Versus

I

Der Vers als Kehre und als Gegenläufigkeit: Flur, Pflug, Furche. Rhythmus gibt dem Vers Impuls und Kontinuität; das Metrum ist sein Regulativ. Rhythmus hat seine eigne, somatisch fundierte Dynamik, seine eigne, jeweils unverwechselbar individuelle organische Hardware, während das Metrum immer etwas Gemachtes, der Natur wie der Kunst Äusserliches ist, ein nach bestimmten Vorgaben zu realisierendes Konzept (oder Rezept), das leicht durchschaubar, meist allerdings schwer zu erfüllen ist. Nur das Metrum, nie der Rhythmus ist via Metronom zu realisieren.

II

Rhythmus wird nicht angewandt, er vollzieht sich, ist eine schwebende Möglichkeitsform, die unwillkürlich zum Ereignis wird, also weder geplant noch befolgt werden kann. Insofern gehört Rhythmus der Sinnebene, und auch der sinnlichen Ebene des Gedichts an, die Metrik – der Bedeutungsebene.

III

Schon vor der Sprache, noch vor dem Wort ist das Gedicht als rhythmische Präfiguration im Kommen, kündigt sich an als ein unartikuliertes vorbegrifflicher Rumor. Für Marina Zwetajewa war Verse schreiben in solchem Verständnis ein «Gang nach Gehör», das Vermögen eben, vorgegebene Rhythmen, wie sie in der alltäglichen Aussenwelt einerseits, in der Innenwelt des Körpers anderseits als latente physikalische Energetik vorhanden sind, sprachlich zu aktualisieren. Mit ihren rhapsodischen Poemen hat sie dafür eine Reihe grosser Beispiele gegeben – mit dem Treppengedicht, dem Berggedicht, dem Luftgedicht, dem Endgedicht, mit Gedichten von höchster rhythmischer Prägnanz, in denen, stetig pulsierend, bald die Ausdrucksebene, bald die Aussageebene betont wird, so dass der Leser abwechselnd sich einzustellen hat auf die Wörter und die Worte des Texts, auf das also, was das Gedicht zu hören und zu fühlen gibt, und auf das, was es zu bedeuten hat.

IV

«Es ist mir dann, als geriete ich selber in Gärung, würfe Blasen auf, wallte und funkelte», so hat, als einer von vielen Versdichtern, Hugo von Hofmannsthal das poetische Potential des vorsprachlichen Brabbelns und Blubberns in seinem Chandos­-Brief von 1902 zu beschreiben versucht: «Und das Ganze ist eine Art fieberisches Denken, aber Denken in einem Material, das unmittelbarer, flüssiger, glühender ist als Worte. Es sind gleichfalls Wirbel, aber solche, die nicht wie die Wirbel der Sprache ins Bodenlose zu führen scheinen, sondern irgendwie in mich selber und in den tiefsten Schoss des Friedens.»

V

Im Unterschied zum Rhythmus ist das Metrum ein geistiges Konstrukt, ein Modell, das vor seiner Anwendung in völliger Klarheit gegeben ist und als Raster begriffen werden muss, innerhalb dessen der Rhythmus zum Tragen kommen kann. Damit dies geschieht und wenn es geschieht, braucht es zusätzlich zur rhythmischen Eigendynamik das Handwerk des Dichters, der im Rahmen akzeptierter formaler Prämissen unwillkürliche mit willkürlichen Schreibbewegungen koordinieren muss, damit das Gedicht – von Zufall und Notwendigkeit gleichermassen gelenkt – wie von selbst zu seiner Gestalt findet. Rhythmus und Metrum bilden deren Grundlage und damit die Voraussetzung für die Entfaltung der Klangstruktur, der Metaphorik, der Motivik und andrer Komponenten des Gedichts.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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