende Erkenntnis der Trennung von Sprache und Welt steigert sich zur Form einer grundsätzlichen Kritik an der Sprache. Das Wort wird als die Abwesenheit des Dinges gesehen, die Sprache erscheint als die Offenbarung des Nichts. Demzufolge wird sich der Dichter, des Unvermögens der Sprache, ihren Gegenstand zu erfassen, bewußt. Ponge, dessen Vorgehen von vielen Lyrikern der Gegenwart gedanklich nachvollzogen wurde, ist seit den 1926 veröffentlichten „Douze petits écrits“ bis zu Savon,2 einem Text seiner jüngsten Dichtung, darum bemüht, das zu tun, was er als „relever le défi des choses au langage“ bezeichnet, d.h. es ist sein Anliegen, die Gesamtheit des Wörterbuches, der Grammatik, des geschriebenen oder gesprochenen Stils gegen die äußere Fremdheit des Dinges in Bewegung zu setzen, dieses jedoch schließlich auszuschöpfen, indem ihm alles, was es vom Worte weiß, entzogen wird. Aus diesem Vorgehen, als dessen vollendete Beispielsammlung Le Parti pris des choses gilt, hat Ponge allmählich eine Philosophie des Schreibens, ,la rage de l’expression‘, entwickelt, die dazu führt, die Worte und Werke, die ,textes‘, als neue Arten beschriebener Dinge zu betrachten. Angesichts des Pongeschen Verfahrens bleibt es für viele der jüngeren Dichter ungewiß, ob die durch die Dinge erfolgte Herausforderung der Sprache aufrecht erhalten werden kann, denn die Wirkung der Sprache auf das Reale, das durch Namen oder Worte zusammengefügt werden soll, zeigt sich von zerstörerischer Art. Daher ist der anfängliche Augenblick dieses Dichtens durch eine Leere des Wortes und eine Ferne der Welt gezeichnet. Roger Giroux versucht, das Wort wiederzufinden, aber sein Bemühen scheint vergebens:

Je n’ai d’autre logis que cette phrase sans contexte… Je n’ai d’autre logis que cet absent visage.

Die Themen aller Gedichte Giroux’ betreffen seit Retrouver la parole3 die Unmöglichkeit, im Zeitalter des Zweifels Poesie hervorzubringen oder überhaupt zu schreiben. Kein Wort scheint ihm mit der geheimnisvollen Offensichtlichkeit der Dinge übereinzustimmen. Diese enttäuschende Erfahrung ruft bei Giroux ein Gedicht hervor, dessen letzte Strophe zu einem Gesang der Ohnmacht wird:

Toute œuvre est étrangère, toute parole absente,
Et le poème rit, et me défie de vivre
Ce désir d’un espace où le temps serait nul.
Et c’est don du néant, ce pouvoir de nommer.

Ein derartiges Geständnis ist nicht Ausdruck eines Gefühls, das einmalig oder willkürlich aufkäme; es ist in einem Unbehagen verwurzelt, das überall in der Lyrik der Gegenwart spürbar wird.

 

 

 

Einleitung

A) Hinwendung zum Surrealen
und die Diskontinuität des poetischen Bildes

Jene die surrealistische Dichtung kennzeichnenden Momente – das Eintauchen in eine Welt des Traums und des Überwirklichen durch die Kräfte der Phantasie sowie das Aufheben der Kontinuität des poetischen Bildes – sind bereits in einem Jahrhundert französischer Lyrik vorgezeichnet. Der Surrealismus jedoch entdeckte die Welt des Traums in einem Maße, wie es dem Symbolismus nie gelungen war. Dennoch müssen Nerval, Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé, Lautréamont und Apollinaire als unmittelbare Vorläufer jener Dichtung betrachtet werden, deren größter Ruf dem Surrealen galt und die ihren höchsten Aufschwung mit André Breton erfuhr, während Louis Aragon und Paul Eluard, die aus dem Dadaismus hervorgegangen waren, sich dem Surrealismus hingaben, um diesem später eine sehr persönliche Note aufzuprägen. Auf der Suche nach jenem Unbekannten, das Baudelaire und Rimbaud vergebens erstrebten, nach einer Surrealität, von der kurz vor seinem Tode Apollinaire gesprochen hatte, bildete sich eine Gruppe von Lyrikern, deren erstes Ziel Revolte war, eine allesumfassende, die sich gegen die bestehende Welt, Logik, Wissenschaft und Literatur richtete, um einer Welt des Traumes willen, zugunsten eines Surrealen, wo die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum nicht mehr bestanden. Während die Geschöpfe, die Mallarmé heraufbeschwört, von dem Nimbus des Nichts gekrönt sind, werden die durch Apollinaire erweckten zuweilen von einem Schein umgeben und einer Sprache beseelt, die eine reale Welt in eine höhere Realität erheben. In „Calligrammes“4 ist Apollinaires Konzeption der Dichtung Ausdruck einer ultrarealen Vision geworden, die in dem Gedicht „Les collines“ ein über Zeit und Raum erhöhtes und universales Ich gefangen hält:

Bien souvent j’ai plané si haut
Si haut qu’adieu toutes les choses…

Von hier konnte die französische Lyrik ihren Weg leicht in die unerforschten Bereiche der Surrealität beschreiten. Während Mallarmé und Valéry noch die „poésie pure“ und die zu deren Schöpfung notwendigen Forderungen als höchstes Problem erachteten, erstrebten die Surrealisten hingegen die Synthese von Dichtung und Handlung und versuchten, ihr Ziel zu erreichen, wenn sie dem huldigten, was Rimbaud lange vor ihnen so treffend als „un long, immense et raisonné dérèglement de tous les sens“ beschrieben hatte. Die Surrealisten suchten also die Prinzipien ihrer Kunst nicht in einer klaren Betrachtung, sondern in einem offenkundigen Wirrwarr, wo sie die aus einer Schicht des Unterbewußten hervorgehenden Wahrheiten verborgen vorzufinden glaubten, wie es Apollinaire bereits in jenem Gedicht aus Calligrammes, „Les collines“, vorausgesagt hatte:

Profondeurs de la conscience
On vous explorera demain
Et qui sait quels êtres vivants
Seront tirés de ces abîmes
Avec des univers entiers

Die Surrealisten wollten ihren Geist in einem Zustand absoluter Verfügbarkeit wissen, um ihn dafür empfänglich werden zu lassen, unterschiedslos alle frei entstandenen Assoziationen zu empfinden.
Schon während des 19. Jahrhunderts bahnte sich in der französischen Lyrik die Tendenz an, von der gegenständlichen Welt der Realität abzulassen, um alles Interesse auf das Ich des Dichters zu verlagern. Mit der Romantik entstand eine Gleichgültigkeit gegenüber dem Objekt und der Art, wie Tradition, Gesellschaft und ihre gewohnte Sprache es zu definieren und darzustellen bereit waren. Parallel zu dieser Lossage von dem Objekt erfolgte ein gesteigertes Interesse an dem Subjekt, dem Ich des Dichters. Das Kunstwerk hatte fortan weniger das Ziel, die Welt zu deuten, als das Verlangen, die Gefühlsregungen und Träume des Künstlers auszudrücken oder zu verkörpern. Mit dem Symbolismus befreite der Dichter sich endgültig von jeder Art eines Nachgestaltens der Wirklichkeit, von jeglichem fremden Modell zugunsten des reinen Hervorbrechens des lyrischen Ich. Trotz vieler Divergenzen, die zwischen Moréas, René Ghil, Stuart Merrill, Verhaeren, Henri de Regnier und Vielé-Griffin bestanden haben mögen, waren sie dennoch gemeinsam dem Erbe Verlaines, Mallarmés und Laforgues verpflichtet. Wie diese wandten sie sich gegen den Positivismus des Parnasse, um jenen Anteil des Geheimnisvollen hervortreten zu lassen, den Geschöpfe und Dinge verbergen, und um die Welt durch die unberechenbaren Triebkräfte der Empfindsamkeit und des Traumes neu zu gestalten. Diese Tendenz wird vor allem durch den Gebrauch eines Wortschatzes deutlich, der geeignet ist, das Einzigartige und Einmalige auszudrücken. Das Bedürfnis, die Unruhe oder den Wechsel der Seelenzustände aufzunehmen, führte den Symbolismus zu einer völligen Verwandlung der poetischen Vision. Verlaine verließ als erster die unpersönliche und starre Beschreibung, die Klarheit der Umrisse und Farben zugunsten der „chanson grise où l’indécis au précis se joint“. Man sieht, wie an die Stelle der ungetrübten Heiterkeit parnassischer Himmel fortan Halbschatten, Wolken, Helldunkel und Dämmerungen treten, die das Gedicht Verhaerens, Maeterlincks, Vielé-Griffins und Kahns durchziehen. Auch manche Dichtungen Apollinaires verraten eine Vorliebe für irreales Licht und verhangene Atmosphäre. Diese Poesie der immateriellen Silhouetten und des gedämpften Lichtes, die der Symbolismus schuf, war bestrebt, an die Stelle des Gefühlsaufschwungs der Romantik und der Unbewegtheit des Parnasse eine Atmosphäre der Mattigkeit, des Bedauerns, der saumseligen Schwermut zu setzen. Der Symbolismus neigte in seiner Absage an die konkrete Wirklichkeit vor allem dazu, die Konzeption des poetischen Bildes zu erweitern. Dieses wurde in einer solchen Weise ausgedehnt, daß es alle zwischen dem Ich und den verschiedenen Arten der Sinneseindrücke bestehenden „correspondances“ erscheinen läßt, es wurde Symbol im Sinne eines fortgeführten Vergleichs, wobei nur dessen zweites Glied jeweils in Erscheinung tritt, was zu einem System aufeinanderfolgender Metaphern führte. Wären nun die Dichter von 1880 in ihrem poetischen Gestalten der Idealvorstellung treu geblieben, so hätten sie Worte und Bilder einzig und allein wegen ihrer geheimen Verwandtschaft, ihrer Affinität, nicht aber gemäß eines logischen Prozesses zusammengefügt. Sie wagten es hingegen nicht, mit den Traditionen des Rationalismus zu brechen, und beschränkten sich darauf, in ihren Gedichten ein gedämpftes Leuchten und ein doppelsinniges Zwielicht auszubreiten. Diese Grenzen erkennend, haben nachfolgende Dichtergenerationen sich häufig an dem einzigen Lyriker inspiriert, der die Ziele des Symbolismus verwirklicht hatte und sogar über sie hinausgegangen war, insbesondere in der Tendenz zur Desintegration der poetischen Ordnung und zur Diskontinuität der Bilder: Rimbaud. Neben ihm sind als Inspiratoren noch zwei andere Dichter der Vergangenheit von Wirkung, die wie er der reinen Phantasie und dem Traum überraschende Offenbarungen zu entreißen strebten: Nerval und Lautréamont.

Bald traten indessen Lyriker auf, die, den Erfahrungen der kubistischen Maler folgend, sich von der Realität, die sie verachteten, mehr als andere zuvor abwandten. Wenn der kubistische Maler es ablehnt, irgendeinen Gegenstand der Wirklichkeit nachzubilden, bedient er sich der Linien, Farben, Erscheinungen wie eines Rohmaterials, das die Natur ihm liefert, und entreißt diese ihren gewöhnlichen sowie konventionellen Bedeutungen und zusammenhängen, um mit ihnen eine andere – seine – Welt zu bilden. Die verschiedenen Facetten der augenscheinlichen Realität dienen dem Maler lediglich als Vorwand und werden von diesem zunächst in Raum und Zeit, in ihrer Dauer, erspäht, bevor er sie dann endgültig auf der Leinwand neu gruppiert, wo sie nun für immer unmittelbar und unbeweglich gefestigt sind. Diese neue Sichtweise des Bezugs zu Raum und Zeit ist in der Malerei möglich geworden, weil das ganze Bild vor dem Betrachter zu jeder Zeit in seiner Totalität besteht. In dem geschriebenen Werk ist dies natürlich nicht der Fall, herrscht nur eine einzige Zeit vor, „l’ère successive“, wie sie Valéry in „Le Cimetière marin XXII5 nennt. Die Dichtung, in Raum und Zeit entstanden, wird von dem Leser im gleichen zeitlichen Rhythmus neugeschaffen, weshalb die „kubistische Zeit“ ein für die Literatur unanwendbarer Begriff bleibt. Während nun der Künstler oder Dichter der Natur nur noch das Material entlehnt, um damit eine neue Realität aufzubauen, ist ihm das Kunstwerk bzw. Gedicht gewissermaßen ein Körper, den er sich gibt, ein Universum, das er gemäß einer Perspektive oder Gesetzen entstehen läßt, die der Kunst und Dichtung, nicht aber der Natur zu eigen sind. In diesem Sinne ist Max Jacob zu verstehen, wenn er 1916 in dem Vorwort zu Le Cornet à dés6 schreibt:

Le poème est un objet construit.

