Infantilia (XVIII)

Zu meinen bevorzugten Spielplätzen gehörte langezeit das sogenannte Dreiländereck, das auf einer schmalen Mole mitten im Basler Rheinhafen durch einen mickrigen Flaggenmast gekennzeichnet war, an dem die ineinander verknäulten Fahnen Deutschlands, Frankreichs und der Schweiz meist schlaff herabhingen.
Es dauerte etwas, bis mir bewusst wurde, dass die an dieser Stelle verknoteten Staatsgrenzen auch Sprachgrenzen waren. Dass es sich zum Beispiel bei den deutschen Apfelsinen schlicht um Orangen handelte, und nicht um eine spezielle Art von Äpfeln, oder dass „Fahrrad“ nur einfach die deutsche Bezeichnung für das bei uns übliche Velo war. Anderseits waren die Schlepp- und Lastschiffe im Rheinhafen für mich der Beweis, dass die Grenzen fliessend waren, dass man über sie hinweg gleiten konnte, ganz gleich, welche Landesflaggen am Heck angebracht und welche fremdartigen Namen in grossen Lettern am Bug aufgemalt waren. Für eine „Typhoid Mary“, eine „Kunigunde“, „La Belle Jehanne“, die „Loreley“, „Fortinbras“, „Rheingold“, eine „Alpenrose“ oder „Le Gaulois“ konnte es … durfte es, dachte ich, keine Grenzen geben.

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Aufregender noch war die Entdeckung, dass gleichlautende Wörter über die Grenze hin ihre Bedeutung abrupt ändern konnten; dass also die französische Kasse oder Kiste („caisse“) zwar exakt dem schweizerischen „Käs“ entsprach, obwohl doch die beiden Begriffe gleich ausgesprochen wurden − und umgekehrt: In französischem Wortlaut nahm unsre Kasse, dem Klang nach identisch mit „casser“ oder „cassé“, die völlig andre Bedeutung von „zerbrechen“ oder „zerbrochen“ an … – Wie konnte es sein, fragte ich mich, dass ein und dasselbe Wort zwei ganz unterschiedliche Dinge meinte, je nachdem, auf welcher Seite der Grenze ich mich befand!
Diese kindlichen Beobachtungen und Fragen haben mich in der Folge während meiner gesamten Schulzeit stets von neuem beschäftigt, ja, sie haben mich, je mehr Fremdsprachen ich dazulernte, bisweilen ziemlich irre gemacht. Dass ich dafür bis heute keine Erklärung finden kann, liegt ganz einfach daran, dass es eine solche nicht gibt: Niemand hat und wird jemals erklären können, weshalb die deutschen Wörter „Meer“, „Mär“ und „mehr“, dazu die französischen Begriffe „mère“ (für Mutter) und „maire“ (für Bürgermeister) oder auch russisch „mors“ (Beerensirup) und lateinisch „mors“ (Tod) gleichlautend ausgesprochen werden, obwohl sie doch so unterschiedliche Bedeutungen haben.
Das ist’s doch, was jede Übersetzung so problematisch macht − dass man es immer (und immer gleichzeitig) mit dem Wort als solchem, als Lautgebilde zu tun hat und mit der meist schwankenden, vom Kontext bedingten Bedeutung, die das Wort mit sich trägt.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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