Gregor Laschen & Harly Sonne (Hrsg.): Mein Gedicht ist mein Körper

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Gregor Laschen & Harly Sonne (Hrsg.): Mein Gedicht ist mein Körper

Laschen & Sonne (Hrsg.)-Mein Gedicht ist mein Körper

STILLEBEN

An Thorkild Bjørnvig
November 1987

Sieh nur wie der kleine Mond des November
den Umweg seines Lichts dazu bringt – große
Magie – den Weltraum sich neigen und enden
zu lassen als Lichtfeld auf meinem Tisch

Im Feld seh ich des Lichts frühen und wilden
Naturzustand, verhext in eine Flut
später Astern, in deren Blühen die milden
verwundrungsleeren Sterne sich selber sehn

Wer weiß ob nicht diese Astern wissen
mit welch völlig verschlucktem, vergötterten Lachen
wir das lieben, was wir wissen, nicht verstehn,

daß unser Leben aufgeteilt ist in Kaskaden
aus Nichts, worin ein bißchen von allem sich badet.
Sie werden den Sternen doch Bescheid geben

Inger Christensen
Übersetzung Gregor Laschen

 

 

 

Vorsatz

Mein Gedicht sagt, was ich weiß.
Es tragt dich, was du weißt.

Ernst Meister

Deutschland ist nicht nur ein „schwieriges Vaterland“ für nicht wenige Deutsche, es ist – ein Blick in die jüngere Geschichte reicht hin – ein nur allzuoft bösartiger zerstörerischer Nachbar gewesen. Die Spuren dieser Art ,Nachbarschaft‘ sind noch heute ringsum in Europa und darüberhinaus anzutreffen, wenn man kann: mit- und nachzuempfinden.
Ein Grund für unsere negative Nachbarschaftsfähigkeit ist allzuoft in unserer Unkenntnis dessen zu sehen, was Alltag und Lebensart des Nachbarn ausmacht; die Angst vor dem Fremden, ganz Anderen (das bei näherem Hinsehen, Berühren oft gar nicht so anders ist), verführt häufig zu einer Behauptung von Etwas als ganz Eigenem, das bei näherem Hinsehen, Berühren sich kaum als etwas Eigenes dessen würdig erweist.
Ein Weg zu guter Nachbarschaft führt über die Kenntnis von Literatur und Kunst des Anderen, des Nachbarn: nirgendwo sonst ist derart Genaues, Zuverlässiges über den Zustand, die Möglichkeiten, die Begrenzungen und die Sehnsüchte einer anderen, anderssprachigen Gesellschaft zu erfahren, wer wüßte das nicht.
Also: Poesie der Nachbarn: was wissen wir von der dänischen, finnischen, ungarischen, bulgarischen, israelischen, selbst englischen oder neueren französischen, portugiesischen, spanischen Lyrik?
Wer im deutschen Sprachraum kennt beispielsweise den vielleicht bedeutendsten ,hermetischen‘ Lyriker der heutigen niederländischen Poesie, Hans Faverey? Übersetzung. Übertragung. Nachdichtung. – Immer schon habe ich die Arbeit bewundert, die auf diesem Gebiet gleichsam prinzipiell kulturpolitisch und strukturell poetologisch seit Jahrzehnten in der DDR geleistet worden ist: Nachdichtungen aus vielen Sprachen, geleistet von Dichtern, vor allem auch jüngeren, aus der DDR (die diese Sprachen oft nicht sprachen), auf der Grundlage philologisch zuverlässig gearbeiteter Interlinearversionen.
Das ist ein Arbeitsmodell, das dem Gedicht des Nachbarn nützt in deutscher Sprache, das den Nachdichter bildet: das – nicht zuletzt – dem deutschsprachigen Leser nützlich ist. Das unserer Nachbarschaftsfähigkeit behilflich sein kann: So trafen sich im Oktober 1988 die fünf hier vorgestellten dänischen Lyriker mit uns, um Übertragungen ihrer Gedichte ins Deutsche zu erarbeiten und anschließend in zwei Lesungen in Edenkoben und im Bahnhof Rolandseck diese Arbeit vorzustellen.
Poesie der Nachbarn: der nächste Band in dieser Reihe wird ungarischen Dichtern gewidmet sein.
Bleibt mir, zu danken: den dänischen Freunden, auch ihren Verlagen; Harly Sonne, der zusammen mit den dänischen Autoren die Auswahl der Gedichte besorgte; Peter Urban-Halle für seine kompetente Erarbeitung der unverzichtbaren Interlinear-Versionen; den Freunden Nach-Dichtern ins Deutsche; Stefan Schwerdtfeger für seine Bilder in diesem Band; Claudia Beuerlein vom Künstlerhaus Edenkoben, die in stiller, genauer Anwesenheit diese Arbeitswoche begleitet hat, ebenso Ulrike Thelen und Volker Beyer. Nicht zuletzt danke ich besonders Ingo Wilhelm aus Mainz, dem ich das Konzept zu dieser Reihe vorschlug und der die Realisierung ermöglichte.