Der Kubismus in der Dichtung verwandelt die Bedeutung und Bestimmung der Sprache. Die Worte werden ihrer Emotion entledigt, den Dingen, denen sie bis dahin Ausdruck verliehen, entrissen. Sie stellen nicht länger die gewohnte Welt dar, sondern dringen in sie ein wie Elemente fremder Schöpfung, die der Dichter heranführt und gegenwärtig werden läßt. Das dichterische Wort, aus allen Banden mit der umgebenden Welt gelöst, erschafft eine eigene Realität, die von seiner ursprünglichen Bedeutung unabhängig ist. Von allem Nutzgebrauch abgewandt, wird das Wort in seinem lyrischen Hervorbrechen zu einem Mittel, durch das der Dichter sich seinem Ich offenbart und über sich selbst hinausschreitet.

Et le poète écrit. Il écrit d’abord pour se révéler à lui-même, savoir de quoi il est capable, pour tenter l’ambitieuse aventure d’accéder peut-être un jour au domaine féerique7

Schreiben wird damit eine Methode des Denkens, eine Weise des Seins. Das poetische Bild hat nicht mehr repräsentativen, sondern suggestiven Charakter. In diesem Zusammenhang sind jene berühmt gewordenen Sätze, die der Meister des sogenannten literarischen Kubismus, Pierre Reverdy,8 1918 in der Zeitschrift Nord-Sud9 geschrieben hat und die von André Breton 1924 im ersten Manifest des Surrealismus10 übernommen worden sind, zu verstehen: 

L’image est une création pure de l’esprit. Elle ne peut naître d’une comparaison, mais du rapprochement de deux réalités plus ou moins éloignées. Plus les rapports des deux réalités rapprochées seront lointains et justes, plus l’image sera forte – plus elle aura de puissance émotive et de réalité poétique.

Ein knappes Jahrzehnt später wiederholt Reverdy seine Forderung in Le Gant de crin11, wobei er ihre ursprüngliche Form durch eine schärfere Formulierung ergänzt. Indem die gewohnte Realität zurückgestoßen wird, gilt es Reverdy, nicht die Realität, sondern das, was ihr fehlt, zu erwecken,12 weshalb es auch genügt, eine sehr kleine Anzahl von Objekten, die als Ersatz für die ganze Realität stehen und lediglich als Kontrastmomente oder Ansatzpunkte dienen, in das Gedicht oder – im Falle kubistischer Malerei – auf der Leinwand einzuführen: ein Minimum an Realität, das für einen Aufschwung zu etwas anderem unerläßlich ist.
Wenn im Hinblick auf Reverdys Lyrik von „literarischem Kubismus“ gesprochen wird, so geschieht dies mit einem gewissen Recht nur in dem Sinne, daß man die Analogien, die zwischen Reverdys Poesie und der kubistischen Malerei bestehen, beachtet.13Es versteht sich, daß grundsätzlich nur in sehr einschränkendem Sinne von Kubismus in der Literatur die Rede sein kann, weil die kubistische Zeit in ihrer Plastizität, die den Phasen aufeinanderfolgender Zeitlichkeit entrissen ist, um in jedem Augenblick in ihrer Totalität gegenwärtig zu sein, hier keine Anwendbarkeit findet. Aus diesem Grunde war auch Gertrude Steins Versuch, eine solche Zeit in ihrer Prosa einzuführen, zum Scheitern verurteilt. Cf. John Malcolm Brinnin: The Third Rose, Atlantic-Little Brown, Boston 1959.
Auch Apollinaire bediente sich in einigen Gedichten der Alcools und in manchen der Calligrammes poetischer Verfahren, die gewisse Analogien – wenn auch sehr approximativen Charakters – zu Bildern kubistischer Maler aufweisen. Cf. L.-C. Breunig: „Apollinaire et le cubisme“, „Guillaume Apollinaire“ 1962, La Revue des Lettres Modernes 69–70, Paris 1962, S. 7ff., sowie Ferdinand Simonis: Die Lyrik Guillaume Apollinaires – Inspiration zwischen Erinnerung und Prophetie, H. Bouvier u. Co., Bonn 1967, S. 64ff.
Reverdys Gedichte, die dem Gesetz ständiger Wiederholung unterworfen zu sein scheinen, sind von sehr wenigen Elementen getragen, wobei immer wieder dieselben Dinge nebeneinanderstehen, wenn auch jeweils mit einer geringen Differenz in Perspektive und Ton. Das Gedicht entfaltet sich wie ein sichtbarer Raum, dessen Elemente einzig durch die Emotion an ihren Platz gerückt werden. Einfache Worte, wie Inseln auf der Weiße des Papiers, zeichnen eine Landschaft von Gegenständen, in deren Mitte ein Ich, in Erwarten oder Bedauern, gegenwärtig ist, schauend, bis es nach wenigen Worten in ein Schweigen übergeht. Das Gedicht mit seinen einfachen alltäglichen Dingen – Dachluke, Stuhl, Lampe, Tür, Fenster, Straße –, das nur augenblickliche Eindrücke zu vermitteln scheint und trotzdem, mit asketischer Nüchternheit, das ganze Reale unter wenigen flüchtigen Zeichen verborgen offenbart, ist von dem Erwarten eines nie genannten, niemals erreichten und dennoch stets versprochenen Geheimnisses erfüllt. Jedes der Gedichte Reverdys stellt eine in sich geschlossene, homogene, statische Welt dar. Seine Sprache meidet das seltene Bild, versagt sich die geringste Eloquenz; sie ist bewußt alltäglich, bedient sich der umgangssprachlichen Wendung, um die bescheidenen Tätigkeiten des Alltags zu bezeichnen. Der Dichter fordert von den Worten die höchstmögliche Reinheit und Einfachheit, damit nichts in ihnen die ursprüngliche Poesie der Welt verhehle. Die Dinge umgrenzen die Einsamkeit des dichterischen Ich und stellen die Schwelle zu einer erschütternden Realität dar. Dennoch können die Gedichte als „cristaux déposés après l’effervescent contact de l’esprit avec la réalité“ (Le Gant de crin) erscheinen. In ihren Anfängen – die ersten Texte gehen auf das Jahr 1913 zurück – folgt Reverdys Lyrik14 dem gemeinsamen Bemühen einer Dichtergeneration (Guillaume Apollinaire, Blaise Cendrars, Max Jacob, Jean Cocteau), jene Welt neuer faszinierender Dinge des modernen Lebens dem Halbdunkel zu entreißen, das der ausgehende Symbolismus noch über sie ausgebreitet hat. Seit ihren Anfängen ist diese Poesie aber auch schon bestrebt, mit ihren Worten jenes Gleichgewicht, jene Strenge und Festigkeit zu erlangen, die gleichzeitig Maler wie Juan Gris, Georges Braque und Pablo Picasso in Linien und Farben erwecken. Reverdys frühe, vor dem ersten Weltkrieg konzipierte Lyrik ist noch durch Regelmäßigkeit des Reims, Klangeffekte und die einfache Syntax der Prosa gekennzeichnet. Später, in den Gedichtsammlungen, die von 1925 bis 1930 erschienen, hat sich Reverdys Sprache der gewohnten Syntax entledigt, läßt er kurze Bildmomente, oftmals ohne Stütze des Verbs, nebeneinander erscheinen, um eine zerstückelte Vision des Universums zu vermitteln.15
Immer wieder hat seit Le Gant de crin aus dem Jahre 1927 Reverdy erklärt, daß die Dichtung von dem Dichter und nicht von den Dingen ausgehe – „car la poésie vient des poètes“ –,16 und noch in einem späteren Aufsatz heißt es bei ihm:

On a souvent dit et répété que la poésie, comme la beauté, était en tout et qu’il suffisait de savoir l’y trouver. Et bien non, ce n’est pas du tout mon avis. Tout au plus accorderai-je que la poésie n’étant au contraire nulle part, il s’agit précisément de la mettre là où elle aura le plus de chances de pouvoir subsister.17

Obwohl Le Gant de crin der surrealistischen Theorie des Bildes die Formel liefert und zu einem Zeitpunkt erscheint, da die surrealistische Revolution ihren Höhepunkt erreicht hat, ist dieses Werk antisurrealistisch, stellt es sich als eine hochmütige Gegenpropaganda dar. Mensch und Welt, Wirkliches und Nichtwirkliches, Geist und Natur werden nie als Einheit, sondern dualistisch, in ihrer Getrenntheit gesehen, wohingegen Breton, Tzara oder Eluard die Totalität eines Humanismus erstreben, in der Mensch und Welt verschmelzen. Dennoch folgt, im Gegensatz zu Reverdy als Kritiker, der Dichter zuweilen, wenn seine Gedichte ein Nebeneinander heterogener Elemente aufweisen, deren Worte die Jungfräulichkeit von Chiffren bergen, einer surrealistischen Kunstauffassung, wie sie von Breton entwickelt worden ist. Mit seiner Theorie des poetischen Bildes schafft Reverdy nunmehr in der Tat das eigentliche Bindeglied zwischen Rimbaudscher und surrealistischer Dichtung. Das Bild gilt gleichzeitig als ein Mittel der Erkenntnis und der Schöpfung, in dem die wahre Schöpfungskraft verborgen liegt, denn es ist fähig, eine unbekannte Welt aus den äußeren Finsternissen des Nichtpoetischen emporsteigen zu lassen. Dies ist die Rolle des poetischen Bildes, das nicht nur wie der Vergleich ein einfaches Mittel des Ausdrucks darstellt, sondern vor allem als ein Mittel der Erkenntnis wirksam ist. Seine innere Beschaffenheit wird, wie erwähnt, von Reverdy bereits 1918 im Nord-Sud mit einer Formel definiert, die er 1927 in Le Gant de crin wieder aufnimmt, um ihr eine noch schärfere Formulierung beizufügen. Was besagt jene Formel im einzelnen? Als reines Produkt des menschlichen Geistes, „création pure de l’esprit“, hat das Bild keinen unmittelbaren Bezug zur Wirklichkeit. Die Natur liefert derartige Bilder nicht. Wenn das Bild eine Schöpfung, „création“, ist, so schafft es der Dichter, indem er jene Worte wählt, welche die Polarität des Bildes bestimmen. Der Vergleich als ein Moment rationalen Vorgehens ist dabei ausgeschlossen:

Elle ne peut naître d’une comparaison, mais du rapprochement de deux réalités plus ou moins éloignées.

Das poetische Bild geht in der Tat von Elementen aus, die der Realität entnommen sind, wenngleich dabei das Ziel ein anderes ist, wie es Reverdy präzisierend ausspricht:

Plus les rapports des deux réalités rapprochées seront lointains et justes, plus l’image sera forte – plus elle aura de puissance émotive et de réalité poétique.

Als Ergebnis bzw. Funktion der Entfernung zwischen den beiden Gliedern des Bildes sowie der Angemessenheit ihrer Verknüpfung erweisen sich „puissance émotive“ und „réalité poétique“. Die erstmalige Verbindung der einander angenäherten Elemente begründet nicht nur etwas gänzlich Neues, „réalité poétique“, sondern sie ruft zu gleicher Zeit eine Spannung hervor, die dem Bild genügend Kraft, „puissance émotive“, verleiht, um bestehen zu können. Als der Surrealismus sich diese Definition, die Breton 1924 in seinem „Manifeste du Surréalisme“ zitiert, zu eigen macht, gibt er ihr allerdings einen einschränkenden Sinn. Der Ausdruck „création pure de l’esprit“ bezeichnet in Bretonscher Sicht das Neuartige und Unberührte im Wesen des poetischen Bildes sowie seine Würde als Mittel der Erkenntnis. Im Sinne Reverdys aber bezieht sich dieser Ausdruck auf die Schöpfung, die von einem wenn nicht logischen, so doch poetischen Nichts ausgeht. In seinem ersten Manifest beschäftigt sich Breton nach einer anfänglichen Würdigung der Reverdyschen Definition des poetischen Bildes mit der Frage nach dessen Ursprung im menschlichen Geist. Breton stimmt in einem wesentlichen Punkte nicht mit Reverdy überein, nämlich hinsichtlich des Satzes:

L’image est une création pure de l’esprit.

Er glaubt vielmehr, daß es falsch sei, zu behaupten, der Geist erfasse die Beziehungen zwischen zwei Realitäten, Der Terminus „esprit“ im Sinne Reverdys, für den sein Ausspruch in „Self-Defence“18 „Il n’y a pas de réalité artistique sans esprit“ wesensbestimmend ist, hat eine von dem Bretonschen Begriff semantisch sehr abweichende Nuance. Bei Reverdy ist es einzig der Geist, der die richtigen Bezüge im Gedicht aufgreift, was er in Le Gant de crin durch eine schärfere Formulierung seiner Definition des poetischen Bildes hervorhebt: 

Le propre de l’image forte est d’être issue du rapprochement spontané de deux réalités très distantes dont l’esprit seul à saisi les rapports.

