Das andere der Philosophie ist die Poesie

Seit vielen Jahren bemüht sich der Sinologe François Jullien um eine ebenso detaillierte wie umfassende Darbietung der fernöstlichen Geisteswelt in ständigem kritischem Vergleich mit der europäischen philosophischen Tradition. Ich verdanke seinen Untersuchungen, auch seinen streitbaren Thesen viele produktive Einsichten. Eine davon − die für mich ergiebigste, vom Autor freilich nicht intendierte − besteht darin, dass das chinesische Konzept der Philosophie als Weisheit wie auch als Weisheitslehre methodisch weitgehend mit der neuzeitlichen euroamerikanischen Poetik übereinstimmt.
Wenn also Jullien westliches und östliches Denken antagonistisch einander gegenüberstellt beziehungsweise voneinander absetzt, besteht zumindest zwischen der in China praktizierten Weisheit und der Sprachkunst westlicher Prägung ein weitgehender Konsens. Das „weise“ chinesische Denken, imaginiert und vollzogen als ein „Weg“ ohne vorgegebenes oder vorgefasstes „Ziel“, ist ein poetisches Denken insofern, als es „ohne Idee“, mithin ohne Bedeutungsintention auskommt und statt dessen herausstellt, was ist und was, allein schon, weil es ist, auch Sinn hat.
Sinn gegen Bedeutung!
Präsent sein, bestehen lassen, statt zu verstehen und im Verstehensakt lediglich zu repräsentieren, was der Fall ist − darauf beruht, nach Jullien, die grundsätzliche Unvoreingenommenheit konfuzianisch-daoistischen Denkens. Solches Denken halte den Geist jederzeit disponibel und allseits offen, er vermöge sich jeglichem „so“ und „da“ zu öffnen, „denn er greift es auf, wie es kommt, in seinem ,von selbst so‘, je nachdem − wie einen ausgesandten Ton“.
Das nimmt sich, in westlicher Optik, tatsächlich wie ein philosophisches Minimalprogramm aus, ja, weniger als das − wie eine selbstgenügsame Verzichterklärung auf jegliche Art von Reflexion. Zugleich ist es, bei aller begrifflichen Unbedarftheit, ein klares Bekenntnis zur Realpräsenz des Hier und Jetzt, des Es-ist, Es-hat, Es-gibt; dies im Gegenzug zum Besagen- und Bedeuten- und Sinngebenwollen abendländischer Philosophie, von der Jullien etwas pauschal behauptet, sie fixiere und kodifiziere das Denken, um es unter „ewig parteiische“ Kontrolle zu nehmen und den menschlichen Geist seiner „Disponibilität und Offenheit zu berauben“. Dem wiederum ist beizufügen, dass die asketische, auf sinnliche beziehungsweise ästhetische Erkenntnis ausgerichtete fernöstliche Position auch in der europäischen Geisteswelt markant ausgeprägt ist, vorab in asketischen Weisen der Welt- oder Selbsterfassung, die einst von den Kynikern, später von der Mystik vorgelebt worden sind.
Im Unterschied zur westlichen Philosophie habe die östliche Weisheit keine Geschichte, keine Geltungsgrenzen, keine Verfallszeit, stellt François Jullien fest; gerade ihre Geschichtslosigkeit sei Garant für ihre zeitlose Gültigkeit: „Da sie nichts vorbringt, kann sie nicht widerlegt werden, sie verfügt über keinen Stoff, über den debattiert werden könnte, und hat von daher weder eine Widerlegung zu erwarten noch eine Zukunft zu erhoffen. So ist die Weisheit der ahistorische Teil des Denkens.“ Was nicht zu widerlegen ist, behält seine Gültigkeit, bleibt unter wechselnden zeitgeschichtlichen Voraussetzungen stets aktuell, kann also auch immer wieder andere Geltung haben und andere Sinndimensionen eröffnen.
Demgegenüber lassen sich hiesige Philosophieschulen und Schulphilosophien im Verlauf der Zeit durchaus modifizieren, wenn nicht gar fundamental falsifizieren. Dadurch sucht sich westliches Denken unentwegt „aktuell“ zu halten, sein „Fortschritt“ ergibt sich aus der stetigen Korrektur und Anpassung seiner selbst. Für die Weisheit des Ostens bietet solche Aktualität kein Interesse, gerade weil sie zeit- und geschichtslos ist, bleibt sie über Jahrhunderte hin unverändert und behält ihre eigene „Aktualität“, die eigentlich eine sich selbst erhaltende Intensität ist.