Gregor Laschen, Vorwort

Repräsentanz und Individualität

Dänemark ist ein kleines Land, und seine Sprache wird nur von etwa fünf Millionen Menschen gesprochen: Aber Dänemark hat viele Poeten – und gute Poeten. Seit Jahrhunderten lauschen die Dänen ihren besten Dichtern, und selbst in unserer Informationsgesellschaft, die in vieler Hinsicht der Kunst so fremd gegenübersteht, ist es keineswegs ungewöhnlich, daß die großen dänischen Zeitungen tagesfrische Gedichte veröffentlichen. Über den politischen Alltag, Frühlingserwachen, Glasnost oder die Nationalelf.
Leider wird noch zu wenig getan, um Beispiele guter dänischer Lyrik in die großen Sprachgebiete der Welt zu exportieren. Der vorliegende Band soll, wie wir hoffen, die nach wie vor unbefriedigende Situation weiter verbessern helfen.
Gute Poesie ist ja immer von den beiden Extremen des Lokalen und des Internationalen geprägt. Auch wenn es häufig problematisch sein kann, den poetischen Ausdruck von einer Sprache in die andere zu übertragen – möglich ist es. Besonders wenn der Übersetzer selber Fachmann ist, seine eigene Sprache wie eben nur ein Dichter kennt, ihr ihre poetischen Qualitäten abringen kann, kurz: mit ihr professionell umzugehen weiß. Dies war eine entscheidende Pointe des Experiments, das im Oktober 1988 im Künstlerhaus Edenkoben stattfand. Eine knappe Woche lang trafen sich fünf dänische Lyriker mit fünf deutschen Kollegen, um in einem vielsprachigen Poesie-Laboratorium zu arbeiten, in dem Deutsch, Dänisch, Englisch und Körpersprache artikuliert, deklamiert, intim erklärt oder als Stummfilm aufgeführt wurden. Mit dem einen Ziel, nicht nur deutsche Übersetzungen dänischer Gedichte zu schaffen, sondern auch deutsche Gedichte.
Die Frage ist erlaubt, ob die fünf Lyriker unserer Auswahl zuverlässige Zeugen oder Repräsentanten der heutigen dänischen Lyrik sind. Und weiter muß gefragt werden, was in der dänischen Lyrik nach dem zweiten Weltkrieg eigentlich passiert ist.
Die Besetzung Dänemarks hatte eine heftige Krise im Verständnis von Leben und Welt mit sich geführt, und viele Dichter warfen sich in diese tiefgehende Krise des Humanismus – und wurden durch sie zugleich hervorgebracht. Gegen das naturwissenschaftlich und sozial geprägte Weltbild des Naturalismus und gegen die eher materialistisch eingestellten 30er Jahre entstand eine Bewegung, die die Wirklichkeit über das persönliche Erlebnis und das Gefühl zu verstehen suchte. Angst war für sie ein Wesenszug des Menschen, Verantwortung und Güte gehörten zu seinen grundlegenden Werten. Diese breite Bewegung, die zum großen Teil einer Art religiöser Erweckung nahekam, ging besonders von den Dichtern aus, die sich um die Zeitschrift Heretica geschart hatten. In diesen frühen Nachkriegsjahren debütieren Jørgen Sonne (geb. 1925) und Ivan Malinowski (geb. 1926), auch wenn ihre große Bedeutung für die Entwicklung des Modernismus in Dänemark erst in den 60er Jahren erkennbar wird. Beharrlich machen sie in Übersetzungen und Nachdichtungen den europäischen Modernismus bekannt und bleiben treue Verehrer der Lyrik. Sonne übersetzt u.a. Ezra Pound, Malinowski u.a. Trakl, Pasternak und Neruda. Gleichzeitig erscheinen ihre eigenen Gedichtbände – Sonnes Delfiner i skoven (Delphine im Wald) 1951, Italiensk suite (Italienische Suite) 1954, Krese (Kreise) 1963, Malinowskis Galgenfrist (Galgenfrist) 1958, Romerske bassiner (Römische Wasserbecken) 1963, poetomatic (Poetomatik) 1965.