Im Sinne Reverdys fällt dem Geist die ordnende Funktion hinsichtlich des Rohmaterials der Gefühle und der Gegebenheiten der äußeren Realität zu. Der Geist hat im dichterischen Vorgang eine wesentliche Rolle zu spielen, denn das Bild ist erst dann angemessen, wenn es dem Geist gelungen ist, dessen Elemente aufeinander abzustimmen; demnach ist „esprit“ die koordinierende Kraft im poetischen Prozeß. Was aber bedeutet der Terminus „esprit“im surrealistischen Vokabular? Breton und Aragon waren an den Ergebnissen der neuen Psychologie und insbesondere an denen der Freudschen Psychoanalyse interessiert. Es ist daher einleuchtend, wenn Breton in der Definition des poetischen Bildes, wie sie im Nord-Sud formuliert worden war, fortan die Formel zu besitzen glaubte, nach der die unerschöpflichen Kräfte des Unbewußten in die schöpferische Aktivität des Dichters Einlaß finden konnten. Deshalb versuchte Breton den Beweis zu erbringen, daß die von Reverdy ersonnene Formel des poetischen Bildes gerade das definiere, was durch die „écriture automatique“ erzeugt werde. Bei Breton wird der Terminus „esprit“ aufgenommen, als sei er ein Synonym von „raison“, der eine konstatierende und bewertende Funktion beim Hervorgehen des poetischen Bildes zuerteilt sei, nicht jedoch eine die Beziehungen zwischen zwei voneinander entfernten Realitäten aufgreifende Kraft zukomme, wie sie Reverdy einzig und allein dem „esprit“ zuschreibt. Das schöpferische Moment wird in Bretons Deutung ausschließlich jener Aktivität, die er „surrealistisch“ nennt, zuteil,19 womit er dem Phänomen des Unbewußten die größte Bedeutung bei der Hervorbringung des poetischen Bildes beimißt.20
Wenn Reverdy das Bild als „création pure de l’esprit“ versteht, so sieht er die poetische Schöpfung zeitweilig auf Seiten der Reinheit des Geistes, dessen Kontrolle sie untersteht, in einem Gegensatz zu der Unreinheit der Sinne und der Phantasie. Daher erscheinen ihm einmal die Bande zwischen Bild und sinnlichem Empfinden durchschnitten, was jene schärfere Formulierung seiner Definition des poetischen Bildes, wie sie in Le Gant de crin zu finden ist, besagt oder auch eine andere Stelle andeutet:

Si les sens approuvent totalement l’image ils la tuent dans l’esprit.21

Aber nicht immer ist Reverdy in dem Dualismus von Geist und Sinnlichkeit entschieden, wenn er von dem Anteil des Sinnlichen im poetischen Schaffen kündet:

Le beau est du domaine des sens autant et même plus que de lesprit.22

Bei Reverdy erscheint der Geist in ständiger Auseinandersetzung mit den Kräften der Sinne und der Phantasie. In Reverdys zeitweiliger Unentschlossenheit bei der Wahl zwischen Geist und Sinnen sowie in seiner von Zweifeln und Zögern bestimmten Schaffensweise wird der Gegensatz zu der surrealistischen Kunstauffassung sichtbar, die nicht in den Dualismus von Geist und Sinnlichkeit verstrickt ist, weil ihr Bereich im Unbewußten liegt. In seiner poetischen Schöpfung erlangt Reverdy als Dichter hingegen die Harmonie zwischen den Antipoden von Geist und Sinnlichkeit, in deren Mitte er als Kritiker zuweilen ratlos erschien. Um sich zu offenbaren, sich selbst darzustellen, ist der Geist gezwungen, sich einer Sprache zu bedienen, die unlängst noch an den Dingen haftete, mit ihnen eine Einheit bildete. Die Offenbarung durch das poetische Bild, d.h. die Offenbarung eines unerwarteten Bezugs zwischen zwei Realitäten, die so weit wie möglich voneinander entfernt sind, ruft eine doppelte Lossage, ein zweifaches Losreißen hervor: sowohl ein Vergegenständlichen des Geistigen, das somit den Sinnen zugänglich wird, als auch ein Entdinglichen der sinnlichen Welt, die hierdurch eine geistige Sinngebung erfährt. Ein Versinnlichen des Geistes verläuft parallel zu einer Reinigung der Sinne, die es aus einer engen Verkettung mit den Dingen und aus einem Verweilen im Zeitlichen zu lösen gilt. Reverdy läßt einander sehr fern liegende Objekte sich nähern, von denen die einen einer erhabenen Ebene, beispielsweise dem kosmischen Bereich, die anderen der alltäglichen Erfahrungswelt angehören: „le jour semble sortir lentement d’un étui“,23 „l’aube à la boutonnière“,24 „le cœur disque signal ouvert des routes qui bifurquent.25 In ihrer Gewagtheit verfolgen die Reverdyschen Bilder das Ziel, die Welt im Sinne einer dem Geiste undurchdringbar erscheinenden Anhäufung von Gegenständen zu zerstören, so daß die Gegenstände, ehedem Widerstände, nunmehr im Bild in einfache Beziehungen zueinander treten. Reverdy gelingt es, seine Konzeption der Welt im Nebeneinander weniger einfacher Sinneseindrücke festzuhalten, wodurch das Universum als eine ungeheure Koexistenz in einer nicht minder ungeheuerlich ablaufenden Zeit erscheinen soll, was einer Anhäufung heterogener Dinge in einer gähnenden Leere gleichkommt:

Les racines du monde
aaaaaaaaaaaapendent
aaaaaaaaaaaapar delà la terre
les jambes du jockey au bord du tilbur

(„La tête rouge“)26

Reverdys poetisches Vorgehen ist dabei die Aufzählung, in der die Bilder einander weder abstoßen noch anziehen. Reverdy schreibt seine Verse oder Prosagedichte in der Absicht, die Dinge zu nennen, um sie zu zerstören. Mittel derartigen Zerstörens sind beispielsweise das Gegenüberstellen der Bilder, ihr ebenso lächerliches wie ernstes Annähern oder die Gewohnheit des Dichters, jedes Element, dessen Benennung er den bestimmten Artikel vorausschickt, in die Unbegrenztheit zu rücken:

Ce matin tout est lavé par les éponges de la nuit
Les yeux neufs regardent les meubles de la terre
Les arbres bien taillés dans leurs socles de pierre
Et les nuages blancs dans leur cage de verre

(„Convoitise“)27

Jedes Element hat seine Geltung, aber nur diese; es verschwindet, sobald ein anderes – irgendein anderes – auftaucht. Nichts mehr bleibt übrig, weder ein Chaos noch das Mal der Zerstörung, denn beides hätte einen Bezug zur Zeit. Einzig das Zeitlose oder Ewige soll bestehen.
Obschon Reverdy durch die Art des Bildgebrauchs und den fast automatischen Charakter seines poetischen Satzes sich mit dem Surrealismus zu berühren scheint, werden dennoch hinsichtlich des Bildgebrauchs zwischen Reverdys und Bretons Dichtung deutliche Unterschiede sichtbar. Reverdys Bilder weisen gegenüber der stets gesuchten Willkür Bretonschen Dichtens eine leicht enthüllbare poetische Logik auf, weil zuweilen das Emporschnellen des Reverdyschen Bildes durch ein einfaches Umstellen eines Ausdrucks verursacht wird:

Et quand l’onglée vous brûle à la pointe du cœur („Fil d’encre“)28

Wenn man nach einem etwaigen Zusammenhang des Bretonschen Bildes sucht, so ist derartiges nicht in der Struktur des Gedichtes zu erfassen, sondern eher in einem die Anordnung der Traumbilder bestimmenden Gewebe des schöpferischen Unbewußten zu erspähen. Dabei lassen sich Wogen von Bildern als ein und desselben schöpferischen Flutens deuten: Visuelle und auditive Elemente erscheinen hier ineinander verflochten bis zur völligen Verschmelzung, in der das einzige Symbol in Analogien und vollendete Äquivalenzen überwechselt. Ganz verschieden hiervon ist Reverdys Technik der Bildgestaltung, was eine Betrachtung des Gedichtes „Le flot berceur“29 verdeutlicht. Wie in Bretons Dichtung verzweigen sich auch in der Reverdys ein oder mehrere Zentralbilder in weitere Einzelelemente, aber im Gegensatz zu Breton läßt Reverdy den Übergang von einer Bildeinheit in die andere gemäß den Gesetzen der Bewegung, des Raumes und des Lichtes erfolgen. Das Bild des Leuchtturms setzt das der Sonne fort und erweitert es, wenn der Eingangsvers „Les rafles d’or sur le ravin des vagues“ wenig später durch den Vers „Le phare a glissé ses ciseaux dans les draps de soleil“ ergänzt oder thematisch variiert wird. Das Bild, in Bewegung geraten, macht sich die Konturen des Raumes zu eigen – „Au couchant Le soleil s’arrête comme un nid en feu dans les peupliers“ – und folgt der Bahn des Blicks. Der Staub erschafft visuell und poetisch eine Landschaft, in der Reales und Surreales ihre Eigenschaften vertauschen:

aaaaaEt que le vent qui sort des tuyaux des machines…
aaaaaaaaaaaaaaaSoulève la poussière qui va se figer
dans les endroits humides
aaaaaaaaaaaaaaaaaaEn pyramides
aaaaaaaaaaaaaaaaaaEn cercles mosaïques
Ou en simulacres de chaînes montagneuses irréelles
aaaaaaaaaaaaaaaaaaEn cendre de cigare

Ein Widerspiegeln vervielfältigt die Bereiche des Raumes in mehrfacher Dimensionalität, bis schließlich das poetische Bild aus kosmischer Erhöhung sich in dem Gewässer umschlossener Räumlichkeit, die der Seehafen darstellt, verdichtet:

Les étoiles prennent des formes de méduses
de poissons aveugles de matières grasses

Diese Art von Poesie, bei der die syntagmatische Aneinanderreihung infolge mehrschichtiger Bildverlängerung überraschende Effekte hervorruft, ist aus der engen Berührung mit der kubistischen Malerei entstanden.30 Reverdy verfährt bei der Annäherung zweier soeben noch einander ferner Realitäten ähnlich wie Gris, Braque oder Picasso bei der Anordnung zweier Ebenen, die auf der Leinwand durch einen seltsamen perspektivischen Effekt sich ineinanderschachteln, was bei Gris beispielsweise auf „La Baie de Bandol“ zu beobachten ist, wo die Zeitung auf dem Tische liegt, der wiederum an das Fenster gerückt ist, während sich dieses vor dem Hintergrund des Meeres und den Segelschiffen abzeichnet. Die Struktur der Reverdyschen Gedichtes läßt eine enge Verbindung zwischen den einzelnen Bildschichtungen bestehen, was zugunsten eines Parallelismus geschieht, der sich in Simultaneität und wechselseitiger Durchdringung von wahrgenommenem Raum und Raum des Traumes kundtut, denn wenn man bei Reverdy einem surrealistischen Universum nahe zu sein scheint, so sind die Bande mit der Realität dennoch niemals durchschnitten. Dies verhält sich anders bei jenen Lyrikern, die nach dem zweiten Weltkrieg die surrealistische Dichtung ins Leben riefen.

Für die Dichter, die, nach dem Erleben von Chaos und Apokalypse, zwischen den beiden Weltkriegen schrieben, bedeutete existieren zunächst einmal die Wirklichkeit, in der sie sich befanden, als bloße Erscheinung disqualifizieren; dies hieß soviel wie in ihr die grundsätzliche Abwesenheit des Wunderbaren, das sie erstrebten, verspüren, und es galt fortan, der Botschaft einer wahreren Realität, einer Surrealität, zu folgen. Der Surrealismus suchte in der Dichtung eine absolute Erkenntnis und, mehr noch, die Teilnahme an einem überwirklichen Sein, in dem das Heil schlechthin zu finden sei. Hierbei tritt die Anschauung des atheistischen Surrealismus an die Stelle von Religion, die er verneint. Die Lyrik umfaßt nun die unbegrenzten Sehnsüchte, die zuvor in mystischen Strömungen lebten. Das Werk Les Champs magnétiques,31 das aus André Bretons und Philippe Soupaults ersten Erfahrungen mit der automatischen Niederschrift hervorging, stellt den Versuch dar, das Wort von jeglicher Kontrolle des Bewußtseins zu befreien, um gleichzeitig ein vom Willen unbeeinträchtigtes Bild des eigenen Selbst zu entdecken. Damit waren die Grenzen, innerhalb deren die durch Logik und Moral streng festgelegten psychologischen Analysen von ehedem stattfanden, aufgehoben. Mit der Hoffnung, jenseits von dem, was wir denken, das, was wir sind, zu entdecken, war die der Vernunft zugängliche Mechanik der Leidenschaften und Charaktere ausgeschaltet. Eine gewagte, vorschnelle und sehr oberflächliche Schlußfolgerung, welche die Surrealisten aus den Ergebnissen der zeitgenössischen Physik, vor allem aus der Relativitätstheorie Einsteins, zogen, erweckte in ihnen den Glauben an eine wahrhafte Krise des Wirklichkeitsbegriffs. Daraus folgerten sie, daß die wahre Realität nicht die der Wahrnehmung und des Denkens sei. Mit dem Verzicht der Vernunft auf den Anspruch, die lenkende Kraft von Phantasie und Wort zu sein, war das schwindelerregende Gleiten vom Realen zum Surrealen in Szene gesetzt: Wenn das von kritischer oder rationaler Kontrolle unabhängig gewordene Wort seinen Ausdruck findet, bricht mit ihm das Surreale aus, währenddessen das künstliche Universum der vorgefaßten Begriffe versinkt. Die automatische Niederschrift als Methode poetischen Schaffens diente dem systematischen Gestalten der Ausbrüche des Geistes. Die somit erreichte Surrealität war demzufolge das Echo der Tiefen des Unbewußten. Das Auseinanderreißen der Worte, das Zerstückeln der Sätze sowie die Zusammenhanglosigkeit der Bilder sind lediglich die Folgen jenes unkontrollierten Ausbruchs des Unbewußten in das Bewußtsein und die Sprache. Die verwirrende Technik der Überraschung, des Zusammenfügens von Realitätsfragmenten, die unvereinbar zu sein scheinen, ruft im Zusammenprall mit den gewohnten Erscheinungs- und Anschauungsformen des Alltäglichen den poetischen Effekt hervor, ganz im Sinne der von Reverdy formulierten und von Breton in dem ersten Manifest des Surrealismus zitierten Definition des poetischen Bildes. Lautréamont wird als Ahnherr dieser poetischen Konzeption erkennbar, wenn es bei ihm heißt:

Beau comme la rencontre fortuite, sur une table de dissection, d’une machine à coudre et d’un parapluie.