Überträgt man diese Charakterisierung auf die europäische Kunstliteratur − auf Dichtung, Prosa, Drama gleichermassen −, so ergibt sich eine bemerkenswerte Übereinstimmung insofern, als auch (beispielsweise:) das Werk eines Dante oder Shakespeare, eines Dostojewskij, Flaubert oder Kafka durchweg „zeitlos“, mithin jederzeit „aktuell“ und niemals falsifizierbar ist. Der grösste Unterschied liegt bei diesem Vergleich darin, dass literarische Kunstwerke, anders als östliche Weisheitslehren, nicht über beliebige Zeiträume hin den immer gleichen Sinn vermitteln, dass sie vielmehr, je nach Lektüreeinstellung, immer wieder neuen Sinn freizusetzen vermögen.
Wenn die philosophischen Systeme und Schulen der Vergangenheit heute grösstenteils „verjährt“ und „überholt“ und bloss noch von historischem Interesse sind, bleiben Rimbauds Illuminationen, Ovids oder Mandelstams Tristia vom aktuellen Zeitgeist unberührt − sie vermögen sich, wann immer sie gelesen werden, als Gegenwartspoesie zu behaupten; sie sind ebenso unwiderlegbar wie die weisen Schriften und Reden eines Menzius, eines Konfuzius; ihre Zeitlosigkeit bewirkt, dass sie zu jeder Zeit zeitgemäss, zu keiner Zeit unzeitgemäss sind. Von kaum einem philosophischen Klassiker liesse sich dies behaupten, wohl aber von schlichten Gedichten wie Wanderers Nachtlied (Ein gleiches) von Johann Wolfgang Goethe oder Der Mond ist aufgegangen von Matthias Claudius.
Wie einen direkten Kommentar dazu lese ich Rainer Maria Rilkes Brief vom 19. Oktober 1907 an Clara Westhoff, in dem es, sinngemäss übereinstimmend mit dem chinesischen „so (ist es)“, wörtlich heisst: „Ach, wir rechnen die Jahre und machen Abschnitte da und dort und hören auf und fangen an und zögern zwischen beidem. Aber wie sehr ist, was uns begegnet, aus einem Stück, in welcher Verwandtschaft steht eines zum andern, hat sich geboren und wächst heran und wird erzogen zu sich selbst, und wir haben im Grunde nur da zu sein, aber schlicht, aber inständig, wie die Erde da ist, den Jahreszeiten zustimmend, hell und dunkel und ganz im Raum, nicht verlangend in anderem auszuruhen als in dem Netz von Einflüssen und Kräften, in dem die Sterne sich sicher fühlen.“ Die Übereinstimmung geht hier − bis zu Rilkes Kursivierung von da zu sein! − so weit, dass ich mir die Briefstelle durchaus als adäquate Übertragung aus dem Chinesischen vorstellen könnte.
Wie die chinesischen Weisen, so laden auch die europäischen Dichter dazu ein, die Evidenz zu erhellen, sie zu realisieren, sich ihrer bewusst zu werden − eine Evidenz, die nach Julliens Beobachtung „stets auf einer und derselben Ebene auf uns zukommt“. Wie das Denken der Weisheit ist auch die zeit- und ziellose Dichtung „dazu verurteilt, kaum von der Stelle zu kommen“, ja, an der Stelle zu verharren − sie zu rezipieren heisst nicht, sie durch kritische Befragung und Bereinigung fortzuentwickeln, heisst vielmehr, immer wieder auf sie zurückzukommen und dabei die offene Vielfalt ihrer Sinnangebote zu ergründen.
François Jullien charakterisiert die Sprache östlicher Weisheit als „fluktuierende“ beziehungsweise „evolutive“ Rede, die Reales zu „erfassen“ und nicht nur zu bedeuten, zu benennen versucht; eine Redeweise, „die sich unablässig erneuert und dadurch weder eine Richtung noch eine Priorität auferlegt“, die deshalb in der Lage ist, „jeglichem ,So‘ in all seiner Originalität zu entsprechen“. Daraus folge jedoch keineswegs, unterstreicht Jullien, dass die Weisheitsrede „zu einer Einebnung oder Verarmung der Welt führt, sondern das Erkennen des gemeinsamen Grunds der Dinge erlaubt eine viel grössere Aufmerksamkeit für jedes einzelne ,möglich‘ wie für jedes einzelne ,so‘.“