Die „Alten“ der dänischen Poesie schrieben natürlich weiter, nicht ohne sich von Krieg und Krise, Kulturkampf und Kaltem Krieg berühren zu lassen, der Modernismus aber war nicht mehr aufzuhalten. Und um 1960 herum melden sich die Jüngeren ernsthaft zu Wort. Die dänische Gesellschaft befindet sich in einem wirtschaftlichen Aufschwung, die stagnierenden 50er Jahre werden von den roaring sixties abgelöst, in denen Klaus Rifbjerg (geb. 1931) und Inger Christensen (geb. 1935) rasch ihren festen Platz in der poetischen Landschaft finden, Rifbjerg mit Gedichtsammlungen wie Under vejr med mig selv (Ich bekomme Wind von mir) 1956, Konfrontation (Konfrontation) 1960 und Camouflage (Camouflage) 1961, Inger Christensen mit den Bänden Lys (Licht) 1962 und Græs (Gras) 1963 und der großen Gedichtfolge Det (Es) 1969.
In dieser Periode der frühen 60er Jahre findet der Begriff der modernen Poesie Eingang in die dänische Öffentlichkeit – und entfacht anhaltende Debatten um Verständlichkeit, Bedeutung und Wert der Kunst. Die dänische Regierung verabschiedet nämlich ein Gesetz, durch das eine große Anzahl von Künstlern – darunter etliche „moderne“ Dichter – wirtschaftlich abgesichert wird. Das bringt Respekt ein, aber auch viel Verdruß in der Bevölkerung. Wozu den Dichtern Geld geben, wenn kein Mensch ihre Gedichte versteht?
Das „Kunstfond“-Gesetz war allerdings gekommen, um zu bleiben. Wie die moderne Lyrik auch. In den 60er und 70er Jahren dominieren zahlreiche Dichter mit einer stetigen Lyrik-Produktion. Und in den 70ern vollzieht sich zugleich ein Generationsumbruch: Die mehr theoretisch geprägte, konstruktivistische und sogenannte „schriftbewußte“ Poesie hält ihren Einzug. Inger Christensen und Klaus Rifbjerg gehören zu den Protagonisten dieses Umbruchs, auf ihre Weise verleihen sie dem Charakter der dänischen Poesie wesentliche Konturen. Darüber hinaus ist das Jahrzehnt von Neuer Einfachheit und Bekenntnisliteratur bestimmt, und Dokument- und Protokollgenres florieren.
Nicht zuletzt gegen die politisierten 70er Jahre mit Marxismus und Ideologiekritik auf den Universitäten und einem kärglichen Blick aufs Ästhetische reagieren die „80er-Jahre-Lyriker“, als sie – wie die Wellen eines Ozeans – alle Dämme brechen, besonders seit 1981, als auch Pia Tafdrup (geb. 1952) mit dem Gedichtband Når der går hul på en engel (Wenn ein Engel ein Loch bekommt) debütiert und u.a. die Bände Den inderste zone (Die innerste Zone), 1983, und zuletzt Sekundernes bro, 1988 folgen läßt.
Im großen Lyrikboom im Dänemark der 80er Jahre wird Pia Tafdrup in mancher Hinsicht zu einem Katalysator, sicherlich auch, weil sie – wie Jahre zuvor Jørgen Sonne, oder wie es auch Klaus Rifbjerg oft polemisch und provozierend tat – an der Geschlechterproblematik festhält, und das in einer Zeit, in der Gleichstellung, Geschlechterrolle und allgemeine Emanzipation dazu tendieren, alle Unterschiede zu verwischen.
Christensen, Malinowski, Rifbjerg, Sonne und Tafdrup repräsentieren jeder für sich bestimmte Richtungen; prägend, vielfach innovativ haben sie neue Wege in der poetischen Landschaft beschritten. Vor allem haben sie sich auf dem großen, nahezu undurchschaubaren sprachlichen Feld profiliert, auf dem sich die Lyrik eines kleinen Landes notwendigerweise bewähren muß.
Und zugleich sind sie einzigartig, indem sie einen unvergleichlichen, individuellen Stil haben, eine ganz besondere Art, die dänische Sprache zu gebrauchen, einen besonderen Ton. So wie fast alle Dänen wiedererkennend nicken, einerlei ob ihnen das Gedicht im Rundfunk, Zeitungs-Feuilleton, Buch oder Fernsehen begegnet. Das da? Das ist doch Klaus Rifbjerg, kein Zweifel! Und dieser Stil läßt sich, so hoffen wir, auch in den deutschen Nachdichtungen wiedererkennen.
Fünf dänische Dichter machen noch nicht Dänemarks poetische Landkarte aus. Aber vielleicht können ihre Werke wie ein Reiseführer oder eine feine Geschmacksprobe Appetit auf anderes und mehr machen, Fingerzeige sein oder Appetithappen: smaakmakers, wie die Holländer sagen. Bonne lecture!

Harly Sonne, Nachwort

 

 

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Nachrufe auf Gregor Laschen: Tagesspiegel ✝︎ Badische Zeitung

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