Das Aufleuchten des einzelnen, isolierten Bildes sprengt die Kontinuität des Gedichtes. Je heftiger und unerwarteter der Zusammenprall des Ungewöhnlichen, Fremdartigen mit dem Gewohnten, Alltäglichen ist, desto blendender und sprühender geschieht das Aufblitzen des entstehenden Bildes, das die Offenbarung eines unerwarteten Bezuges zwischen zwei voneinander so weit wie möglich entfernten Realitäten geworden ist. Hat das poetische Bild fortan nicht mehr repräsentativen, sondern suggestiven Charakter, so kann ein verborgenes Leben, ein anderes, höheres Sein durch das Annähern entfernter Realitäten wachgerufen werden, ein Annähern, das so bizarr ist, daß es die Dinge oder Worte ihres gewöhnlichen Sinnes beraubt, um sie nur noch als Symbole dessen, was sie nicht sind, gelten zu lassen. Hier wird das Bild also nicht durch die logische Aktivität des Intellekts hervorgebracht; es ist vielmehr eine spontane Schöpfung des Geistes, eine plötzliche Erleuchtung, das unvermittelte und jähe Verknüpfen zweier Wirklichkeiten, die das menschliche Anschauungsvermögen zu trennen gewohnt ist und die nun, aufgelöst und miteinander verschmolzen, aus ihrem Zusammenfluß das imaginäre Bild hervorgehen lassen. Die Phantasie erreicht das Surreale, indem sie den Widerstand der Materie bricht und die konventionellen Schranken der Gefühlswelt überwindet. Das surrealistische Bild erweist seine Kraft und Echtheit in dem Unerwarteten seines Entstehens, in seiner gewollten Diskontinuität und in der Plötzlichkeit seines Hervorbrechens und Aufblitzens. Von „Claire de terre“32 bis zur „Ode à Charles Fourier“33 sind Bretons Gedichte von unerwarteten Bildern durchsetzt, in denen die voneinander entferntesten Dinge in einer verwirrenden Unmittelbarkeit verschmelzen wie „l’ardoise du ciel“, „la jolie menuiserie du sommeil“, „le parfum sonné à toute volée!“, „ma femme à la langue d’hostie poignardée“. Wenn nicht alle Bilder Bretons notwendigerweise ein Produkt automatischer Niederschrift darstellen, so sind sie dennoch stets gekennzeichnet durch ihre Spontaneität, ihr Assoziationsvermögen, das Fehlen jeglichen Vorbedachts sowie durch die Schärfe der Koinzidenzen, die sie schaffen.

*

Neben einer stets zunehmenden Abwendung vom Realen, die seit der Romantik für die französischen Lyriker im Verlauf des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts bezeichnend wurde und die ihre Höhepunkte in der Poesie Reverdys und der Surrealisten erreichte, zeigte sich auch schon früh die Tendenz zur Desintegration des lyrischen Zusammenhangs, jene Diskontinuität des poetischen Bildes, deren extremste Formen in einigen Kriegsgedichten der Calligrammes Apollinaires, in Reverdys zwischen 1925 und 1930 erschienenen Gedichtsammlungen sowie in der surrealistischen Dichtung zu finden sind. Seit Baudelaire neigt der größte Teil der französischen Lyrik mehr und mehr dazu, in kurzen poetischen Formen eine gedrängte Dichte zu erlangen, und sie scheut in steigendem Maße die Kontinuität des langen Gesangs. Hierbei wird die Dauer der poetischen Emotion auf wenige Augenblicke festgelegt. Die so erlangte Konzentration des Lyrischen hat bei den einzelnen Dichtern freilich sehr verschiedene Beweggründe. Bei Baudelaire ist es die stete Sorge um formale Vollendung, die zu Formen des kurzen Gedichtes greifen läßt, während bei Mallarmé die Suche nach einer absoluten und magischen Formel des Universums dem einzelnen Satz Geschlossenheit und Dichte des Sinns verleiht. Rimbaud hat das Zerstückeln poetischer Formen weiter vorangetrieben, wenn, zwischen Hoffnung und Bedrohung, ein plötzliches Emporschnellen der Bilder den lyrischen Kontext bestimmt. Die Surrealisten schließlich heben mit ihrer automatischen Niederschrift die logischen Bindungen und rationalen Strukturen gänzlich auf, indem sie unzusammenhängende Fragmente des unbewußten Lebens hervorbringen, Worte miteinander verbinden, die jede andere Herkunft als die einer spontanen Assoziation verneinen.
Seit Apollinaires Calligrammes und insbesondere mit dem Ausbruch des Surrealismus wird die Dichtung zur Erfahrung eines absoluten Augenblicks; das Gedicht verliert seine Kontinuität und verdichtet sich gänzlich in dem Aufleuchten des einzelnen Bildes, in der Isolierung des einzelnen Wortes. Valéry ist hierbei nur scheinbar eine Ausnahme. Seine Gedichte, die offenkundig von keiner Diskontinuität zeugen, verraten dennoch die Besessenheit des Dichters, jeden Vers in die Fiktion absoluter Zeitlosigkeit zu rücken. Diese Erfahrung tritt in das Bewußtsein der Lyrik mit jener Avantgarde, die sich 1916 bildet und in der unter anderen Pierre Reverdy, Philippe Soupault, Louis Aragon, André Breton und Jean Cocteau sich zusammenfinden und Guillaume Apollinaire als den Meister des „esprit nouveau“ betrachten, um in seiner Nachfolge eine Ästhetik der Erfindung und der Überraschung zu schaffen. Dada und, ein wenig später, die Surrealisten stellen den Begriff der Kunst in Frage und ersetzen ihn durch den der schöpferischen Aktivität des Geistes, wobei sie neue Mittel ersinnen: Zufluchtnahme zu Traum und automatischer Niederschrift, Hingabe an den Zufall und an das Spiel der aus den Tiefen des Unbewußten aufsteigenden Bilder.34 Die Poesie, die nun die Einheit des Gedichtes verläßt, verdichtet sich fortan in dem einzelnen Bild, dessen Wirksamkeit der Surrealismus nicht nur infolge einer Verbindung mit dem Zufälligen, Paradoxen, Seltsamen oder Irrationalen, sondern vor allem durch eine psychologische oder syntaktische Verkürzung erzielte.35 Dies ist eine Technik, die, insbesondere als Technik der Agglutination,36 schon durch andere Lyriker zuvor beherrscht wurde und die das Tempo, in dem die Übertragung des Bildes durch die Sprache erfolgt, ein Höchstmaß erreichen läßt. Die Dichtung der Surrealisten und ihrer unmittelbaren Vorläufer zeigt eine Tendenz zur totalen Desintegration der Bilder und der Sprache, was eine Auflösung der alltäglichen Inhalte des Bewußtseins bedeutet, die stattfindet, damit jene kaum erfaßbaren Vorgänge im seelischen Bereich – die eigentlichen Phänomene, auf die diese Dichtung ausgerichtet ist – sichtbar werden. Hierdurch wird eine poetische Diskontinuität erlangt, wie sie in Rimbauds „Illuminations“ und in Hölderlins später Dichtung schon prototypisch zutage getreten ist. Indem Apollinaire, wie er es in dem Gedichte „Liens“ zu Beginn seines Gedichtbandes Calligrammes ankündigt, sich von der Erinnerung und allem Geliebten abwendet, setzt er sein inneres Leben der Vielfalt und Diskontinuität des Gegenwärtigen aus, was einen Bruch mit der Kontinuität und Einheit des Gedichtes nach sich zieht. Was hierbei schwindet, ist nicht nur die Architektonik, in deren Mitte sich das dichterische Empfinden entfaltet, sondern auch das eigentliche, besondere Milieu, das diesem seine Prägung verleiht. Gerade auf dem Zufälligen, Unbestimmbaren, Äußerlichen und Unwesentlichen gründet Apollinaire eine neue poetische Realität und stiftet einen Wirrwarr zwischen Nebensächlichem und Notwendigem, Äußerem und Innerem, Zufälligem und Vorherbestimmtem. Das Prinzip dieser neuen dichterischen Magie erscheint als ein unaufhörliches Oszillieren zwischen den Polen von Realität und Phantasie, Mitteilbarkeit und Irrsinn. Das Gedicht wird aus authentischen Fragmenten einer zerstückelten Realität geformt, die gemäß einer den Traum bestimmenden Gesetzmäßigkeit wieder zusammengefügt wird und neu entsteht. Die Diskontinuität, die Zerstückelung einer Realität innerhalb des Gedichtes, äußert sich als zentrifugale, zerstreuende Tendenz. In Apollinaires Kriegsgedichten tritt sie besonders stark seit jenem Teil der Calligrammes in Erscheinung, der den Titel „Case d’armons“ trägt.37 Gedichte wie „Fusée“ oder „Souvenirs“ bestehen aus einem Nebeneinander heterogener Elemente, die kein Sinnbezug mehr verbindet. Diese Texte scheinen die visuelle Analogie einer ihres Sinnes beraubten Welt darzustellen, die als ein unlösbares Rätsel aufgefaßt wird. Jene unzusammenhängenden Elemente des Gedichtes sind oftmals zwar von Bewegungen getragen, die sich jedoch als sehr auseinanderlaufend, unorganisch, anarchisch kundtun. Der weite Raum, der den freien Stellen innerhalb des Gedichtes gewährt wird, hebt den Charakter des Zusammenhanglosen und Unbeweglichen umso deutlicher hervor. Was in Apollinaires Lyrik sich allmählich anbahnt und für manche Gedichte der Calligrammes bestimmend wird, greifen die Surrealisten als selbstverständliche Grundkonzeption ihres Dichtens auf. Wenn nun in besonderem Maße die surrealistische Poesie nicht die Einheit des Gedichtes als einen Zusammenhang poetischer Bilder erstrebt, so ist nicht das reine Nichts Ziel dieser Dichtung, sondern ein Punkt, der die schöpferische Synthese aller Antinomien herbeiführen soll. Die Desintegrierung ist nicht Endzweck, sondern eine vorbereitende Phase, welche die Möglichkeit ständiger Wiederholung gewährt, um ein unbegrenztes Erneuern hervorzurufen.
Die höchsten Ziele des Surrealismus sind der metaphorischen Kraft der Phantasie untergeordnet. Noch in „Du Surrealisme en ses œuvres vives“38 erinnert Breton daran, daß die Schöpfung des Bildes als Mittel zur Annäherung zweier voneinander entfernter Objekte zugunsten eines Aufblitzens, das einen dauerhaften Glanz hervorbringe, die Hauptangelegenheit des Surrealismus gewesen sei. Das Aufblitzen des Bildes hat demnach die Eigenschaft, die Dinge zu desintegrieren, um daraus ihre leuchtende Wesenheit hervorgehen zu lassen. Der Surrealismus wendet sich hierbei gegen die cartesianische Tradition, die der Vernunft die Phantasie unterwirft, und folgt der Bahn der Hegelschen Philosophie, wo dem Wirken der Phantasie der poetische und ästhetische Genuß beigemessen wird. Das Bild wird ein dialektisches Mittel, das durch die Kraft der Synthese fähig ist, eine noch so beträchtlich erscheinende Entfernung zwischen zwei Objekten aufzuheben und antinomische Realitäten zu versöhnen. Es stellt eine Totalität dar, die kraft ihres sprachlichen Gewebes die Gegensätze vereint. Obschon von der Irrationalität seines Inhaltes und seinem plötzlichen Aufleuchten bestimmt, vermag das surrealistische Bild häufig, trotz der Momente des Aufblitzens, der Überraschung und des Unvorhergesehenen, dennoch einen gewissen Zusammenhang zu erwirken, der in jener zwischen den verschiedenen Objekten herbeigeführten Annäherung begründet liegt. Das Bretonsche Bild ruft Bezüge wach, die der Dichter mit der Natur unterhält, demzufolge die Welt der Dinge eine metaphorische Darstellung des geistigen und emotionalen – wenn auch in sich zerrissenen und chaotischen – Lebens bedeutet. Fortan erfährt die poetische Bildkonzeption jedoch eine Wende mit Lyrikern wie Char und Bonnefoy, bei denen die Dialektik als ein fundamentales Prinzip dichterischen Welterlebens deutlich wird, währenddessen die Antagonismen allerdings in einen geordneten Zusammenhang des von realen Gegebenheiten genährten Bewußtseins einbezogen sind und durch die Antizipation dieser ihrer vorgegebenen Ordnung als einer Art providentiellen Gefüges dem Reich Baudelairescher „correspondances“ nahestehen, in einem grundsätzlichen Gegensatz zu dem Wirrwarr jener von der Unmittelbarkeit des Zufalls hervorgebrachten „pétrifiantes coïncidences“ Bretonschen Dichtens.