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Mein Versuch, westliche Dichterrede mit östlicher Weisheitsrede zusammenzulegen, ist sicherlich diskutabel, und professionellen Anspruch hat er nicht; viel eher beruht er, meinerseits, auf assoziativen Annäherungen und Verknüpfungen. Östliche Weisheitsrede mag, wie Jullien es nahelegt, weitgehend homogene oder integrale Rede sein, die westliche Dichterrede ist es nicht. Ein gleiches kann nicht unter dem selben Lyrikbegriff subsumiert werden wie historisierende, politische oder sozial engagierte Gedichte. Solche Gedichte lassen sich mit den Weisheitsreden der alten Chinesen naturgemäss nicht zusammenführen, sind sie doch, nicht anders als philosophische Texte, durchweg zeitbedingt und deshalb auch zeitgebunden:
Die solcherart engagierte Dichtung Schillers, Herweghs, Liliencrons, auch Bertolt Brechts kann heute nicht mehr als zeitgemäss gelten, hat kaum noch etwas zu sagen, gibt kaum noch etwas zu denken, während ein inhaltlich triviales, dabei höchst sinnreiches Gedicht wie Der Mond ist aufgegangen, / die goldnen Sternlein prangen … weiterhin seine ungebrochene, überzeitliche Aktualität behaupten kann. Dass übrigens auch Brecht diese schlichte Intonation beherrschte und sie unaufwendig zur Geltung brachte; dass er also auch ideologiefrei (d.h. ohne eine bevorzugte Idee) dichten konnte, ist durch seine Liebes- und Naturlyrik überzeugend belegt − hier gibt er sich (ohne vorab schon festgelegte Position, ohne autoritatives Ich, ohne eine privilegierte Idee) als ein „weiser“ Dichter, als ein dichtender „Weiser“ in chinesischem Verständnis zu erkennen:

Was an dir Berg war
Haben sie geschleift
Und dein Tal
Schüttete man zu
Über dich führt
Ein bequemer Weg.

Mehr nicht; und doch ist alles gesagt, was zum „es gibt“, zum „es hat“, zum „so ist’s“ des Tods gesagt werden kann. Darüber hinaus halten die kunstlosen Verse beiläufig fest, dass es eben dazu eigentlich nichts zu sagen gibt; genauer noch: Wahres, weises Sagen beginnt dort, wo es nichts mehr zu besagen, folglich auch nichts mehr zu bedeuten gibt. Und nochmals François Jullien: „Weise ist der, für den Welt und Leben selbstverständlich sind. Der sich damit begnügt, zu sprechen (und der daher auch gar nichts mehr zu sagen braucht): Die Dinge sind so. Und nicht so sei es, wie die Religion in ihrem Wunsch nach Einverständnis sagt; auch nicht warum ist das so?, wie die Philosophie in jähem Erstaunen fragt. Weder Akzeptanz noch Infragestellung − sondern so ist es. Weise ist, wer zu realisieren vermag, dass es so ist.“ Was für den weisen Denker und den weisen Dichter gleichermassen gilt.

[Ein gutes Dutzend einschlägiger Einzeltitel hat François Jullien bislang vorgelegt, die meisten davon sind auch in deutscher Sprache greifbar; als grundlegend und beispielgebend kann der Band Der Weise hängt an keiner Idee (München 2001) gelten; vgl. neuerdings F. J., Es gibt keine kulturelle Identität, Frankfurt a.M. 2018; F. J., Vom Sein zum Leben: Euro-chinesisches Lexikon des Denkens, Berlin 2018.]

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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