Pasternakiana

Neben Majakowskij und Mandelstam, neben Anna Achmatowa und Marina Zwetajewa ist Boris Pasternak sicherlich der weltweit bekannteste, zugleich aber auch der am meisten verkannte Dichter der russischen Moderne. Gemeinhin wird sein Name mit dem Roman Doktor Shiwago (1957) in Verbindung gebracht, für den er 1958 den Nobelpreis zugesprochen erhielt und der noch heute, in rund dreissig Sprachen übersetzt, millionenfach greifbar ist. Dass der altväterisch komponierte und instrumentierte Epochenroman für Pasternaks Schaffen keineswegs charakteristisch ist und schon gar nicht dessen Höhepunkt bedeutet, war damals (und ist teilweise noch heute) ausserhalb Russlands nur wenigen bekannt.
Tatsache ist, dass Pasternak zwischen 1912 und 1941 mehrere Gedichtbücher vorlegte, die zum Stärksten, auch zum Schwierigsten gehören, was die russische Wortkunst jener Jahrzehnte hervorgebracht hat. Doch damit konnte er naturgemäss weder «volkstümlich» werden noch «parteilich» wirken (wie der Sozialistische Realismus es forderte), er blieb – durchaus umstritten – ein durch und durch elitärer Autor, der sein literaturpolitisches Soll vorab durch Übersetzungen aus dem Georgischen abzugelten wusste, während er einen höchst eigenwilligen lyrischen Personalstil pflegte, der nicht auf Verständigung, vielmehr auf deren Störung oder Verhinderung angelegt war.
Der frühe Pasternak macht das Wort primär als Klangkörper wahrnehmbar und setzt es erst in zweiter Linie als Bedeutungsträger ein, wobei die eine mit der andern Funktion in ein permanentes Spannungsverhältnis tritt. Das Verständnis der Texte wird dadurch vom Autor bewusst und massiv erschwert, dies in der Absicht, die Aufmerksamkeit des Lesers auf sinnlich erfahrbare Sprachqualitäten zu lenken und ihn gleichzeitig zu eigenmächtiger Lektüre anzuhalten. Das lyrische Lavieren zwischen Sinn und Sang bleibt für Pasternak über lange Zeit charakteristisch, bis er in seinem Spätwerk – besonders in den berühmten «Rollengedichten» des fiktiven Doktor Shiwago – zu einer eher konventionellen poetischen Sprechweise findet.
Diverse deutsche Übersetzungen (von denen keine auch nur annähernd als adäquat und vollständig gelten kann) bieten Gelegenheit, sich dem Dichter anzunähern, ihm zu begegnen auf 
seinem ursprünglichen poetischen Terrain, das noch immer verschattet ist von Jurij Shiwagos überlebensgrosser Roman- und Filmgestalt. Man kann, man muss als Leser Pasternakscher Gedichte vor allem das Staunen lernen, und man sollte versuchen, möglichst naiv – unbelastet von Vorwissen und Erwartungen – an die Texte heranzugehn, statt sie nach ihrer Bedeutung abzufragen, sie nach ihrer Aussage verstehn zu wollen. Vielmehr gilt es, die Schwierigkeit, die Unverständlichkeit dieser Dichtung hinzunehmen, sie zu nutzen als eine Chance, Poesie auch ohne klares Verständnis adäquat wahrzunehmen, sie für wahr zu nehmen.
Was hat es, mag man sich vom Deutschen her fragen, für eine dichterische Bewandtnis mit unverständlichen oder auch bloss banalen Vergleichen und Versen wie diesen: «Figaros Flötenton – laut / Stürzt er nieder vom Pult in den Garten»; «an Schwellungen leiden die Nüstern der Welt, / Vernehmlich, doch kaum zu begreifen»; oder schlicht: «Gestein und Sturm. Gestein und Hut und Mantel». Was da als Aussage «kaum zu begreifen» ist, erweist sich im russischen Originaltext jeweils als ingeniöse Lautkomposition, gewonnen aus Assonanzen und anagrammatischen Entfaltungen, die auch dann ganz leicht nachzuvollziehn sind, wenn man des Russischen nicht mächtig ist: «Skala i schtorm. Skala i plastsch i schljapa.» Und weiter im Text findet sich die Wortfolge: «S ussow obrywow, myssow, skal i koss, / Melej i mil. I gul i polychanje …» Man braucht solche Dichterrede nicht zu verstehn, um ihre lautliche Instrumentierung erkennen zu können. Wer aber weiss, was die einzelnen Wörter bedeuten, hat gleichwohl noch lang nicht verstanden, worin deren Sinn besteht: «… entströmt den Schnauzbärten der Schluchten, der Landnasen, der Felsen und Landzungen, / Der Trockenstellen und der Meilen. Das Wummern und Lodern eines Strudels, ganz bespritzt aus voller Wanne / Mit Mondlicht …»
Solche und ähnliche lyrische Zumutungen bietet Pasternak durchweg unter harmlosen Titeln wie Eisgang, Schwalben, Win­
ternacht dar, und dies in regulären, meist gereimten Versen und Strophen, woraus sich ein zusätzlicher Verfremdungseffekt ergibt – strenge Form gegen inkohärente Aussage. Wer hat wohl Drosseln und deren Gesang schon mal so wahrgenommen wie der Dichter in diesen Versen: «Bald lange Silben und bald kurze, / Wie eine Dusche, heiss und kalt, / Hörst du aus ihrer Kehle purzeln, / Die wie das Zinn der Pfütze strahlt.» Dusche, Kehle, Pfütze, Zinn – die disparaten Begriffe haben mit einer Drossel kaum etwas zu schaffen, sie sind aber im Russischen auf der Lautebene eng miteinander verwandt: Dusch/Luschon/Lusch/Loskom usf. An diesem Einzelbeispiel lässt sich auch die Problematik der Übersetzung ermessen. Zu leisten ist in solchen Fällen eine doppelte – eine doppelt schwierige – Aufgabe. Für den Originaltext muss in der Zielsprache auf der Laut- wie auf der Bedeutungsebene eine Entsprechung gefunden werden. Ersteres ist praktisch ausgeschlossen, Letzteres immer nur als Annäherung möglich. Bleibt die Einsicht, dass ein starker dichterischer Text niemals definitiv zu übersetzen, niemals zur Gänze in die Zielsprache überzusetzen ist.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00