B) Rückkehr zum Realen
und die Kontinuität des poetischen Bildes

Nach den ersten vier Jahrzehnten dieses Jahrhunderts tritt eine Poesie junger Lyriker in Erscheinung, die nicht mehr unter dem Einfluß jener Kräfte stehen, die für Apollinaire, Max Jacob, Cocteau, Cendrars, Reverdy, Tzara, Breton, Eluard und andere bestimmend waren. Es sind Lyriker, die größtenteils etwa zwischen 1920 und 1930 geboren wurden und die Repräsentanten der jüngeren Poesie Frankreichs· darstellen wie beispielsweise Yves Bonnefoy, André du Bouchet, Jacques Charpier, Jacques Dupin, Roger Giroux, Edouard Glissant, Philippe Jaccottet, Jean Laude, Pierre Oster, Henri Pichette, Jean Tortel, Romain Weingarten. Mit Ausnahme von Andre du Bouchet, der sich Reverdy anschließt und ein surrealistisches Erbe bewahrt, wobei seine Dichtung einem unteilbaren Augenblick verhaftet ist, kehren diese Lyriker zu Formen der Kontinuität zurück.
Schon vor dem Auftreten dieser jüngeren zeitgenössischen Lyriker jedoch lösten sich Dichter von der Konzeption einer absoluten Augenblicklichkeit, deren Wesen auf dem isolierten poetischen Bilde gründete. Für René Char wurde der Satz, dessen Elemente die Spannung einer lebendigen Dialektik hervorrufen, in seiner Kürze und Präzision zum Wesensmoment der Lyrik. Das dialektische Prinzip, durch das diese sich grundlegend von der surrealistischen und der avantgardistischen Lyrik unterscheidet, ist sowohl in dem Erscheinen der Antagonismen als auch in dem Erstreben und Verwirklichen ihrer unlöslichen Einheit begründet. Während bei Char die lyrischen Elemente in einem Feld dialektischer Spannung verharren und somit den engen Zusammenhang der poetischen Bilder bestimmen sowie ihre Kontinuität hervorrufen, ist bei Avantgardisten und Surrealisten das Bild erst in dem Nebeneinander oder Gegenüber mit verschiedenartigen anderen, die kein Sinnbezug mehr verbindet, in eine Bewegung eingefangen, ohne indessen aus seiner Isolation gelöst zu werden. So läßt Char im Gegensatz zu früheren Lyrikern des Jahrhunderts die Bewegung des Gedichtes dem einzelnen lyrischen Element immanent werden. Gegenüber einer Dichtung reiner Gegenwart oder absoluter Augenblicklichkeit konzipiert Char eine Lyrik totaler, vorwärtsdrängender Zeitlichkeit, deren Augenblicke zukunftsgerichtet sind. Jedes poetische Ereignis ist stets, wenn auch bisweilen in negativer Weise, an andere Augenblicke zukünftigen Werdens gebunden, selbst ein letzter und unwiderruflicher Augenblick wie in „Le loriot“,39 wo der Dichter verkündet:

Tout à jamais prit fin.40

Selbst dort, wo Char sich gegen das Fortschreiten der Zeit wendet, um eine neue Harmonie, „le tout ensemble“, jenseits der zeitlichen Ordnung zu erfahren, sind die Zeichen des Aufbruchs und des Vorwärtsdrängens in die Bildkohärenz eingefügt, wird die Harmonie einer überzeitlichen Ordnung lediglich als eine das Ich umgebende Sphäre verspürt und zugleich schon einem Augenblick nahender Zukunft zugeordnet:

Déjà là, printanier crépuscule! („Le tout ensemble“ ).41

Wie René Char versuchten auch Henri Michaux und Francis Ponge, die wie Char, chronologisch gesehen, der Generation Paul Eluards und Louis Aragons angehören, eine poetische Sprache außerhalb der Zielrichtung des Surrealismus zu schaffen und dabei voneinander unabhängige Wege zu beschreiten. Inmitten der Vielzahl von Tendenzen in der nachsurrealistischen Lyrik findet sich eine dominierende Note, nämlich die Überzeugung, daß der Dichter nicht zum eigenen Ergötzen schreibe, sondern jene Aufgabe zu erfüllen habe, die Rimbaud den „horribles travailleurs“ der Zukunft zuwies, wobei der Dichter als „Suprême Savant“ der Menschheit in einer noch zu erfindenden Sprache seine Visionen des Unbekannten kundtue. Selbst Michaux, der Meister introspektiver Dichtung, ist weit entfernt von dem geringsten Gefühl des Selbstgenusses und der Selbstgefälligkeit inmitten seiner Phantasmagorien. Wie dieser so versagen sich auch viele andere zeitgenössische Dichter jede lyrische Überschwenglichkeit, denn ihre Poesie ist ihnen nicht Endzweck, sondern ein Mittel des Menschen, den Sinn der Welt neu zu ergründen; dabei handelt es sich nicht um eine Poesie der Erkenntnis, sondern um eine des Erkenntnisaktes, was Char als „connaissance productive du réel“ definiert. Diese Lyrik ist im Gegensatz zu der des Surrealismus der gegenständlichen Welt sowie der Existenz des Menschen zugewandt und dabei bestrebt, eher Erfahrungen zu registrieren und zu beleuchten, um aller Objektivität zu genügen, als die Augenblicklichkeit einer Vision oder eines Gefühls in einen transzendenten Bezirk zu erheben. Aus dieser Sicht sind begreifbar der abrupte und einhämmernde Ton der Aphorismen Chars, das Verfahren Ponges, des von seinem Selbst völlig abgewandten Dichters der gegenständlichen Welt, die an Objektivität; klinischer Analysen grenzende Methode Michauxscher Introspektion und, nicht zuletzt, die dem Problem des Ausdrucks und der Mitteilung gebotene Aufmerksamkeit.
Als Aufgabe stellt sich zuvorderst das Problem der Mitteilbarkeit. Schon in der Zeit, als die „écriture automatique“, deren sich die Surrealisten bedienten, jede Mitteilbarkeit zu vereiteln drohte, fanden viele unter ihnen, und nicht nur ihre weniger bedeutenden Vertreter, sondern insbesondere Aragon, Desnos und Eluard, zu einfachen poetischen Formen zurück, die eine prosaische Handhabung des poetischen Wortes ermöglichten, als es galt, die 1940 verlorene Freiheit, die Märtyrer des Krieges, das Vaterland und die geliebte Frau in eine neue lyrische Thematik einzubeziehen. Damals bereicherte dieses Bemühen die französische Dichtung um Werke wie Le Crève-Cœur42 und Les Yeux d’Elsa43 von Aragon, Poésie et Vérité44und Au rendez-vous allemand45 von Eluard. Die Frage, wie das poetische Wort von allen verstanden werden kann, wird durch jene andere, ob Sprache möglich ist, in den Hintergrund gedrängt. Ist das Wort nicht die Abwesenheit des Dinges, ist die Sprache nicht die Offenbarung des Nichts? Der Welt mittels der Sprache verpflichtet, erkennt der Dichter jene Ohnmacht der Sprache, ihren Gegenstand zu erfassen oder das Wirkliche darzustellen. Sartre erklärte das „reine Schauen“, das von individuellem Zutun befreit ist, für unmöglich, weil der Mensch nicht aus seinem Sosein hinaustreten kann. Seit Husserls Aufruf „zu den Sachen selbst“ wird die Beziehung des Menschen zum Ding und damit die Sprache von einem anderen Gesichtspunkt aus betrachtet. Die Bildung der Sprache aus der Beziehung des Menschen zur Dingwelt wurde als in umgekehrter Richtung verlaufend erachtet. Nicht mehr wie in der deutschen idealistischen Philosophie wird der Mensch als erkenntnistheoretisches Zentrum der Welt gesehen, wo er der Objektwelt Daseinsformen zugeschrieben hat, die nichts mit der menschlichen gemeinsam haben, sondern fortan wird Husserls Auffassung geltend, nach der die Sprache sich von den Dingen zum Menschen hin bildet. Ponges Dichtung bietet das Beispiel einer unaufhörlichen schöpferischen Wechselbeziehung zwischen Sprache und Gegenstand, wobei das analysierende Bewußtsein auf die nach sprachlichem Ausdruck drängende Wesenssubstanz des Dinges gerichtet ist. Ähnlich wie Ponge verfolgt auch Michaux das Ziel, die Dinge von ihrem Innern her zu erfassen. Besessen von dem Gefühl der Unvereinbarkeit dessen, was ein Wort in der Phantasie erweckt, mit dem, was es in der Realität bezeichnet, und angesichts der vielgestaltigen Aspekte der dinglichen Welt, deren Komplexität der Geradlinigkeit des Denkens verborgen bleibt, greift Michaux zuweilen nach Urelementen der Sprache und zieht sich auf den Stand elementarer Äußerung zurück. Michaux, Ponge und Char lassen in ihrer Lyrik erkennen, wie wenig die Beziehung zwischen Wort und Ding festgelegt ist. In anderer Weise beschäftigt Raymond Queneau die Problematik der Sprache, die er in den Mittelpunkt seines Werkes stellt. Seine berühmten Exercices de’style,46 die dieselbe unbedeutende Anekdote in 99 verschiedenen Versionen darbieten, feiern die Allmacht der Worte. Henri Pichette, der seiner Dichtung den Titel Apoèmes47 verleiht, bekundet damit den Willen, jedes Selbstgefallen an den Bildern der Sprache zu verleugnen, und definiert sein künstlerisches Schaffen als „boxer avec les mots“, wodurch er auf pittoreske Weise den Primat der Sprache, ihren konkreten Charakter sowie ihre dem Gedicht vorangehende Existenz charakterisiert. 

*

In einem Wesensmoment dichterischer Anschauung und lyrischen Gestaltens zeigt sich bei Char, Ponge und Michaux die entscheidende Abkehr vom Surrealismus und jeder poetischen Richtung, die mit Hilfe der Phantasie eine intensive Befreiung des Bewußtseins aus seiner Bindung an die Wirklichkeit anstrebt. Das Imaginäre wird nicht mehr um seiner selbst willen gehegt, die Phantasie ist zum Mittel des Erkennens und der Analyse des Realen geworden.
Die Surrealisten glaubten zu Beginn ihres Wirkens, das Irrationale heile alle Krankheiten eines übersteigerten Rationalismus. In diesem Sinne verkündete das Vorwort der ersten Nummer der Révolution surréaliste (1. Dezember 1924) die Feindschaft gegenüber dem Rationalen:

… l’intelligence n’entrant plus en ligne de compte, le rêve seul laisse à l’homme tous ses droits à la liberté.

