Günter Kunert: Zu Heinz Czechowskis Gedicht „Notiz für U. B.“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Heinz Czechowskis Gedicht „Notiz für U. B.“ aus Heinz Czechowski: Schafe und Sterne. –

 

 

 

 

HEINZ CZECHOWSKI

Notiz für U. B.

Versehen
Mit guten Ratschlägen
Geh ich im Kreis.

Keiner spricht
Wie ihm der Schnabel
Gewachsen ist:
Kahler Nominalismus!

Ja.
Auch die Abfallberge,
Die Autowracks,
Der alte bärtige Mann,
Der vor sich hinspricht, die Uhr
Ohne Zeiger.

Die Welt ist verändert,
Aber das Leben
Läßt sich nicht korrigieren.

 

Eines jener Signale

Dieses Gedicht des DDR-Autors Heinz Czechowski, der 1935 in Dresden geboren wurde, ist für den Gedichtband, dem es entstammt, eigentlich nicht typisch, und ich habe es aus anderen Gründen gewählt. Der Gedichtband Schafe und Sterne – Czechowskis dritter in rund vierzehn Jahren – ist insgesamt eher für eine Haltung bezeichnend, die einer großen Anzahl von Lyrikern in der DDR eigentümlich ist, weil sich in ihr die Bewältigung ihrer Herkunft manifestiert; eine ambivalente Evokation der Provinz, der Kleinstädte, Dörfer (man ist zu sagen versucht: Weiler), jedenfalls einer eng begrenzten Landschaft.
Dieses Gedicht hier ist jedoch typisch in anderer Hinsicht: nämlich für die permanente innere Verfassung des Lyrikers, eine Mischung aus seelischer Notwehr, Polemik, Betrübnis, Verzweiflung, Hoffnung, Einsicht, Resignation. Jenseits vom gedichtauslösenden Anlaß (eine nichtige Diskussionsbemerkung jenes unwichtigen U. B.) konstituiert sich erst das Gedicht: durch Sprachwerdung dauernder eigener Grunderfahrung: daß zum Beispiel die Versorgung mit „guten Ratschlägen“ – eine überhaupt nur noch in Gänsefüßchen denkbare Formel – den Zirkel, der den Dichter respektive Leser-Stellvertreter umfängt, nicht durchbrechen hilft, ihn vielmehr begründet. Darin zeigt sich, simpel, wie sie immer ist, eine Lebenserfahrung, historisch nicht fixierbar, sowenig wie das Leben eben fixierbar ist.
Schlußfolgernd aus dem zweiten Vers, meinen wir, daß die „guten Ratschläge“ vermutlich von der Scholastik erteilt wurden, deren Begriffe innerhalb ihres eigenen Systems eine Bedeutung, außerhalb desselben aber keine Realität besitzen. Hier tritt ans Licht des Gedichtes das alte Leiden an der Diskrepanz zwischen Schein und Sein, verschärft durch ein modernes Phänomen: das neue Leiden an der fungierenden Sprache, die nichts enthält und alles ersetzt. Äußere Wirklichkeit, keine terminologisch vorgetäuschte, erscheint in der dritten Strophe. Bis zu diesem Gedichtpunkt hat sich, was man etwas lax das „lyrische Ich“ nennt, selbst und seinen unsichtbaren Widerpart reflektiert, nun weitet sich die Szenerie und bezieht die Umwelt, die Welt mit ein, als (scheinbar) periphere Realität, gar als Gegen-Realität, weil sie Vereitelung, Nutzlosigkeit, Sinnverlust spiegelt, womit sie jedoch zum Gleichnis wird, das sich von der letzten, fast sprichwortartigen Strophe her verstehen ließe. (Ich wähle den Konjunktiv, um das Subjektive dieser Interpretation kenntlich zu machen.)
Durch vorhergehende Aufzählung überflüssig gewordener oder zerstörter Dinge, wie Abfall und Autowracks, bekommt die Konklusion ihr negatives Vorzeichen, welches wiederum Positives einschließt. Das zerstörerische Moment der Veränderung ist betont und steht damit polemisch gegen blinde, undialektische Affirmation: Veränderung heißt auch Vernichtung, und das ist eine, selten so knapp und eindringlich durch das Gedicht vollzogene Erkenntnis. Die der These folgende Antithese: „Aber das Leben / Läßt sich nicht korrigieren“ bestätigt die obige Deutung, weil der Satz meint: es ist nicht anzupassen. In dieser Antithese von der Korrekturunfähigkeit versteckt sich dann letztlich der geheime Optimismus des Gedichts, das seine Hoffnung auf die Kraft und Dynamik des Lebens selber setzt.
Zerstörung und Vernichtung (und auch das ist eine erst späte Erfahrung) sind keine ausschließlichen Kennzeichen des Krieges mehr:

Ihr Friede zerstört, was ihr Krieg übriggelassen hat.

Falls wir gewillt sind, die Brechtsche Formulierung, um sie zu erhalten, auszuweiten auf Natur, Empfindungsfähigkeit, Lebensgenuß, Mitmenschlichkeit, Hoffnung, Zukunft, Utopie, Traum – dann ist das kleine Gedicht Czechowskis eines von jenen winzigen Signalen, die die Völker immer zu überhören pflegen.

Günter Kunertaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zweiter Band, Insel Verlag, 1977

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