Diese Haltung gipfelte in dem Kult des Wunderbaren, das nach Breton die einzige dieses Namens würdige Realität darstellt und sowohl in der Halluzination als auch im Traum und Wahnsinn gründet. Manche Formulierungen Bretons erwecken den Glauben, die poetische Erkenntnis habe, weil sie vom Irrationalen ausgeht, eine supra-rationale Bedeutung, und Eluard betrachtet in Donner à voir48 den Surrealismus als „un instrument de connaissance qui travaille à mettre au jour la conscience profonde de l’homme“. Ein ganzes Jahrhundert französischer Dichtung – von Nerval bis Apollinaire – trug dazu bei, die Phantasie in steigendem Maße von ihren logischen Fesseln zu lösen, bis diese im Surrealismus ihre völlige Ungebundenheit erlangte, als die bis zum Absurden gesteigerte Inspiration in die Vorherrschaft der automatischen Niederschrift einmündete. Vor der Kraft der Phantasie erloschen bald alle Grenzen, denn ihr sollte es vorbehalten sein, die geheimnisvollen Tiefen des geistigen Universums, des Traums, des Unbewußten und die magischen Bezirke des Übersinnlichen zu durchdringen. Die Phantasie wurde als ein magisches Mittel betrachtet, durch das die Verschmelzung aller Gegensätze vollzogen werden könnte, was Breton mit seinem Glauben an eine „sorte de réalité absolue, de surréalité“ bekräftigt, in der die Grenze zwischen Subjekt und Objekt, Bewußtem und Unbewußtem, Traum und Handeln aufgehoben sei. In diesem Sinne erstrebt die „écriture automatique“ eine Synthese zwischen den Kräften des Bewußtseins und denen des Unterbewußtseins, indem sich dem Bewußten die Ströme des Unbewußten und Unterbewußten einverleiben.49 Seit 1919 zeigte sich Breton fasziniert von Worten, die aus den Tiefen des Ich, vor allem an der Schwelle des Traumes, in das Bewußtsein aufsteigen, und es wurde sein großes Experiment, daß er, in vollem Wachen, sich in die Bilder des Traums versenkte, um ihre Sprache zu erspähen. Hierdurch erweckte er eine Art von innerem Diktat, als dessen erstes Dokument er uns die in Zusammenarbeit mit Soupault geschriebene Sammlung Les Champs magnétiques hinterließ. Indem die automatische Niederschrift schon in ihrem frühesten Vollzug nicht nur durch einen einzelnen, in seiner Subjektivität eingeschlossenen Dichter, sondern in Gemeinschaft zweier Autoren durchgeführt wird, ist bereits in den Anfängen des Surrealismus das persönliche Unbewußte auf das kollektive und sogar kosmische hin ausgeweitet,50 weshalb die Sprache Bretons, die von dem Prinzip des „hasard objectif“51 bestimmt ist, die einzigartigen „coïncidences“ aufnimmt. Nach Bretons Auffassung ist die „écriture automatique“ weniger ein einfacher Vorgang psychologischen Erforschens, als vielmehr eine Offenbarungsweise der Welt durch den Menschen, denn da der Mensch, aus surrealistischer Sicht, nicht eine dem Universum sinnlos beigefügte Begleiterscheinung, sondern einen innigen Bestandteil der Natur darstellt, betrifft auch jedes Wort des Menschen im engsten Sinne die Natur, ist jeder noch so flüchtige und subjektive Eindruck eine Offenbarung des Kosmischen. Die automatische Niederschrift bringt demnach kosmische Sprache hervor.
Seitdem der Surrealismus 1939 als Dichtergruppe sich auflöste, vermochte keine Bewegung von Spannkraft wieder einzelne Dichter zusammenzuführen.52 Niemals zuvor zeigte die Lyrik aber auch so viele verschiedenartige Aspekte. Der zeitgenössische Dichter findet eine Situation vor, die ihm den Genuß einer fast grenzenlosen Freiheit erlaubt. Seit dem Augenblick, da laut Bretons Worten das Gedicht als „une débâcle de l’intellect“ aufgefaßt wurde, schien jeder Versuch eines „art poétique“ seine Daseinsberechtigung zu verlieren. Von der ungestalteten Prosa, die durch Rimbauds Worte „si ce qu’il rapporte de là-bas… est informe, il donne de l’informe“ dem modernen Lyriker zugewiesen wurde, bis zum traditionellen Vers sind alle Möglichkeiten der Form dem Dichter eröffnet. Unter den französischen Lyrikern, die teils aus dem Surrealismus hervorgegangen sind, teils ihn tangiert haben, sind es nunmehr vor allem Char, Ponge und Michaux, die gegenüber surrealistischen Tendenzen schon früh sehr individuelle Standpunkte bezogen sowie eigene Formen des künstlerischen Ausdrucks gefunden haben und deren Verhältnis zur Wirklichkeit und Sprache bestimmend für die folgende Generation französischer Dichter geworden ist. Char, dessen lyrische Bildgestaltung eng mit der Landschaft der Provence verwoben ist, lenkt bald, nach der Zeit einer frühen Verbrüderung mit den Surrealisten, die Kräfte seiner Phantasie auf ein diesseitiges Panorama des Denkens und Empfindens, wo antagonistische Momente die Spannung einer ständigen Dialektik erzeugen und dem Motiv einer vorwärtsdrängenden Zeitlichkeit fortwährenden Antrieb geben. Char sagt sich schon in seinem Frühwerk Artine53 trotz anfänglicher Beachtung einer strengen surrealistischen Doktrin bald von einer aus den Bereichen des Traums, des Unbewußten und Unwirklichen heraufbeschworenen Welt los, um sich der unmittelbaren Darstellung des Wirklichen hinzugeben. Die Poesie bedeutet Char nicht mehr ein Deformieren der Welt, sondern augenblickliche Offenbarung derselben. Die Poesie erscheint ihm als „connaissance productive du réel“, denn sie nährt die menschliche Empfindungsfähigkeit für das Wirkliche und stellt somit eine Erkenntnis innerhalb des emotionalen Lebens dar. Michaux hingegen beschwört in seinen Dichtungen eine phantastische Welt herauf, die, obgleich sie in transrealen oder imaginären Dimensionen gesichtet wird, dennoch nur als Metamorphose des in persönlichsten Bereichen erlebten Realen gilt und deren als Surrealität anmutende Gegebenheiten stets auf einer Skala des Alltäglichen registriert erscheinen. Michaux schenkt durch seine seit dem Jahre 1955 unternommenen Versuche mit sinnestäuschenden Mitteln zwar den Strömen des Unterbewußten wieder eine erhöhte Aufmerksamkeit und nähert sich damit aufs neue der surrealistischen Tendenz, jedoch bedeutet ihm die Analyse des unterbewußten Lebens lediglich eine Bestätigung und Vertiefung schon erfahrener Gefühlsmomente und Gedanken, d.h. eine bessere Kenntnis der realen Gegebenheiten jener auf sein Ich ausgerichteten Welt. Ponge steht im schärfsten Gegensatz zu jedem Versuch des lyrischen Bewußtseins, über die Wirklichkeit hinaus in eine Sphäre irrealen Schauens vorzudringen. Der Dichter findet sich in das Diesseitige der Dinge und Worte eingeschlossen, wo die Möglichkeit semantischer Fluktuation und Dehnbarkeit eine Überfülle an Sinn, ein Oszillieren der Bedeutungen offenläßt. Die Welt aus der Sicht des Gegenstandes zu betrachten und zu deuten ist die zentrale Tendenz seiner Dichtung, die durch ihre immanente Gegenständlichkeit zum stärksten Antipoden des Surrealismus wird und damit in den schärfsten Gegensatz zu einem Ideal tritt, das ein Höchstmaß an Subjektivität erstrebt. 

Ferdinand Simonis, Vorwort

 

 

Inhalt

VORBEMERKUNGEN

A Thematik und Auswahl
B Die Kritik

EINLEITUNG
A Hinwendung zum Surrealen und die Diskontinuität des poetischen Bildes
B Rückkehr zum Realen und die Kontinuität des poetischen Bildes

René Char
Lyrik der Antagonismen und der Pulverisierung

1. Die Chiffren realer Landschaft
2. Antagonismen
3. Momente der Synthese: Identität der Gegensätze, Simultaneität und überzeitliche Dauer
4. Prinzipien der Metamorphose: Explosion und Pulverisierung
5. Das absolute Ereignis zeitlich-räumlicher Einheit und die Vision fragmentarischer Vielheit
6. Die zukunftsgerichtete Tendenz: Aufbruch und Wille zur Handlung

Francis Ponge
Lyrik einer Weltdeutung aus gegenständlicher Sicht

1. Vom ,objet‘ zum ,objeu‘ – Das innerste Wesen des Dinges als ein auf sprachlichen Ausdruck gerichtetes Bemühen
2. Die Technik des sprachlichen Ausdrucks
3. Die Nähe von Ich- und Dingsphäre und die Identität ihrer Empfindungsfähigkeit
4. Die Struktur der Gegenstände und der Prozeß ihrer Analyse
5. Beispiele wechselseitiger Durchdringung von dinglicher und menschlicher Sphäre
6. Wort- und Ding-Immanenz

Henri Michaux
Lyrik der inneren und der transrealen Welt

1. Mißklang zwischen gebieterischem Ich und angerufener Welt
2. Dichtung der Eingeweide
3. Magische Intervention und exorzisierende Dichtung
4. Frustrierte Intervention und endgültige Befreiung
5. Meskalinrausch – Experiment und Verifizierung
6. Das Imaginäre und Transreale als deformierte Realität

Dichter der jüngeren Generation

Das Erfahren von Sprache und Welt bei Jean Tortel, Yves Bonnefoy und André du Bouchet
Die realen Formen elementarer Landschaft – Jacques Dupin

BIBLIOGRAPHIE 

Verzeichnis der Abkürzungen

 

 

Vorbemerkungen

A Thematik und Auswahl

Im Surrealismus fand eine Entwicklung der französischen Lyrik ihren Höhepunkt, deren Prinzipien das Eintauchen in eine Welt des Traums und des Überwirklichen durch die Kräfte der Phantasie sowie das Aufheben der Kontinuität des poetischen Bildes waren. Die Überwindung dieser Tendenzen sollte für die nachsurrealistische Lyrik bestimmend werden, in der sowohl ein Flug der Phantasie in Traum und Surrealität als auch ein Zerstückeln des lyrischen Zusammenhangs gehemmt erscheinen. Die französischen Lyriker der Gegenwart sind vornehmlich den Formen des sichtbaren Realen zugewandt, die stets in begrenzter Wahl hinsichtlich ihres Symbolwerts aufgenommen werden, während sie gegenwärtig und zugleich von Unendlichkeit erfüllt erscheinen. Wenn nun in folgendem eine gewisse zeitgenössische französische Lyrik als ,nachsurrealistisch‘ bezeichnet wird, so ist hiermit keineswegs eine Kunstauffassung charakterisiert, die als Gegenpol zur surrealistischen entstanden wäre. Der Surrealismus wird zwar als Höhepunkt einer Entwicklung der französischen Lyrik angesehen, in der die fiktiven Ausbrüche in die reine Subjektivität unter dem Primat der Inspiration letztlich zur ,écriture automatique‘ führten und wo die Diskontinuität des poetischen Bildes eine Anschauungsform widerspiegelt, die jeglichen gedanklichen Zusammenhang sprengt, um das Abbild einer zerstückelten Welt und eines in sich zerrissenen Menschen zu sein. Da die surrealistische Doktrin jedoch nicht alle bedeutenden Dichterindividualitäten, die zwischen den beiden Weltkriegen wirksam waren, erfaßte, wird ihre poetische Ausprägung auch keineswegs als epochales Merkmal französischer Lyrik erachtet werden können. Die Diskontinuität dieser Lyrik spiegelt eine Anschauungsform wider, die sowohl jeglichen Zusammenhangs als auch aller Architektonik ermangelt und somit Abbild einer zerstückelten Welt sowie eines durch innere Vielteiligkeit und Zerstreuung bestimmten Menschen ist. Neben dieser Lyrik besteht eine andere, christliche, die der Vision einer zerstückelten Welt die Gesamtschau eines geordneten Universums entgegenstellt, in der Mensch und Schöpfung weder zerrissen noch getrennt erscheinen. Ihre Tradition durchzieht unaufhörlich das 20. Jahrhundert. Péguy, Claudel und gegenwärtig Pierre Emmanuel oder Patrice de la Tour du Pin sind Zeugen solcher Poesie. Außerhalb dieser langen Tradition christlicher Dichtung jedoch findet sich in steigendem Maße auch bei den zeitgenössischen Lyrikern, obgleich sie zum größten Teil ihre Wurzeln im Surrealismus haben, ein Streben nach Kontinuität der Bilder, nach Einheit des Fühlens und Denkens. Ob den Abgründen des Gedankens und Empfindens oder den Höhen einer geschichtlichen Morgendämmerung zugewandt, sowohl in dem Bedauern des verlorenen Paradieses als auch in der Hoffnung auf das Reich Gottes kehren Lyriker verschiedenartiger Weltbetrachtung zu Formen der Kontinuität innerhalb einer auf das Reale bezogenen, zuweilen aus der Sicht der Dinge hervorgehenden Dichtung zurück.

Mit ,nachsurrealistisch‘ soll nunmehr eine zweifache Gegebenheit zeitgenössischer französischer Poesie angedeutet werden: eine gewisse chronologische Relation und eine bestimmte Antithetik. Die meisten der jüngeren Lyriker waren in ihren Anfängen von der Technik surrealistischer Bildkomposition ergriffen, und bei vielen ist ein surrealistisches Erbe noch heute bestimmend, vor allem in der Dichtung André du Bouchets sowie in der jüngst veröffentlichten Gedichtsammlung Jacques Dupins L’embrasure, insbesondere in dessen Dichtungen „La ligne de rupture“ und „L’onglée“. Nach dem äußersten Pendelausschlag in die unerforschten Bereiche der Surrealität, wo die unzusammenhängenden Fragmente des Unbewußten den poetischen Text bestimmten, erfolgte eine Gegenbewegung in die Tiefen des Realen, wo die relative Festigkeit und Unbeweglichkeit elementarer Formen dinglichen Daseins und ursprünglicher Landschaft den Taumel der Phantasie und die Verwirrungen des Gefühls bannen.

Das erste der beiden einleitenden Kapitel soll Tendenzen der französischen Lyrik im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die in den Surrealismus einmünden, skizzieren, um schließlich Pierre Reverdy für eine Weile in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken, weil dieser die wichtige Schlüsselfigur darstellt, mit dessen von André Breton aufgenommener und zum Teil freilich mißverstandener Konzeption des poetischen Bildes die äußersten Grenzen zum Surrealen hin überschritten werden. Das zweite Einleitungskapitel charakterisiert die Lossage von surrealistischer Poesie, indem es die Rückkehr der gegenwärtigen Lyrik zu Formen des Realen und zur Kontinuität des poetischen Bildes hervorhebt, was im Hauptteil der Darstellung des näheren erörtert und an individuellen Dichterkosmogonien aufgezeigt wird.
Wenn Char, Ponge und Michaux in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt werden, so geschieht es, um an ihren Wegen drei Möglichkeiten eines Dichtens aufzuweisen, das, obschon es in seinen Anfängen surrealistischen Tendenzen geöffnet war oder doch zumindest nahestand, bald eine andere Zielrichtung lyrischen Gestaltens eingeschlagen hat. Ponges Dichtung zeichnet die Variante extremster Gegensätzlichkeit zu einem Ideal, das ein Höchstmaß an Subjektivität in der Dichtung erstrebte und das die der Romantik entsprungenen poetischen Richtungen bestimmte, um dann im Surrealismus seinen Gipfelpunkt zu finden. Michaux’ poetische Schöpfungen scheinen demgegenüber die Sphäre des Surrealen immer noch zu streifen, wenn der Dichter an der Schwelle des Realen unermeßliche phantastische Welten heraufbeschwört, zu deren Deutung er dennoch unaufhörlich die Kräfte des Bewußtseins aktiviert, was insbesondere jene Kritiker völlig außer acht lassen, die Michaux als Neosurrealisten abstempeln,. Zwischen der dem Surrealismus zweifellos noch nahegerückten Position Michaux’ und dem Pongeschen Antipoden stehend, versetzt Char die lyrischen Elemente in ein Feld dialektischer Spannung, deren antithetische Bilder dem Motiv einer vorwärtsdrängenden Zeitlichkeit fortwährenden Antrieb geben. Chars Dichtung, die innerhalb der Horizonte des Realen ihre poetische Transposition erfährt, bewegt sich zwischen den Polen von Surrealität und Realität, ohne jene extremen Positionen einzunehmen, die diesseits des Surrealen Michaux und Ponge in einer gewissen Polarität zueinander bezogen haben, und sie ist, wie die Dichtung der jüngeren Lyriker, der Zukunft als der einzigen Macht geöffnet. Hierin liegt das Char mit Lyrikern wie Yves Bonnefoy, André du Bouchet, Jacques Dupin und Jean Tortel verbindende Moment. Das Ereignis der Charschen Dichtung ist wie das jener neueren nicht mehr von einem augenblicklichen Gefühl festgehalten oder von anderen Phasen des Entstehens getrennt, sondern jeder Augenblick der Gegenwart erscheint auf ein zukünftiges Werden gerichtet. Wegen jener extremen Positionen, die, wie kein anderer Nachfahre der Surrealisten, Michaux und Ponge als Antipoden zwischen Surrealem und Realem einnehmen, ohne indessen in ein eigenständiges Transreales hinzugleiten – der eine stets in unmittelbarer Nachbarschaft surrealer Welten verweilend, der andere unaufhörlich im Zentrum realer Dinglichkeit verhaftet –, wird die Analyse ihrer Werke ein Anliegen des Hauptteils, in dem Char eine Vorrangstellung eingeräumt ist, weil er zwischen extremen Polen seine Bahn einschlug, unter den Formen des Realen nur wenige erwählend, um sie fortwährend auf die Ebene des Symbols zu transponieren oder in Metaphernkaskaden zu einer kosmischen Gesamtschau auszuweiten. Während das erste Kapitel des Hauptteils die Deutung seiner Lyrik umfaßt, ist im Schlußteil Chars Einfluß des öfteren erwähnt, und es wird gezeigt, wie sehr der Dichter sein Erbe in vielerlei Hinsicht den Nachfolgenden vermittelt.
Mit der Lossage vom Surrealen und der Rückkehr zur Kontinuität poetischer Bilder tritt noch ein weiteres Wesensmoment des zeitgenössischen Dichtens in Erscheinung: Es besteht fortan ein Mißtrauen gegenüber den Augenblicken unmittelbaren und totalen Erlebens von Sprache und Welt, wie sie der Surrealismus zu erfahren glaubte. Im zweiten Einleitungskapitel ist dieses Moment im Problem der Mitteilbarkeit schon angedeutet, während es im ersten Kapitel des Schlußteils eine nähere Analyse erfährt, wenn Leere oder Fremdheit des Wortes und Ferne der Welt als jene die Ausgangssituation jüngeren zeitgenössischen Dichtens bestimmenden Aspekte bezeichnet werden. Aus dieser Ausgangssituation der zeitgenössischen Lyrik entwickelt sich eine Dialektik, von der die poetische Botschaft getragen wird, die Dualität von Leben und Tod, Sprache und Schweigen einbeziehend. Dichtung der Antagonismen: dies ist ein Aspekt, in dem die jüngeren Lyriker ein Erbe Chars bewahren.
Im ersten Kapitel des Schlußteils werden, um die Wesenszüge der jüngeren zeitgenössischen Lyrik Frankreichs exemplarisch aufzuweisen, insbesondere drei Dichterkosmogonien in den Mittelpunkt der Analyse gerückt, nämlich jene Tortels, Bonnefoys und du Bouchets, denn Tortel hat das dem Dichter vorausgehende Schweigen am eindringlichsten zum Thema seiner Lyrik werden lassen, während Bonnefoy, du Bauchet und Dupin, mit dessen Poesie sich das letzte Kapitel des Schlußteils befaßt, in einer gewissen Nachfolge Chars einem heraklitischen Weltprinzip huldigen. Im letzten Kapitel wird eine vielen Dichtern gemeinsame Landschaft als Konstante lyrischen Offenbarens gedeutet und an einem Extremfall, den die Dupinsche Landschaft in ihrer elementaren Blöße und Wildheit darstellt, exemplifiziert. Es versteht sich, daß hier wie auch in den anderen Kapiteln neben den im Zusammenhang zu erörternden Zügen des gemeinsamen Zeitgenössischen das spezifisch Individuelle des jeweiligen poetischen Universums in den Vordergrund tritt. 

B Die Kritik

Die zeitgenössische französische Lyrik wird in größerem Rahmen von Gaëtan Picon sowohl in „Panorama de la nouvelle littérature française“54 202–250 als auch in „L’Usage de la lecture“ II55 umrissen, wo als ein besonderes Merkmal der jüngeren Generation französischer Lyriker die Abweisung des surrealistischen Erbes und ihre Rückkehr zu Formen der Kontinuität aufgewiesen wird.
Philippe Jaccottet, selbst Lyriker der jüngeren Generation, bietet in L’Entretien des Muses – chroniques de poésie56 eine Sammlung seiner kritischen Studien dar, die zwischen 1955 und 1966 in verschiedenen Zeitschriften, meistenteils in La Nouvelle Revue Française und in der Gazette de Lausanne, erschienen sind und sich mit zwischen 1910 und 1966 geschriebener Lyrik Frankreichs und der französischen Schweiz beschäftigen. Beginnend mit Claudel, Supervielle, Saint-John Perse, Jouve, Reverdy, Eluard, Breton u.a., wenden sich die Studien im zweiten Teil auch den Vertretern der jüngeren Poesie wie Jean Tortel, Yves Bonnefoy, André du Bouchet, Jacques Dupin und Pierre Oster zu. Diese Aufsätze, die weniger als kritische Studien im engeren Sinne denn als „Einladungen“ zur Lektüre einer Poesie gelten wollen, heben einen gemeinsamen Zug der zeitgenössischen Dichtung in besonderem Maße hervor; es handelt sich um den Drang jener Lyriker, die das Reale verbergenden Hüllen des Begrifflichen zu lüften, um – wäre es auch nur für einen Augenblick – das Wirkliche zu schauen und somit eine Chance zum Leben zu gewinnen. In überzeugender Weise soll demnach das Dokument der zeitgenössischen Poesie offenbaren, daß sie weder einem Verschönern des Realen noch einer Evasion aus dieser Welt gleichkommt. Jaccottet hebt hervor, wie sehr die heutige Poesie mehr als jede andere allen Formen des Realen – und einzig den sichtbaren Formen – zugewandt ist, eines Realen, das sie sowohl den Schemen des isolierten Intellekts als auch den Verwirrungen des an sich selbst verlorenen Gefühls gegenüberstellt. Als dominierende Konstante dieser Lyrik – vor allem bei Char, Guillevic, Ponge, Grosjean, Bonnefoy, Dupin, du Bouchet, Oster, Deguy – gilt Jaccottet die elementare Landschaft in ihrer Wildheit und Ursprünglichkeit. Dies erklärt – auch im Sinne Jaccottets –, weshalb ein Teil zeitgenössischer Poesie in der jeweiligen heimatlichen Landschaft des betreffenden Dichters seine Transposition erfährt, was einer Rückkehr zum Ursprung gleichkommt, deren Notwendigkeit schon Hölderlin als eine privilegierte angesehen hat.
Jean-Pierre Richard hat das Verdienst, in seinen Onze Etudes sur la poésie moderne57 die innere Architektonik einzelner Dichterkosmogonien erhellt und bestimmte Wesensstrukturen der zeitgenössischen Lyrik aufgewiesen zu haben. Die Auswahl der behandelten Dichter ist von dem für Richards Methode charakteristischen existentiellen Grundansatz und Gesichtspunkt aus zu verstehen: Die Autoren werden auf der Ebene einer ursprünglichen Berührung mit den Dingen erfaßt, wo sich bald ein Hindernis kundtut oder ein Zerbrechen als notwendig erweist. Antinomien des Konkreten werden aufgeführt und in ihrer Steigerung zum Antagonismus von Sein und Nichts erkannt. Ob paradox, dialektisch oder einfach ausgleichend, die zeitgenössische Lyrik versucht – und hierin erfaßt Richard einen Wesenszug gegenwärtiger Dichtung –, den Sinn in einer ungestümen, zuweilen tragischen Aufnahme des Nicht-Sinns zu finden, weshalb ihr Angelpunkt in einem Akt des Umkehrens liegt, den Richard als „rien fécond“ (Saint-John Perse), „éclair qui dure“ (Char), „ombre lumineuse“ (Eluard), „feu créateur“ (Bonnefoy), „chaleur vacante“ (du Bouchet ), „limite illimitée“ (Jaccottet) oder „désastre surgi“ (Dupin) wahrnimmt. Es ist Richards Tendenz, die Rekonstruktion eines Systems oder die Nachzeichnung einer existentiellen Suche vorzunehmen, nachdem er verschiedene Bilder, Bewegungen, Linien, Effekte als Konstanten eines lyrischen Kosmos erkannt hat. Das ständige Ziel seiner Kritik – hier wie auch in seinen anderen Schriften – ist es, die wesentlichen Strukturen und die ursprünglichen Themen der Autoren aufzuweisen, um das innere Baugefüge ihrer Werke als Ausdruck der Existenz zu deuten. Die sogenannte thematisch-existentielle Kritik Richards findet in seinen „Onze Etudes“ die überzeugendste Anwendung. In den Werken jener behandelten Lyriker Reverdy, Saint-John Perse, Char, Eluard, Schehadé, Ponge, Guillevic, Bonnefoy, du Bouchet, Jaccottet und Dupin – werden thematische Wesenselemente als epochale Grundstrukturen wahrgenommen, die im Einzelfall zwar individuell variiert erscheinen, angesichts der zwischen den Strukturen verschiedener Dichterkosmogonien bestehenden Gemeinsamkeit jedoch überindividuellen Charakter gewinnen.
Auch Georges Poulet versucht, indem er sich phänomenologischer Analysen des Raumes und der Zeit bedient, die ursprüngliche Erfahrung eines Dichters aufzuspüren, was er hinsichtlich Char in einem Kapitel seiner Etudes sur le temps humain III („Le Point de départ“)58 unternimmt. Das Thematische wird hierbei in seiner metaphysischen Relevanz gefaßt. Poulets Deutungen konzentrieren sich auf Höhepunkte der Charschen Lyrik, wo sich in der gedrängten Dichte augenblicklicher Zeitlichkeit und punktueller Räumlichkeit die Kraft zum Ausbruch zusammenballt und wo sodann, als Folge der Explosion, die auseinanderstiebenden Fragmente die Weite des Raumes und die Region des Zukünftigen ahnen lassen.
In seinem Buch Moderne Lyrik in Frankreich – Darstellung und Interpretation59 setzt Wolfgang Raible sich zum Ziel, die großen Tendenzen und Strömungen in der französischen Lyrik des 20. Jahrhunderts darzulegen, wobei einzelne Dichter besonders hervorgehoben werden. Der Bogen der Betrachtung ist sehr weit gespannt, denn die gesamte erste Jahrhunderthälfte wird ins Blickfeld gerückt. Ein eingehendes Verweilen beim Detail mußte daher notwendigerweise außer acht gelassen werden, obschon zumeist, in Einzelfällen, ein weiter Raum Exkursen eingeräumt ist und der Verfasser manche – zuweilen gewagte – Parallelen zu anderen Textstellen, Dichtern oder Epochen zu ziehen versucht. Die ständig praktizierte Tendenz, außertextliche Informationen, etwaige Parallelerscheinungen u.ä. bei der Deutung einer lyrischen Textstelle zu verwenden, führt im Extremfall zur Fehldeutung, wie dies bei der Betrachtung des Charschen Gedichtes „Le carreau“ zutage tritt.60 Wenn auch das eine oder andere Detail in Raibles Darstellung nicht ganz der Konzeption der betreffenden Lyriker gerecht wird, so ist dennoch hervorzuheben, daß anregende Gedanken zu Themen, Leitmotiven und Tendenzen einer Epoche entwickelt sowie rasche Querverbindungen zu verwandten Dichtungen hergestellt werden; dazu wird ein reichhaltiges Informationsmaterial dargeboten.
Seit länger als zwei Jahrzehnten werden an der Universität Zürich Monographien als Dissertationen über zeitgenössische französische Lyriker angefertigt. Schon 1949 erschien dort eine Arbeit über Henri Michaux, Du rôle et de la nécessité du monde extérieur dans l’œuvre écrite d’Henri Michaux, die im Buchhandel unter dem Titel Henri Michaux, poète de notre société61 bekannt wurde. Der Verfasser, Philippe de Coulon, untersucht darin an Hand einer Reihe wesentlicher Textstellen Grundthemen und sprachliche Aspekte Michauxscher Dichtung und eröffnet eine Orientierungsbasis für ein damals noch fast unbekanntes Terrain einer Dichtung, wenn auch schon André Gide im Jahre 1941 mit seinem Aufsatz „Découvrons Henri Michaux“62 erste Erkundungsversuche unternommen und René Bertelé 1946 Henri Michaux als fünften Lyriker in der Reihe Poètes d’aujourd’hui bereits vorgestellt hatte. An der Universität Zürich wurden in den folgenden Jahren weitere Monographien angefertigt, nämlich 1957 René Char ou la poésie accrue63 von Greta Rau, 1962 Einige Aspekte der Dichtung Francis Ponges64 von Grazia Jaeger, 1963 La pensée d’Henri Michaux – Esquisse d’un itinéraire spirituel65 von Laurent Badoux, 1970 La Quête poétique d’Yves Bonnefoy66 von Béatrice Arndt und 1971 L’homme et la pierre dans la poésie moderne von Otto Kuster. In ihrer kleinen Studie über René Char versucht sich Greta Rau in Deutungen von Gedichten und einer Vielzahl von Gedichtstellen, wobei sie einige Wesensmomente sowohl in der Bildkohärenz als auch in der Zeitlichkeit dieser Dichtung hervorhebt, leider aber von einer Weiterentwicklung vieler Deutungsansätze in einem größeren Zusammenhang absieht. Grazia Jaeger gelangt in der zweiten Hälfte ihrer Abhandlung, nach Exkursen über das Mensch-Umwelt- und Mensch-Ding-Verhältnis in der Literatur, zur Analyse einiger Aspekte Pongescher Dichtung, was hinsichtlich Ding und Wort in sehr eingehender Weise geschieht. Laurent Badoux setzt sich das Ziel, in seinem Traktat die Bahn des Michauxschen Denkens in der ganzen Komplexität seiner Bewegungen und deren Wechselwirkungen darzustellen, während er die Grundtendenzen dieses Denkens, das als ein in seiner Urform schon in Michaux’ frühesten Schriften vorgegebenes erkannt wird, an vielen Textstellen zu deuten versucht. Beatrice Arndt unternimmt in ihrer Studie eine scharfsinnige Deutung, in der sie dem Denken Bonnefoys auf dessen Suche nach dem Sein sowie den Zeichen, die in der Dichtung davon künden, nachspürt. Otto Kuster versucht in seiner Abhandlung aufzuweisen, wie sehr einige französische Dichter unseres Jahrhunderts durch ihre in den materiellen Bereich des Steins eingefangene Phantasie sich jener Probleme bewußt werden, die sie auf der Bahn ihrer Existenz bedrängen. Es verwundert ein wenig, weshalb neben Yves Bonnefoy nicht Jacques Dupin erwähnt wird, dessen poetische Landschaft das Gestein geradezu als Dominante besitzt.
Als eine der ersten bedeutenden Arbeiten über René Char erschien 1947 Georges Mounins Schrift Avez-vous lu Char?, die196967 in seinem Buch La Communication poétique précédé de Avez-vous lu Char?‘ vollständig wieder aufgenommen wurde. Schon in seiner frühen Schrift erkennt Mounin die wesentlichen Unterschiede, die zwischen Chars Poesie und dem Surrealismus bestehen. Er betont Chars Bejahung des Realen, für den Traum und Phantasie nicht Endzweck bedeuten, sondern Mittel der Erkenntnis und des Verwirklichens einer zukünftigen Welt darstellen. Mounin zeichnet Char als einen antisolipsistischen Dichter, der abgeneigt ist gegenüber fiktiven Evasionen in die reine Subjektivität. Angesichts der Ideen des Charschen Universums weist Mounin darauf hin, daß diese nicht aus einer logischen Folgerichtigkeit, sondern notwendigerweise aus einem Geflecht von Empfindungen und bestimmenden Eindrücken, nämlich jener in Berührung mit der mediterranen Landschaft hervorgerufenen, entstanden sind.
Unter der Leitung von Dominique Fourcade wurde der René Char gewidmete 15. Band der Cahiers de l’Herne68 herausgegeben, dessen kritischer Wert sehr viel geringer ist als der Henri Michaux behandelnde 8. Band dieser Reihe und der größtenteils die wegen ihrer bisherigen Veröffentlichungsart nur schwer zugänglichen Beiträge enthält.69
Die von Elisabeth Walther verfaßte Monographie Francis Ponge. Eine ästhetische Analyse70 verfolgt nicht literaturwissenschaftliche, sondern philosophische Absichten.
Nach einer eingehenden Erörterung philosophischer und methodologischer Voraussetzungen erfolgen biographische Informationen sowie eine Beschreibung wichtiger Texte Ponges, wobei sowohl inhaltliche als auch formale Momente analysiert werden. In der zweiten Hälfte des Buches, die mit semiotischen, semantischen und ästhetischen Untersuchungen beginnt, wird dem eigentlichen Anliegen der Arbeit entsprochen. Die Pongeschen Texte werden mit Hilfe der modernen Zeichentheorie beschrieben, die ästhetischen Strukturen durch Mittel der Informationsästhetik dargestellt.
Jean Thibaudeau untersucht in Francis Ponge71 nach Vermittlung vielseitiger biographischer Informationen und Analysen das dichterische Werk, zu dessen Deutung er bei jedem Schritt Ponges Text selbst Kommentator sein läßt, wobei er Sartres Sicht, nach der in dem „parti pris des choses“ die Grundlagen einer „Phénoménologie de la nature“ erkannt werden, durch Ponges eigene Definition korrigiert wissen möchte, wenn dieser einfach von „exercices de rééducation verbale“, „tractions de la langue“ oder „respiration artificielle“ spricht.
Gerda Zeltner-Neukomms Untersuchung Das Ich und die Dinge – Versuche über Ponge, Cayrol, Robbe-Grillet, Le Clézio72 geht bei der Analyse der Autoren von dem gemeinsamen Bewußtsein aus, daß die Dinge vorhanden sind, ohne etwas über sich hinaus zu bedeuten. Als Reaktion auf diese Erfahrung wird auch Ponges Werk gedeutet, dessen Wesenszüge Zeltner-Neukomm in prägnanter Form herausgestellt hat. Ponge wird zunächst einmal in seiner Lossage vom Surrealismus gesehen, die sich gerade deshalb vollziehe, weil ein Ausbeuten des Traumes nicht aus Subjektivität und Symbolik herausführe. Der chaotischen Tiefe des menschlichen Unterbewußtseins stehe die Tiefe der Sprache gegenüber, aus der eine verwandelnde Kraft geschöpft werden müsse, um die von täuschenden Sinnzusammenhängen beladene traditionelle Literatursprache oder die von Etiketten und Schemen geprägte und somit dem Zweckdenken entsprechende Alltagssprache zu entlarven. Die Verfasserin betont sodann den bilateralen Charakter des Pongeschen Schöpfungsaktes, wo sich Wort und Ding ergänzen, denn das Wort werde durch den Gegenstand von seiner Abstraktheit befreit, während es ihn gleichzeitig aus seiner Abgeschlossenheit im totalen Fremden erlöse.
1959 erschien erstmals Robert Bréchons Buch Michaux73, das 1969 in teilweise veränderter Form und mit Ergänzungen neu aufgelegt wurde.74 Es ist nicht Bréchons Plan, den Gang des Michauxschen Denkens zu skizzieren, sondern es ist Ziel seiner Darstellung, Analysen auf verschiedenen Ebenen des dichterischen Werkes durchzuführen. Anschließend wendet er sich den Themen Michauxscher Dichtung zu, die einerseits von einer Störung der Beziehung des Ich zu den Dingen, Geschöpfen oder dem eigenen Selbst sowie –, im tieferen Sinne, von der in dem Gefühl eines Mangels an Sein verwurzelten Angst zeugen, andererseits Michaux’ Anstrengung, der Angst zu entfliehen und das Sein zu erreichen, verraten. In einem weiteren Teil seiner Arbeit untersucht Bréchon die Mittel, durch die Michaux’ Erleben auf die Ebene des Kunstwerks transponiert wird.
In der die neue und umgearbeitete Ausgabe Henri Michaux aus der Reihe Poètes d’aujourd’hui75 einleitenden Studie behandelt René Bertelé auf wenigen Seiten wesentliche Themen des Michauxschen Werkes, um stets den ursprünglichen Gegensatz zwischen der Welt „du dedans“ und der Welt „du dehors“ aufzuzeigen und insbesondere zu betonen, daß die von Michaux als einzig bestehend und wahr erkannte Realität jene durch den Geist geformte bzw. als dessen Emanation oder Projektion geltende sei und deren Wahrheit sich „dans une tapisserie de mur“ („Ecuador“), d.h. in den innersten Träumen, finde.
Raymond Bellour zeigt in seinem Werk Henri Michaux ou une mesure de l’être,76 wie sehr Michaux’ Dichtung – jenes vielgestaltige, sich über die Dimensionen eines ganzen Lebens erstreckende „journal intime“ – zu einer Einheit sowohl des in seiner Totalität bedrohten Seins als auch der Sprache, durch die sich dieses kundtut, strebt und in welchem Maße sich bei Michaux die literarischen Kategorien, insbesondere die der Poesie und der Prosa, verwischen.
Unter Bellours Leitung wurde außerdem jener 8. Band der Cahiers de l’Herne77 herausgegeben, der Henri Michaux gewidmet ist. Der zweite und bedeutendste Teil des Bandes umfaßt Studien und Textkommentare französischer Kritiker, der dritte läßt ausländische Kritiker, vor allem aus Deutschland und USA, zu Worte kommen, während der erste größtenteils Huldigungen von Freundesseite enthält. Es war die Absicht des Herausgebers, die Auswahl der Beiträge dahingehend vorzunehmen, daß der Vielzahl der durch Michaux’ Werk aufgeworfenen Fragen möglichst Rechnung getragen wird. Wenn dies nicht lückenlos geschehen konnte, liegt es daran, daß in dem Auswahlprinzip noch die Berücksichtigung anderer Gesichtspunkte – wie etwa das Vermeiden thematischer Überschneidungen einzelner Aufsätze miteinander – notwendigerweise verankert ist. Es ist vor allem Michel Beaujours Beitrag78 hervorzuheben, der durch die Interpretation der Gedichte „Glu et gli“ und „Le grand combat“ aufweist, daß solche Gedichte das Wesentliche des Michauxschen Werkes im Kern schon enthalten.
Es sei noch erwähnt, daß N. Murat mit seiner Studie Henri Michaux,79 die sich an ein breiteres Publikum richtet, eine sehr klare und umfassende Einführung in die Themen Michauxscher Dichtung vermittelt. 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00